Wertep. #RomanProMajdan
Aus dem Kapitel:
CHARON
„So“, sagt Witka, „keine Panik.“
„Ha!“, antwortet ihr meine Panik.
Dann schweige ich.
Wir saßen im Pressezentrum, im Haus der Gewerkschaften. Die Spezialeinheit Berkut hatte das Ukrainische Haus eingenommen, die Barrikaden auf der Hruschewskyj-Straße waren durchbrochen worden und der Angriff auf den Majdan hatte begonnen. Witka war kurz zuvor von Tituschky[1] zusammengeschlagen worden, aber glimpflich davongekommen – im Gegensatz zu mir. Weswegen ich jetzt auch niemandem helfen konnte. Ich war zu nichts gut, saß einfach nur rum und wartete auf Schenja.
Schenja Tschemerys war ein guter Freund und Journalist bei der „Ukrajinska Prawda“. Während dieser Revolution, in diesem Winter, war er schon ins Quartier der Tituschky im Marijinskyj-Park hineinspaziert, als der eigentlich geschlossen war, und auch in die Stellung des Berkut in der Hruschewskyj, als dort geschossen wurde. Er kam offensichtlich überall rein und er war jetzt meine einzige Hoffnung.
„Wärst du heute mal zuhause geblieben!“, sagt Witka verärgert und gibt mir ein Glas Wasser und eine Pille. „Trink das… Also, wieso ist er heute zur Schule gegangen?!“
Er, das ist mein Sohn. Seine Schule befindet sich an der Ecke Olhynska und Institutska. In der Nähe der Nationalbank. Genau bei der Metro-Station, wo es heute die meisten Kämpfe und Toten gegeben hat. Schenja war losgezogen, um ihn zu suchen.
„Wer konnte das denn ahnen?“, murmele ich.
(…)
Dieselben einfachen, gewöhnlichen Leute, die heute Morgen von überallher gekommen waren, die gesungen und gelacht hatten, waren jetzt bestürzt, blutüberströmt, blass und wütend.
„Vielleicht ist da irgendwo eine Sperre… Vielleicht formiert sich der Berkut bei der Schule neu und stellt Reihen und Posten auf“, dachte ich, denn das war schon manchmal vorgekommen. Ich hatte in den Revolutionsmonaten gelernt, wie man mit ihnen redet, mit denen, die da standen, um die Straßen zu blockieren, denn ich war gezwungenermaßen ständig auf diesen Straßen unterwegs und sie hatten mich bis zur Schule und zurück gehen lassen und entlang der Ljuteranska, wo es bis zu drei Posten gab, die die Straße komplett absperrten, und zu Switosar, durch den abgesperrten Kriposnyj Prowulok hindurch, denn Switosar wohnte in der Hruschewskyj.
Ich nahm mein Handy aus der Tasche und dachte: Jetzt hole ich meinen Sohn ab, er soll sich schon mal fertigmachen. Und da kam Omelko… Er brüllte mir von weitem irgendwas zu, aber ich konnte nichts verstehen wegen dem Majdan, dem Klagen, dem Lärm von der Bühne, den Schreien der Leute.
„Angriff“, riefen die Menschen erschrocken und übertönten Omelko, und ich hörte einfach nicht, was er brüllte. „Sie kommen von der anderen Seite mit Wasserwerfern!“
„In der Nähe der U-Bahn liegen Leichen“, schrie jemand im Vorbeigehen. „Bedeckte Gesichter. Nein, nicht unsere Leute, einfach irgendwer. So eine Frau, mit einer Jacke.“
Ich dachte, wenn mein Sohn und ich jetzt zur U-Bahn gehen und da liegen Leichen… und er, bestimmt… er … Wie wird das für ihn sein?
Ich konnte nicht weiterlaufen: Von oben drängten viele Menschen auf den Majdan, der Durchgang in den Barrikaden war dagegen eng. Omelko stand hinter den Leuten und wedelte mit den Armen, die Jacke zerrissen, ohne Hut, ohne Helm und brüllte.
Ich hatte den panischen Omelko im Blick und gleichzeitig eine Frau in einer Küche zwischen den Zelten unter dem Unabhängigkeitsdenkmal bei den Glasfenstern der Globus-Filiale, die sehr ruhig und bedächtig an einem Herd zugange war.
„Omelko“, rief ich. „Ich kann dich nicht verstehen! Was ist los? Komm hierher, noch näher!“
„Taras!“, hörte ich ihn endlich.
Er hatte sich durch die Leute gekämpft, die nach unten auf den Majdan strömten.
„Was?“, hakte ich nach.
„Taras! Taras! Zuerst die Titutschky… Die Tituschky zuerst und dann der Berkut… Da …. da waren zwei Jungs! Zwei Jungs, stell dir vor! Zwei Kinder, verstehst du? Kinder! Ich konnte gar nicht hinsehen, aber er ist zu ihnen gerannt…“
Ich begriff überhaupt nichts. Was faselte er da von Kindern, was war mit Taras…
„Was? Was ist mit Taras?“, fragte ich.
„Da waren Tituschky…“
„Ist er verletzt? Lebt er?“, schrie ich.
Omelko sah mich nicht an. Er war blass, niedergeschlagen, die Kiefermuskeln angespannt.
„Die Tituschky haben die zwei Jungs irgendwohin gebracht“, sagte er. „Kleine Kinder… Und Taras… Als er das gesehen hat, ist er zu ihnen gestürzt… Um diese Kinder zu retten… Ich konnte ihm… nicht helfen…“
Und er schaute mir endlich in die Augen.
„Kinder?“, fragte ich, denn mein Kind war auch dort.
„Eine blaue Jacke mit einem Dinosaurier“, sagte Omelko. „Einer von ihnen… Ich weiß nicht… Kinder eben…“
Eine BLAUE JACKE MIT EINEM DINOSAURIER, hallte es in meinem Kopf wider. Genau davor hatte ich seit Beginn des Majdan Angst gehabt! Diese Schule im Zentrum des Geschehens, dieser Freund von ihm, der überall seine Nase hineinsteckte und meinen Sohn mitschleppte! Das war natürlich ihre Vorstellung von Heldentum! Nichts anderes!…
Wir kriegten keine Luft mehr. Die kalte Luft war auf einmal heiß. Nein, nein, ich wusste doch gar nichts mit Sicherheit. Das durfte einfach nicht wahr sein! Und ich wählte auf dem Handy seine Nummer, nur um zu hören, wie eine automatische Stimme wiederholte, dass sich… mein Sohn… außer Reichweite befand.
(…)
„Sie sind nicht in der Schule“, sagte Switosars Mutter sehr ruhig, aber wie aus einer fernen Galaxie, am anderen Ende der Leitung. „Ich habe die Lehrerin angerufen. Sie sind nicht da. Nur ihre Rucksäcke.“
Die Welt wirbelte seither nur noch in einem schrecklichen schwarzen Strudel um ich herum, den ich nicht anhalten konnte. Ich schwieg und antwortete ihr nicht. Witka sah mich von ihrem Laptop aus an und fragte, mit wem ich redete.
Wir saßen im Haus der Gewerkschaften. Es dämmerte. Im St. Michaelskloster auf dem Hügel wurden die Glocken geläutet.
Als ich von der Jacke mit dem Dinosaurier hörte, ließ ich Omelko stehen und rannte nach oben. Wie eine Irre. Inmitten von Berkut-Leuten.
„Auf der Hruschewskyj ist eine Barrikade durchbrochen worden“, schrie dort jemand. „Sie stürmen das Ukrainische Haus. Angriff! Räumung!“
Die Schreie wurden von den Gegenständen in der schwarzen Welt um mich herum zurückgeworfen. Ich nahm nichts wahr, lief durch die Barrikade hinauf, Richtung Schule. Ich hatte alle Regeln zum Passieren der Posten vergessen. Ich war bereit, diese Leute vom Berkut einfach beiseitezudrängen, auf die Abhänge.
Aber ich bin nicht mal bis zu ihnen vorgedrungen. Bei der ersten Granate wurde ich nur taub, ich lief weiter, aber die zweite… und immer noch… ich weiß nicht mal, ob sie mich geschlagen haben oder nicht, ob sie extra auf mich gezielt haben oder ob dort einfach überall geschossen wurde, ich weiß auch nicht, wer mich zu den Gewerkschaften gebracht hat, wo ich dann Witka fand.
„Jetzt verlierst du wieder das Bewusstsein!“, sagt sie zu mir, als ich aufstehe und ihr aus dem Zimmer folge, weil sie gerufen worden ist.
„Ich helfe dir“, murmele ich. „Beim Tragen.“
Die Gewerkschaften waren schon evakuiert, die Verwundeten weggebracht, es hieß, dass der Majdan während der Nacht vollständig geräumt würde, es hieß, der Majdan werde nicht bis zum Morgen standhalten.
„Setz dich lieber wieder“, sagt Witka wütend. „Setz dich hin und warte auf den Anruf von Schenja. Eine Heldin bist du sowieso schon.“
Sie hatte die Idee gehabt, Schenja um Hilfe zu bitten, damit ich nicht immer wieder dorthin lief. Schenja ist Journalist bei der „Ukrajinska Prawda“, ich kenne ihn aus der Zeit, als ich bei der Zeitung Putzfrau war, und sie kannte ihn auch irgendwoher.
Ja, er würde es schaffen, durchzukommen und etwas herauszufinden. Er würde meinen Sohn finden, egal, wo der steckte, er könnte sogar Janukowytsch rumkriegen, ohne dass der es merkte. Schenja kam, küsste Witka und setzte sich mir gegenüber. Ich erzählte und Schenja zog sich eine unauffällige Jacke und einen schwarzen Hut an, verabredete sich mit einer „Quelle“, einem Tituschky, der ihn treffen und ihm alles zeigen würde. Sein Handy nahm er nicht mit. Und er schärfte uns ein, das Telefon, das er mitnahm, nicht anzurufen. Falls nötig, werde er sich melden.
Dann lief er los.
Seither sind viele Stunden vergangen.
Ich wusste nicht genau, wie viele, ich hatte nur das Gefühl, dass viel Zeit vergangen war. Draußen vor dem Fenster war es dunkel geworden und unheimlich: Entweder waren der Rauch und der Ruß von Reifen schuld, oder die Nacht war angebrochen. Schüsse fielen, Glocken läuteten, Sirenen heulten.
Witka war erst einmal sehr geschäftig, aber die Zeit verging und Schenja rief nicht an. Das konnte nur das Schlimmste bedeuten. Immer öfter setzte sie sich zu mir und saß auch einfach nur da.
Wir haben nicht mitbekommen, wann das Feuer ausbrach.
Wir saßen bloß nebeneinander und lauschten schweigend auf das Schießen, die Glocken, die
Sirenen und die Worte von der Bühne: Sie waren kaum zu verstehen. Der Rauch schwebte aus unerfindlichen Gründen schon in Schwaden um uns herum, oder war es nur die Zeit und unser schweres Warten, die sich so verdichtet hatten?
Mir wurde immer kälter, ich hörte Witka atmen und nur dadurch spürte ich, dass ich noch am Leben war.
„Ihr seid ja verrückt!“, schrie plötzlich jemand, riss die Tür auf und kam ins Zimmer gerannt. „Wollt ihr sterben? Seht ihr denn nicht: das GEWERKSCHAFTSHAUS BRENNT!“
Wir wollten aber nicht aufstehen und mitgehen. Wir wussten, dass es schlecht stand. Räumung, nicht bis zu Morgen standhalten, mein Kind, Witkas Schenja, und dann noch Taras… Mit Taras war etwas passiert…
Der, der hereingekommen war, schrie, öffnete den Mund, gestikulierte. Er riss mich hoch, stellte mich auf die Füße und zog mich zur Tür. Ich aber blieb starr, schaute zu Witka, die immer noch dasaß und dachte, dass es ihm gleich reichen würde. Gleich würde er gehen und uns hier zurücklassen, und wir würden darauf warten, dass…
„Hörst du?“, sagte Witka und hob den Kopf. „Dein Handy klingelt.“
Na und, dachte ich. Erst dann begriff ich: MEIN HANDY KLINGELT! Ich hatte es für alle Anrufe, außer für Schenjas, ausgeschaltet.
„Schenja“, rief ich ins Telefon. „Hast du ihn gefunden?“
„Dein Junge lebt!“, schrie er mir ins Ohr. „Er und sein Freund Switosar sind bei mir. Wir sind im Parlamentsgebäude. Mach dir keine Sorgen.“
„Was ist denn?“, fragte Witka.
„Schenja“, erklärte ich ihr und plötzlich war die Welt wieder voller Geräusche.
„Los jetzt, schnell!“, schrie der, der hereingekommen war, und zog mich zum Ausgang. „Lasst jetzt das Telefon! Hört ihr mich? Los, los! Ich kenne einen anderen Weg hier raus!“
„Es brennt!“, stellte Witka da fest.
Als wir unserem Retter nachjagten, kam es mir vor, als kenne ich ihn, aber mir fiel nicht ein, wo ich ihm schon begegnet war… Wir rannten hinter ihm die Treppe hinunter und versuchten, dabei keinen Rauch einzuatmen. Ich rief Witka zu:
„Irgendwas Schlimmes ist mit Taras! Ich weiß nicht, was genau passiert ist, aber er hat meinen Sohn gerettet…“
„Na, der kann ja auch wenigstens einmal im Leben was für dieses Kind tun“, antwortete Witka zwanzig Minuten später, als wir in einen tiefen Keller kamen, in dem kein Rauch mehr war.
Aus dem Kapitel:
SCHATTEN
Dampflok
Im Treppenhaus und am Ausgang vom Haus der Gewerkschaften hatte es schon gebrannt. Ich geriet in Panik, jetzt da ich wusste, dass ich hier rauskommen musste und zu meinem Sohn, der irgendwo mit Schenja zusammen auf mich wartete. Ich hastete vorwärts, ohne jeden Plan. Witka versuchte, sich durch den Ausgang herauszuwinden, aber da standen mehrere brennende Kisten und der Mann, der uns geholt hatte, zog sie mit Gewalt von dort weg. Ihre Haare waren schon leicht verbrannt.
„Folgt mir!“, rief er durch den Schal, mit dem er sein Gesicht vor dem Rauch schützte. „Ich kenne einen anderen, unterirdischen Ausgang. Ich bringe euch raus!“
„Wer ist das?“, fragte ich Witka.
„Einer von uns, von unseren Leuten“, sagte sie.
Er hatte so eine schwarze Jacke an, eine schwarze Hose und auch auf seinem Kopf etwas Schwarzes, einen Helm oder so. Wir stiegen hinter ihm nach unten, bis unter die Erde, in den Keller, hustend und keuchend. Überall war fürchterlicher Qualm, der biss in den Augen und brannte im Hals.
Sogar als wir schon sehr weit in die Tiefe geklettert waren und tastend und stolpernd einen dunklen Keller durchquerten, merkte man noch den Rauch und den Qualm, als ob der lange Arm des Feuers weiter nach uns griff. Alles unter dem Majdan, die ganze Erde, alle Gewölbe, geheimen Katakomben und die Knochen längst begrabener Verstorbener hier, schien von Rauch durchdrungen.
Schließlich gelangten wir in einen hallenden, dunklen Raum, und endlich änderte sich der Geruch. Der Rauch hing nur noch in unseren Haaren und unserer Kleidung.
„Ich hab‘ mein Handy oben vergessen“, sagte Witka und hustete. Das Echo in dem dunklen Raum warf ihre Worte und den Husten von verschiedenen Seiten zurück.
„Hier gibt es sowieso keinen Empfang und sonst nimmst du meines“, beruhigte ich sie und fing auch an, zu husten, sobald ich den Mund aufmachte. Meine Kehle brannte und die Nase auch.
„Hat Schenja gesagt, was er jetzt tun wird?“
Hatte er nicht.
Der Mann, der uns führte, drückte auf einen Schalter und flackernde alte Quecksilberlampen erleuchteten den seltsamen Raum mit einer niedrigen Decke und langen Vitrinen an den Wänden und in der Mitte. Die Lampen waren schwach. Einige brannten gar nicht, andere bemühten sich angestrengt und schwer flimmernd, blau zu leuchten. Auf den Glasvitrinen lag eine dicke Staubschicht und ich konnte nicht erkennen, was sich darunter befand.
(…)
„Wer sind Sie?“, fragte Witka.
„Mark“, antwortete er.
„Mark?!“ – jetzt erkannte ich ihn.
(…)
„Sie haben mir einmal eine Wohnung empfohlen, zur Miete, und Witka war auch da. Erinnern Sie sich?“
„Ich erinnere mich“, antwortete er.
(…)
Wir folgten Mark zwar eilig, trotzdem stiegen wir lange Zeit immer nur Treppen herunter, tiefer und tiefer. Wieder war es dunkel: Eine Hand an der Wand, um zu wissen, wohin wir gingen, die andere nach vorn gestreckt. Wir spürten die Stufen unter unseren Füßen und als sie endeten, stolperte ich schmerzhaft über den Boden. Weiter tasteten wir uns, einen Flur entlang, obwohl jetzt von irgendwoher Licht kam, sehr schwach, als fiele es von der Seite ein. Ich war wieder angespannt und überlegte, ob das eine Falle sein könnte, wie damals vor sieben Jahren, als er uns in meine neue Wohnung gebracht hatte, nach der Geschichte mit der alten Sweta. Wieder stimmte etwas ganz und gar nicht. Wieder war irgendetwas faul. Beruhige dich, sagte ich mir, das sind die Nerven, bloß die Nerven.
Durch den Rauchgeruch meiner Haare drang nun der Geruch der Metro.
„Irgendwo hier muss ein U-Bahn-Lüftungsschacht sein oder sowas“, sagte Witka.
„Wart‘s ab, wirst gleich sehen“, erwiderte er. „Aber still, sagt nichts mehr. Ab jetzt rede ich und ihr schweigt.“
Und er öffnete irgendwo vor uns eine knarzende Tür. Über der Tür brannte eine Lampe, deren Licht den Gang erhellte. Wir zwängten uns hinter ihm hindurch und gelangten in einen sehr großen, geräumigen Saal. Dort war es nach den dunklen Passagen besonders hell. Säulen und ein hohes Gewölbe über unseren Köpfen. Witka und ich stutzten, begriffen aber nicht, wo wir waren. Am entgegengesetzten Ende des riesigen Saals fuhr eine Putzmaschine herum und machte brummend den Boden sauber.
„Das ist die Metro“, platzte Witka hervor.
„Schsch“, machte ich.
Tatsächlich waren wir in der Metrostation „Chreschtschatyk“. Aber sie war leer, ohne Menschen und wir hatten nicht gleich die Bahnsteige bemerkt, denn auf den Gleisen fuhren keine Züge. (…)
aus dem Kapitel:
ARTEFAKTE
Myschets
Er schrak zusammen und wachte auf. An die Wand gelehnt zu schlafen war unbequem. Neben ihm lehnte Switosar an dem Typ mit dem verletzten Bein und döste. All diese Träume habe ich vor lauter Angst, dachte er. Und er erinnerte sich wieder daran, wie die Körper der Toten in eine Marschrutka geladen und darin festgebunden worden waren, um sie aus der Stadt zu bringen und dort irgendwo zu begraben.
Der Mann, der sie verteidigt, den Tituschky und dem Berkut entrissen hatte, war nicht in so einer schrecklichen Marschrutka, ihn hatten sie nicht da hinein verfrachtet, weil er ja noch gelebt hat. Direkt danach, bei der Schule, da konnte er ja noch gehen. Ein schwarzer Berkutler stützte ihn mit dem Arm, und das Blut des anderen Mannes floss über die schwarze Berkut-Winteruniform.
„Bring ihn weg! „, schrie ein anderer. „Na los, mach schon!“
“ Und die Jungs?“
„Die auch.“
„Hast du noch alle Tassen im Schrank?“, schrie ein Dritter. „Wohin sollen wir die Jungs denn bringen? Lasst die Jungs frei, sollen sie gehen! Bist du blöd oder was? Idiot!“
„Nein, nimm die Jungs mit!“, schrie der Erste wieder. „Wo sollen sie denn hin?! Hier sind überall Tituschky, die machen doch schon wegen nichts Ärger, stehen direkt da und warten auf diese Jungs! Willst du sie den Tituschky überlassen?!“
Und sie wurden abgeführt. Er hielt die Hand von Switosar fest. Der hatte schreckliche Angst, schluchzte die ganze Zeit und wischte sich den Rotz ab.
Sie wurden durch eine Straße geführt, in der es brannte und explodierte, das Eckhaus war voll von schwarzem Rauch, es schien Feuer gefangen zu haben. Erst von Näherem, sahen sie, dass es eigentlich Autos waren, die dort brannten. Gegenüber war ein Eingang, oder vielmehr eine Einfahrt zu einem Hof, einem großen Innenhof, eingeschlossen von Häusern. Im Stadtteil Lypky gibt es viele solcher Höfe, aber in diesem gab es noch dazu einen Brunnen, einen kleinen Park und Bänke.
Ein Berkut-Mann öffnete im Hofeingang eine Tür. Dann gingen sie aber nicht nach oben, sondern runter und kamen in dunkle Flure, in denen Schritte hallten: sowohl ihre eigenen als auch die von anderen, die gleichfalls dort herumliefen. Und alle, die dort unterwegs waren, waren schwarz angezogen und dieser unterirdische Gang war total furchteinflößend.
Hier drehte sich der Mann, der sie führte, um und fragte:
„Oh, und wo ist dieser… unser Held, der die Jungs vor den Tituschky gerettet hat?“
„Der ist alle!“, antwortete ihm ein anderer, der mit fremdem Blut beschmiert war. Was er da erzählte, war nicht gleich klar: ‚Ist alle‘? Was sollte das heißen? Er war doch ein Mensch, kein Käse.
Aber dann verstand er plötzlich, wurde von einer heißen Welle überspült, konnte kaum noch atmen.
„Wo hast du ihn gesehen?“
„Er liegt oben auf der Straße“, antwortete der Blutüberströmte und hielt ein Telefon hoch. „Ich hab‘ noch sein Handy.“
„Idioten!“, schimpfte der schwarze Berkut-Mann wild drauf los. „Wirf es weg… das Handy…“
„Wohin denn?“
„Ja, wohin… Wirf es da rüber!“, sagte er und schaute dann ihn und Switosar an. „Habt ihr Handys dabei?“
Sie schüttelten die Köpfe.
„Guck in ihren Taschen nach“, befahl der mit dem Blut.
Der Schwarzgekleidete durchsuchte ihre Taschen und fand in Switosars Jacke ein Telefon.
„Wirf es hierher und das auch!“ Schon klingelten zwei Handys über den Boden, in diesem Flur.
Switosar hatte jetzt kein Telefon mehr. Er schon. Seines steckte in einer verborgenen Innentasche der Schuljacke: Die Mutter hatte sie eingenäht, nachdem das Handy zum dritten Mal hintereinander in der U-Bahn gestohlen worden war.
Der Schwarzgekleidete schubste sie zur Treppe. Dort wartete schon jemand auf sie.
„Das reicht, mehr nehm‘ ich nicht mit“, sagte der. „Bring‘ die anderen zur Nummer drei, bei mir passen keine Leute mehr rein.“
Und er verriegelte einige Gitter hinter ihnen und klapperte mit dem Schloss.
„Los, vorwärts Jungs!“, drängte er. Er fragte nicht, warum sie hergebracht worden waren, sondern redete vor sich hin und stieß sie in den Rücken.
Ich werde meine Mama anrufen, dachte er. Sobald sie wieder weg sind. Ich rufe gleich meine Mutter an. Ich werde anrufen und ihr alles erzählen.
„Du kannst dein Handy nicht rausholen, sie werden es sehen!“, sagte Myschets zu ihm.
„Kann ich wohl!“, antwortete er Myschets.
„Switosar hat auch gesagt, dass ihr unbemerkt zum Berkut gehen und ihnen Patronen und Granaten klauen, den Tituschky ihre Stöcke wegnehmen und ihr das alles unseren Leuten bringen könnt“, widersprach Myschets.
„Und ich habe Switosar hundertmal gesagt, dass wir das nie schaffen, aber er ist halt dumm.“
„Und trotzdem hast du mitgemacht…“, tadelte ihn Myschets. „Und wie geht’s jetzt weiter?“
Er wusste nicht, wie es weitergehen würde, und hörte auf, mit Myschets zu sprechen.
Myschets, das war eine imaginäre Maus.
Als er und seine Mutter einst in einer sehr kleinen und schmutzigen Mietwohnung gewohnt hatten, und seine Mutter immer lange bei der Arbeit war, hatte ihn eine Babysitterin vom Kindergarten abgeholt und war die zwei Stunden bei ihm geblieben, bis Mama nach Hause gekommen war. Die Babysitterin war dick gewesen, hatte gern telefoniert, Sonnenblumenkerne gefuttert und sich im Internet irgendwelche Fernsehserien angeschaut. Er hatte diese Serien nicht gemocht. Da wurde geschrien, gerannt und gestritten und er hatte sich leise ins Bad verzogen, um auf Mama zu warten. Im Badezimmer hatte es oben unter der Decke ein Holzregal gegeben. Vielleicht war darauf früher etwas abgestellt worden, vielleicht war es auch einfach nie zu was gut gewesen. Jetzt waren dort nur graue, verstaubte Spinnweben. Er hatte sich hingesetzt, das Regal angeschaut und einmal gesehen, wie sich dort etwas Graues bewegt hatte. Damals hatte er gedacht, es sei wahrscheinlich eine Maus gewesen. Dann fand er, das müsse sogar ein Mischa gewesen sein und hatte sich schließlich den Namen Myschets ausgedacht. Seitdem hatte er, solange er auf Mama warten musste, Myschets vom Kindergarten erzählt, mit wem er gestritten und mit wem er gespielt hatte, was die Kinder und was die Erzieherin gesagt hatten. Einmal hatte die Babysitterin ihn gehört und furchtbar ausgelacht. Sie hatte ihn immer wieder daran erinnert und ihn damit aufgezogen. Da hatte er angefangen, nur für sich mit Myschets zu reden, nicht mehr laut.
Myschets war immer sehr besonnen, wie ein Erwachsener. Wie jetzt.
Dort, wo man sie schließlich durch lange feuchte unterirdische Gänge hingebracht hat, in so einen fensterlosen Keller, lagen und saßen die Menschen direkt auf dem Boden. Das Licht war schwach und die Leute sahen alle grau und ähnlich aus. Obwohl sie mit Sicherheit ganz verschieden waren. Einige waren verwundet, die meisten irgendwie niedergeschlagen, manche atmeten schwer, als würden sie ein Stöhnen unterdrücken und der Boden war voller Schmutz und Dreck. Niemand half diesen Leuten in irgendeiner Weise. Keiner hat ihre Wunden verbunden. Sie saßen oder lagen einfach nur herum oder liefen hin und her. Die Jungen wurden hineingeführt und zurückgelassen. Sie wurden nicht weiter beachtet. Eine Weile standen sie bei der Tür, hielten sich an der Hand und wussten nicht, was sie tun sollten.
„Kommt hierher!“, rief ihnen da jemand aus der Ecke zu. „Jungs, kommt her, ich hab‘ hier einen Karton!“
Wozu der Karton, war zwar nicht klar, aber sie gingen zu ihm.
Der, der sie gerufen hatte und ihnen jetzt zeigte, wo sie sitzen sollten, an der Wand, auf dem Karton, war ein kleiner Mann in einer Jacke, mit zerzaustem, schwarz-grauem Haar. An einem seiner Jackenknöpfe war ein gelb-blaues Band befestigt. Seine Hose war voller Blut, und manchmal berührte er leicht mit der Hand sein verletztes Bein. Aber er jammerte nicht. Selbst als er einschlief, ließ er neben sich Platz für sie, auf diesem dicken Karton.
„Oha“, sagte er, als sie sich setzten, „wie seid ihr denn hier gelandet, Jungs?“
„Der Berkut hat uns mitgenommen“, antwortete Switosar ernst, aber stolz. „Und Sie?“
„Der Berkut hat uns alle hier heute geschnappt … Manche auf dem Majdan, manche auf der Straße … Und hier halten sie uns fest“, erwiderte der Mann. „Ich wurde verletzt, dann bin ich gestürzt und sie waren gleich da. Haben mich hierher geschleift. Und was habt ihr angestellt?“
„Switosar hat sich was ausgedacht. Er meinte, dass wir dem Berkut Granaten und Munition stehlen müssen. Ich hab‘ nein gesagt und dass sie uns erwischen würden.“
„Und er?“, fragte der Mann. Switosar erzählte nichts, widersprach aber auch nicht.
„Und er hat gesagt, dass er in einem Buch gelesen hat, wie Kinder Revolutionären geholfen haben. Er hat gesagt, wenn die Berkut-Leute aufs Klo gehen, hältst du Wache und ich werde klauen.“
„Und?“
„Und es hat nicht funktioniert. Sie waren ganz oft da im Hof von unserer Schule. Sind in die Schule reingekommen und zum Klo gegangen. Einmal hat Switosar solche Schachteln bei ihnen gesehen und gesagt, das wäre ganz sicher Munition. Stimmt’s Switosar?“
Switosar schwieg.
„Hm, Jungs… Was wolltet ihr denn mit diesen Granaten dann machen?“
„Na… wegschaffen. Oder unseren Leuten bringen. Meine Mutter kennt jeden dort auf dem Majdan.“
„Ach… Na, sowas… Ich, als ich jung war, hab‘ auch eine Heldentat vollbracht“, sagte der Mann und berührte wieder sein verletztes Bein. „Als die Studenten auf dem Majdan gehungert haben, im Jahr 1990, da war ich sechzehn, noch ganz jung. Ihr wisst das wahrscheinlich nicht, eure Mütter sind ja noch in die Grundschule gegangen, da hat die erste Revolution stattgefunden. Studierende aus der ganzen Ukraine sind angereist, haben Zelte auf dem Majdan aufgestellt und einen Hungerstreik angekündigt. Sie haben Forderungen gestellt: Eigenständigkeit und sowas… Findet ihr sicher nicht mehr spannend… War aber damals sehr wichtig und ist heute noch seltsam, dass so wenig gefordert wurde. Das alles hat nicht lange gedauert, nur zwei Wochen, aber es war… Es ist eben passiert. Die Zeitungen haben über diese Studierenden geschrieben, im Fernsehen wurden sie gezeigt. Man hat gedroht, sie zu verjagen, na und Leute aus der ganzen Ukraine sind gekommen, nicht so viele wie jetzt, aber sie sind gekommen. Naja, und ich war auch dabei. Ich hab‘ ihnen Wasser gebracht, mich zu ihnen gesetzt. Dort ist es streng zugegangen, nicht so wie jetzt. Nur die eigenen Leute durften in die Zeltstadt, die war eingezäunt, naja, aber ich hab‘ ja quasi zu ihnen gehört. Das alles war da, wo jetzt der Globus ist. Damals stand dort ein riesiges Lenin-Denkmal. Wisst ihr, wer das war? Nein? Müsst ihr auch gar nicht wissen. Aber dort, unter diesem Denkmal, gab es einen granitgepflasterten Platz, daher auch ‚Granitene Revolution‘. Jetzt gibt es da weder Granit noch Denkmal, und das ist gut so.“
(…)
„Alles halb so schlimm“, sagte der Mann und sah zu, wie sie gierig tranken. „Nichts passiert, Jungs. Habt keine Angst. Es ist okay, dass es so gekommen ist. Ihr werdet hier rauskommen. Aus diesem Keller. Nichts passiert. Nur deine schöne Dinosaurierjacke, die ist zerrissen. Aber das ist auch schon alles.“
Switosar schüttelte den Kopf. Er heulte plötzlich.
„Wegen uns haben sie einen Mann getötet. Einen von unseren Leuten. Den Typ vom Majdan. Weil wir gestohlen haben und die Tituschky uns gesehen haben und uns verprügeln wollten. Die Tituschky haben gerufen: ‚Ihr Mistkröten! Satansbraten!'“
Und Switosar schwieg wieder.
„Also dieser Mann war mit seinen Leuten beim Majdan. Er hat sie stehenlassen und ist zu uns gerannt. Die Tituschky haben ihn erst geschlagen, sich dann aber zurückgezogen. Und da war auch der Berkut. Der Berkut hat sich dann auf ihn gestürzt“, beendete er für Switosar.
„Und wir haben dagestanden und zugesehen“, ergänzte Switosar. Er zitterte jetzt.
„Leg dich hin“, sagte der Mann zu ihm, „leg dich hier neben mich. Der Karton ist breit genug.“
Der Mann krümmte sich und machte Platz für Switosar. Es war offensichtlich, dass sein Bein wieder wehtat.
Er selbst erinnerte sich nur zu genau an den Mann: Wie der die anderen stehengelassen hatte, wie die Tituschky davongelaufen waren, wie der Berkut herbeigerannt war – weiterdenken konnte er nicht. Er stellte sich vor, wie er dieses Bild mit weißer Farbe zupinselte, dachte ganz fest daran, wie er die Erinnerung mit weißer Farbe zupinselte.
„Mama, stimmt es, dass die vom Majdan Menschen töten?“, hatte er Mama im Herbst gefragt.
„Nein, das stimmt nicht. Wo hast du das aufgeschnappt?“
„In der Schule“, hatte er gesagt.
„Morgen nehm‘ ich dich mit, dann siehst du selbst“, hatte Mama gesagt und ihn tatsächlich zum Majdan gebracht.
Damals war der Majdan noch überschaubar gewesen, er befand sich beim Eingang vom Globus. Musik hatte gespielt, die Leute hatten sich gedrängt. Dann war die Musik plötzlich verstummt, und eine Stimme von der Bühne hatte alle aufgefordert, sich keine Sorgen zu machen und nicht auf die Autos zu achten, die nun kämen, sie brächten nur Dekoration für den Weihnachtsbaum: Man solle sie durchfahren lassen.
„Der Baum wird wieder hässlich“, hatte er zu Mama gesagt, „wie ein grasbewachsener Hügel.“
Aber Mama war aus irgendeinem Grund angespannt gewesen und hatte sich nicht für den Weihnachtsbaum interessiert. Also hatte er sie noch mehr am Ärmel gezogen: „Na, das wird wieder so ein hässlicher Grashügel. Wie im letzten Jahr! Am Weihnachtsbaum sollten Äste sein, stattdessen hängt da so ein riesiger grüner Kegel, total hässlich!“ Aber seine Mutter war ganz beunruhigt gewesen, hatte über die Köpfe der Leute auf diese Autos geschaut und nicht darauf geachtet, was er sagte.
„Mama, und stimmt es, dass die vom Majdan alles kurz und klein schlagen und bei den Leuten einbrechen?“
Das hatte er gefragt, als klar geworden war, dass es gar keinen Weihnachtsbaum geben würde, was nicht schlimm war, da dieser Weihnachtsbaum sowieso hässlich gewesen wäre.
Mama war abends oft auf den Majdan gegangen, spät zurückgekommen und wortkarg gewesen. Mama war immer nervöser geworden. Es war vorgekommen, dass er morgens allein in der Wohnung aufgewacht war, dann hatten Nudeln mit Sardellen auf dem Tisch gestanden und er hatte Mama angerufen. Sie hatte gesagt: „Du kannst heute nicht zur Schule gehen, deshalb hab‘ ich dich nicht geweckt. Heute ist es zu gefährlich. Bleib‘ zu Hause!“
Eines Abends hatte sie ihn ins Bett gebracht, aber irgendetwas hatte ihn beunruhigt. Er hatte im dunklen Zimmer gelegen und gesehen, wie durch die Glastür aus der Küche das blaue Licht des Laptops gefallen war. Seine Mutter hatte Nachrichten gelesen.
„Schlaf nicht ein“, hatte ihm Myschets zugeflüstert, „schlaf nicht, sonst lässt sie dich wieder alleine!“
Und er war nicht eingeschlafen. Und tatsächlich hatte sie die Küche spät verlassen, besorgt, hatte nach ihm geschaut und die weit aufgerissenen Augen bemerkt.
„Ich muss gehen“, hatte sie zu ihm gesagt. „Sie greifen an und wollen räumen. Ich muss hin, vielleicht kann ich helfen. Du musst schlafen. Hab‘ keine Angst.“
Aber er hatte Angst gehabt. Und da hatte sie so eine Nummer aufgeschrieben.
„Das ist die von Tante Wita“, hatte sie gesagt. „Du kannst sie anrufen, sie wird dir weiterhelfen. Du rufst sie an, wenn ich nicht komme. Und hier noch Tschemerys. Den kennst du doch, der ist nett. Den kannst du auch anrufen.“
Und sie hatte noch eine Nummer aufgeschrieben.
Er hatte große Angst gehabt, und doch nicht einmal geweint und nichts gesagt, ihr nur zugesehen, wie sie sich anzogen hatte und gegangen war.
Die dunkle Wohnung hatte ihm Angst gemacht. Sogar mit Licht hatte sie ihm Angst gemacht. Also hatten er und Myschets eine Lampe genommen, sie mit einem Tuch der Mutter bedeckt und auf Bücher gestellt. Die Lampe hatte sanft und trüb geschimmert, wie eine Feuerstelle, wenn sie erlischt und nur noch die Glut übrig ist.
Auf die Lampe hatte er schauen und mit Myschets darüber reden können, wohin Mama gegangen war.
So war er eingeschlafen und am späten Vormittag wieder aufgewacht.
Die Mutter war schon zu Hause gewesen: Sie hatte angezogen auf dem großen Sessel geschlafen.
Damals hatte der Majdan standgehalten.
Zur Schule war er wieder nicht gegangen.
„Mama, Olja hat gesagt, dass Mascha ihr erzählt hat, dass Maschas Freundin mit ihrer Mama unterwegs war und sie von diesen Leuten vom Majdan angegriffen wurden und die sie töten wollten, aber sie sind entkommen“.
Die Mutter hatte gesagt, Olja würde lügen. Es gebe auf dem Majdan eine Ausstellung mit Zeichnungen von Jurko Schurawl, den er so mochte und dessen Lied „Die Oma hatte keine Sorgen“ er als Klingelton aufs Handy geladen hatte.
Sie hatten die Ausstellung besucht. Aber gleichzeitig hatten sie das „Schlachtfeld“ gesehen – so hatte es jedenfalls gewirkt, wie ein Schlachtfeld: komplett schwarz. Ein schwarzer Fluss war zwischen eisigen Ufern geflossen, zwischen den schwarzen Säcken der Barrikaden hatten schwarz verbrannte Busse gestanden. Nur die Menschen waren nicht schwarz gewesen. Ein alter Mann hatte ihm ein leckeres Brötchen geschenkt. So ein leckeres hatte er noch nie gegessen. Es war weich, süß, mit Zimt und Zucker bestreut und noch ein wenig warm gewesen.
Die Mutter hatte dort jemanden getroffen. Während sie sich unterhalten hatte, war er über die harten, verschneiten Säcke bis ganz nach oben auf die glitschige Barrikade geklettert, soweit er überhaupt klettern konnte, um den schwarzen Berkut zu sehen, der jenseits der Barrikade weiter hinten in Bewegung gewesen war. (…)
„Hab‘ keine Angst, Mama, Switosar und ich haben uns was ausgedacht: Wir haben eine ‚Kindliche Hundert‘ gegründet.“
Er wollte Mama jetzt sagen: „Hab‘ keine Angst, Mama. Alles ist gut, Mama.“ Er hatte sogar noch sein Handy, ihm hatten sie es ja nicht abgenommen, aber schon nach dem dritten Tuten war der Akku leer und es ging aus.
Switosar hatte die ‚Kindliche Hundert‘ in Anlehnung an die ‚himmlischen Hundert‘ erfunden. Bisher machten dabei nur sie beide mit.
Switosar hatte gewollt, dass sie sich dort einschlichen, wo Erwachsene nicht hingelangen konnten, wie er es in einem Buch mit dem Titel „Segel im Meer“ oder so ähnlich gelesen hatte. Dort hatte ein Junge Patronen gehabt. Und wenn sie schon keine hätten, könnten sie doch welche stehlen oder zum Berkut gehen und ihre Leute befreien.
Er hatte Switosar widersprochen und gesagt, dass man sie gleich erwischen würde, dass selbst Erwachsene erwischt wurden, dass der Berkut sehr genau beobachte, wer wohin ging. Um nachhause zu kommen, müsse man dreimal erklären, wohin man ging und einige überprüften auch die Papiere mit der amtlichen Registrierung. Und wenn es misslänge, würden die Berkutler hart zurückschlagen.
„Sie kriegen uns nicht“, hatte Switosar versprochen und erzählt, wie er sie am Tag zuvor mit dem Fernglas vom Balkon aus beobachtet hatte. Eigentlich hatte er nichts Besonderes gesehen, aber er hatte im Flüsterton ein paar Belanglosigkeiten erzählt: Sie hätten Feuer gemacht, Tee getrunken, Holz gehackt und schienen wichtig zu sein.
Nun, sie waren dann doch in Schwierigkeiten geraten und wer weiß, was passiert wäre, wenn der Mann nicht gewesen wäre.
„Denk nicht an diesen Mann“, sagte Myschets.
Und er bemühte sich ernsthaft darum, nicht mehr zu denken. Er starrte auf die Wand vor sich, auf der Schatten von Menschen zu sehen waren und auf dieser Wand, in den Schatten, in den Rissen tauchte eine ganze Welt auf: Fantastische Blumen wuchsen aus Ritzen, hier und da erkannte er Profile von Gesichtern, die aus Flecken und Schatten bestanden, und all das bewegte, veränderte sich, wurde zu Schemen und verschwand, wenn man genauer hinsah. Ab und zu schlief er ein und wachte wieder auf – aus Angst und weil er vom Berkut geträumt hatte.
Dann hatte er plötzlich das Gefühl, dass viel Zeit vergangen war, dass sie schon lange hier saßen, obwohl er keine Uhr hatte, weil niemand sprach und es keine Fenster gab. Aber dieses Gefühl sagte ihm, dass eine lange Zeit vergangen war. Vielleicht eine Stunde. Oder zwei. Oder drei. Oder mehr. Plötzlich war er verzweifelt. Er dachte, er müsse für immer in diesem Keller bleiben, es werde nichts anderes mehr geben, nur noch diesen Keller und das war’s.
„Denk‘ daran, dass unsere Leute gewinnen werden!“, sagte Myschets, um ihn aufzumuntern.
„Myschets“, wandte er sich an ihn, „ich will nicht, dass jemand gewinnt. Der Majdan bedeutet Leid, Myschets. Angst, weißt du. Und Schmerz. Denn Mama ist nicht da. Ich weiß nicht, warum sie dorthin gegangen ist. Warum ist sie dorthin gegangen? Konnte das nicht einfach nicht passieren und alles so sein wie immer? Wie es sein sollte? Dass Herbst wäre und ich zum Malkurs in den Jugendpalast am Ploschtscha Slawy ginge und Mama und ich dort im Park auf den Hügeln spazierten, die Eichhörnchen fütterten und bis zum Höhlenkloster, der Lawra, liefen. Wir würden am Brunnen Wasser holen und Mama würde sich bekreuzigen, wenn sie in die Lawra ginge, aber ich nicht, weil ich mich nicht bekreuzigen möchte, wenn die Leute mir dabei zusehen.
Und dann käme ein ganz normaler Winter (…)
Aber alles ist anders und wird nicht mehr so sein, wie es war. Zum Malen sind wir fast nie gegangen. Ich hab‘ abendelang in einer Ecke gesessen und ihr zugeschaut, wie sie die Nachrichten las und hatte Angst, sie würde jetzt sagen: ‚Ich gehe‘. Wie schon davor.
Also sag mal, Myschets, wozu das alles? Alle behaupten, es sei nötig. All das sei nötig. Und dieser Rauch, der hängt überall fest, sogar die Kreide und die Tafel in der Schule stinken nach Rauch, die Vorhänge, ich hab‘s gerochen. Und diese schrecklichen, schmutzigen Leute in Fetzen und Fellmänteln und diese paar Verrückten, die zwischen den Zelten und zwischen den Leuten auf dem Majdan gestanden und geschrien haben oder herumgelaufen sind und sich an andere geklammert haben und der Gestank der Toiletten bei der Post. Und all ihre Märsche, ‚Spaziergänge‘ mit Flaggen, und die Barrikaden und die Kisten zum Sammeln von Spenden, in die man was werfen sollte, aber ich wollte Mama nicht bitten, deshalb habe ich angestrengt versucht, nicht zu den Kisten zu sehen.
Wenn ich groß wäre, würde ich nicht einfach so dorthin gehen, sondern meine Mutter würde es mir auftragen und dann würde ich gehen. Aber eigentlich wollte ich fragen: ‚Mama! Wann wird das endlich aufhören? Wann wird es wieder sein wie früher? Wann gehe ich wieder mit Switosar in den Marijinskyj-Park zum Spielplatz, und wir lassen Autos vom Hügel fahren und spielen um den Brunnen herum Fangen und gehen zur Brücke der Liebenden und zählen die Schlösser – Switosar auf der einen, ich auf der anderen Seite: Wer mehr zählt, gewinnt.‘
Wie ich das alles gar nicht will, was da passiert, Myschets, wie ich das alles gar nicht will!
Mama sagt, dass es besser wird und dass Janukowytsch sehr schlecht ist. Ich weiß doch selbst, was er für eine Schlange er ist. Aber vom Majdan wird es nicht besser, sondern schlimmer. Schon die ganze Zeit nur Kummer. Unruhe. Angst, die ganze Zeit. Ich will nicht, dass es einen Krieg gibt, wie Mutter immer sagt, wie dieser Mann hier sagt. Ich will nicht, dass Soldaten in unsere Wohnung kommen, dass sie unsere Wände kaputtmachen und es kalt wird. Ich will mich nicht allein durch eine vom Kampf zerstörte Stadt schlagen, um wie Mutter mir immer wieder sagt, Tschemerys oder diese Freundin von ihr zu suchen, die ich nur einmal im Leben gesehen hab‘. Ich will nicht, dass an unseren Wänden nur meine Zeichnungen übrigbleiben und verbrennen. Ich hasse denjenigen, der diesen Majdan angefangen hat, der diese Abende und Morgen zugelassen hat, wenn wir aufgewacht sind, weil die Nachbarin in der Wohnung auf der anderen Seite der Wand den Fernseher schrecklich laut geschaltet hat, um zu hören, ob nachts etwas passiert ist.“
„Ach, jetzt übertreibst du aber, Junge“, sagte Myschets.
„Wieso übertreibe ich…“, aber er sprach nicht zu Ende, denn das Funkgerät des Berkut-Mannes, der sie bewachte und an der Tür saß, knackte.
Im Keller war es sehr still und aus dem Funkgerät ertönte laut: „Hör mal, sind bei euch irgendwelche Jungs?“
Der Berkut-Mann schaute ihn und Switosar an. „Hier sind zwei.“
„Hör zu, es kommt jetzt einer runter. Der sucht irgendwelche Jungs. Er schaut sich die an.“
„Was ist das für ein Typ?“
„Ein Spezi vom Chef. Er sucht seinen Jungen, der hat was Dummes angestellt. Also zeig sie ihm.“
„Oh“, Myschets wurde sofort lebendig, „ihr seid ja wohl die einzigen Schlaumeier!“
„Da geht’s nicht um uns“, widersprach er Myschets, „wir kennen keinen Spezi vom Chef.“
„Dann brauchst du auch nicht so betreten gucken“, riet ihm Myschets.
Alle, die nicht dösten, schauten zur Tür, interessiert, was für ein Spezi vom Chef jetzt käme. „Das ist er doch!“, rief Myschets, denn es war Tschemerys. Der fröhliche Mann, den er gut kannte, weil er öfters zu Besuch kam, wenn die Technik mal wieder nicht funktionierte. Die Mutter quälte sich ewig mit seinen Laptops, iPads und neuen Handys, um sie zu entstören.
(…)
Tschemerys sagte etwas zum Berkut-Mann, der mit ihm hereingekommen war, und bei ihnen war auch ein Tituschek.
Er wusste nicht, was er jetzt tun sollte: zu Tschemerys laufen oder ruhig sitzen bleiben und so tun, als erkenne er ihn nicht. Auch Myschets wusste es nicht. Also schaute er verwirrt und blinzelte, bis Tschemerys ihm zuzwinkerte, dann hielt er es nicht mehr aus und lächelte.
„Switosar!“, rief er. „Schau, Tschemerys ist gekommen, er wird uns jetzt hier wegbringen.“
(…)
aus dem Kapitel:
SCHATTEN
Der rote Filzstiefel
(…)
Ich dachte an meinen Sohn. Sicher hatte ihm der Berkut das Handy abgenommen. So machten sie es immer. Es war schrecklich, darüber nachzudenken. Er war doch noch ein Junge. Er war erst acht Jahre alt. Warum hatten sie ihn überhaupt mitgenommen? Genau davor hatte ich mich immer gefürchtet, von den ersten Tagen an. Dass er zufällig am falschen Ort wäre, zur falschen Zeit und in etwas hineingeriete und ich – groß, stark und ohnmächtig – nichts tun, ihm nicht helfen könnte. So wie jetzt. Ich folgte wie ein Lamm diesem unbekannten Typ, der uns irgendwohin führte und nicht wegließ. Abzuhauen war unmöglich, überall lauerten Gefahren.
(…)
„Folgt mir“, kommandierte der nicht sichtbare Mann mit der Lampe. Und wir kletterten ihm hinterher nach oben, einer nach dem anderen, eine enge Leiter hoch und durch schmale Türen, die für uns geöffnet und sofort wieder hinter uns geschlossen wurden. Der Schacht war so eng, dass wir uns kaum hindurchzwängen konnten, den Rücken in irgendwelche dicken Kabel gestemmt, die in grau gewordenen, staubbedeckten Gehäusen lagen. Wir kletterten nicht lange, dann krochen wir gebückt durch abschüssige Gänge und hielten uns an jenen Kabeln fest. Zuerst vorbei am schwarzgekleideten Berkut-Mann – ich konnte ihn endlich erkennen, denn er hatte seine Lampe unserem ‚Unterfeldwebel‘ gereicht –, er öffnete mit einem Schlüssel eine Luke im Boden des Tunnels, wir ließen uns von oben in den schmalen, runden Gang hinunter und krochen weiter zu einem unterirdischen Fluss.
Hier war es ausreichend hell, obwohl das Licht täuschte, denn es kam von vielen sich bewegenden Lampen in den Händen von Leuten, die an den schmalen Ufern dieses unterirdischen Flusses standen.
Es roch nach Schlamm und kaltem Wasser. Der durch das klare Wasser sichtbare Grund des Flusses war mit gelben Ziegeln ausgekleidet.
„Das ist der unterirdische Fluss Chreschtschatyk… Wir sind unter der Straße, unter dem Chreschtschatyk“, flüsterte uns Mark zu. „Über uns sind die Zelte und das alles…“
Unter der Straße waren nicht nur wir.
Die, die hier in einer Reihe auf engen Fußsteigen standen, hatten hohe grüne Stiefel an den Füßen und zogen die Riemen enger, bevor sie durchs Wasser liefen. Offensichtlich konnte man diese Stiefel über die Schuhe an- und leicht wieder ausziehen. Die, die hier standen, waren schwarz gekleidet wie der Berkut, nur ohne Helme, aber mit Sturmhauben. Die, die hier standen, rauchten, traten von einem Fuß auf den anderen oder stießen mit metallischem Klirren ihre Waffen gegen die Tunnelwände.
Ab und zu tauchten andere auf, gekleidet wie Tituschky oder Mitglieder der Bürgerwehr und sogar einige Mädchen mit leuchtenden Mützen, bunten Rucksäcken und Jacken mit gelb-blauen Bändern.
Wir folgten dem, der uns hergeführt hatte. Er trat ab und zu ins Wasser. Es war seicht. Das Wasser spritzte und funkelte dabei. Die Reihe an der Wand ließ uns passieren, drückte sich enger an die Seite, wobei erneut Waffen klapperten.
Schließlich kletterten wir wieder hinter dem Berkut-Mann in einen Durchgang und er öffnete uns eine Luke.
„Nehmt den Kommunikationstunnel“, sagte er. „Kennst du den Weg?“
Mark nickte. Der Berkut-Mann schloss die Luke hinter uns. Wieder wurde es dunkel, abgesehen vom Lichtkegel von Marks Lampe.
„Witka“, fragte ich, „worauf warten die dort?“
„Offenbar auf einen Befehl“, antwortete stattdessen Mark.
„Und dann?“
„Über ihnen sind die Gullydeckel, also die für den Regenwasserkanal, diese Gitter, in die der Regen abfließt, über uns sind die Ausgänge durch die Kanaldeckel. Direkt auf den Majdan, unter der Bühne, um die Barrikaden zu umgehen…“
„Und diese … Mädchen?“
„Professionelle Provokateurinnen.“
„Witka“, wandte ich mich an sie. „Du hast doch bestimmt eine Nummer, du musst sie warnen… Witka wir müssen sie anrufen!“
„Ich hab‘ mein Handy immer noch dort vergessen“, sagte Witka. „Und wozu auch? Glaubst du, sie wissen das nicht?“
„Aber wir müssen irgendwas tun!“
„Die Barrikaden müssen gehalten werden.“
„Die werden ihnen in den Rücken fallen.“
„Nicht jetzt. Erst wenn Panik ausbricht“, sagte Witka. „Jetzt kann keiner unbemerkt rausklettern.“
(…)
aus dem Kapitel:
ARTEFAKTE
Die Pauke
An Neujahr bin ich nicht mit allen zusammen auf den Majdan gegangen. Mein Sohn war nämlich krank. Ich habe Ingwer gerieben, Zitrone hinzugefügt, damit ich den gleichen Tee trinken konnte, wie die auf dem Majdan und habe die Internetübertragung eingeschaltet. Um mich selbst zu trösten, sagte ich mir, dass ich das alles schon gesehen hatte. Die Sängerin Ruslana? Sie sprach und sang dort jede Nacht. Lichter in den Händen? … Ja, es sieht schön aus, wenn alle um dich herum sie einschalten und direkt vor dir auf dem Platz auch alle leuchten… Aber wisst ihr, im Livestream sieht das auch ziemlich cool aus. Na, und man kann die Posts und Fotos auf Facebook permanent liken, weil alle dort sind und Fotos posten und es ist, als wäre man auch dort.
Ich habe mir selbst gut zugeredet.
Habe dem Sohn Panadol gegeben, um die Temperatur zu senken, ihn schlafen gelegt und weiter teetrinkend die Übertragung angeschaut.
Sicher hatte er sich einen Virus eingefangen, als wir am 29. Dezember zu Janukowytschs Residenz in Meschyhirja gefahren sind. Das war so eine fröhliche Sache. Mit dem Automajdan und all diesen hunderten Autos, die dorthin gefahren waren, um Janukowytsch ein bisschen zu erschrecken.
Wir waren bis zum Zaun der Residenz von Janukowytsch gelaufen. Dort über die Holzbrücken, beim Zaun, war der Berkut in Reihen marschiert. Wir hatten ihnen zugewinkt und sie hatten uns gewinkt. Jemand hatte eine Tüte Piroggen mitgebracht und sie verteilt. Ich hatte sogar Nastja getroffen, die aus der Kommune von früher.
(…)
Dann hat Mischa angerufen und gesagt, sie würden direkt an meinem Haus vorbeifahren vom Majdan zum Untersuchungsgefängnis Lukjanowka, um den Eingekerkerten-Gefangenen-Geiseln ein Frohes Neues Jahr zu wünschen, und ob ich auch käme. Ich habe verneint und erklärt: „Mein Sohn.“ Er hat gesagt: „Nur für eine halbe Stunde.“
Ich habe seine Stirn berührt, gemerkt, dass das Fieber gefallen war, er friedlich schlief, ich habe fest die Tür geschlossen und bin zur Lukjanowka gefahren.
Der Automajdan ist so ähnlich wie eine Hochzeit. Eine ganze Autokolonne mit Fahnen und Bändern, in einem Auto der Schriftsteller Jaworiwskyj und die Box, aus der coole Musik wummerte. Die Leute auf den Straßen haben sich umgeschaut. Die entgegenkommenden Autos haben gehupt.
Beim Untersuchungsgefängnis wurden Feuerwerkskörper gezündet. Alle waren fröhlich und glücklich.
(…)
Und am Sonntag begannen auf der Hruschewskyj die Kämpfe. Und alles, was dort losgegangen ist, ging dann überall los: Steine, Molotowcocktails, Schießereien, Granaten, Petarden, brennende Busse, erste brennende Reifen, neue Barrikaden wurden errichtet, erstmals wurde ein Wasserwerfer eingesetzt…
Die Leute demontierten die Gehwege, um an Steine zu kommen – die Straße war aus ziemlich großen gebaut -, die Leute sammelten das, womit auf sie geschossen wurde – so eine Art Gummibälle. Die Leute nahmen sie in die Hände, versteckten sie in ihren Taschen, konnten nicht glauben, dass man damit auf sie schießt.
Auf sie schießt.
Auf der Straße.
Auf Menschen.
Am nächsten Tag hatte sich alles beruhigt und war wie versteinert.
Noch am Samstag war hier eine Straße gewesen, jetzt war es ein Schlachtfeld.
Kräftige Frauen hatten mit Stöcken auf herausgerissene Blechteile getrommelt. Mädchen waren gekommen und hatten medizinische Masken verteilt, denn überall war Tränengas. Und wenn man bei den toten, schwarzen, verbrannten und vereisten Bussen auf der glitschigen, vom Wasserwerfer überschwemmten Treppe zur hohen Veranda des Gebäudes geklettert war, hatte man die Reihen des Berkut sehen können. Viele. Schwarzgekleidet. Ständig hatten sie sich neu formiert, ständig waren sie zum Angriff bereit gewesen. (…)
[1] Söldner, die die ukrainische Polizei während Wiktor Janukowtyschs Regierungszeit unterstützten und sich häufig als Randalierer ausgaben, um illegale Handlungen auszuführen. Sie sollten einschüchtern, regierungsfeindliche Demonstrationen auflösen und deren Teilnehmer sowie Medienvertreter angreifen. Während des Euromajdan wurde Tituschky zum Sammelbegriff für Provokateure und Schläger, die von der Partei der Regionen angeheuert waren, und für Strafverfolgungsbeamte in Zivil.