Kontext

Slawistik, deutschsprachige Verlage und ukrainische Literatur?

Die Meldung über den Boykottaufruf russischer Musiker, Künstler, Schriftsteller rührt an grundlegende Fragen der Freiheit von Kunst und Künstlern, fragt nach ihrer Moral oder Unmoral. Diese Fragen schließen die Ukraine und ihre Kunst und Literatur mit ein: Wie nehmen wir die Ukraine wahr? Was wissen wir von ihr jenseits der Kriegsberichterstattung und deren Hintergründe? Und vor allem – was wissen wir alles nicht von diesem in vielerlei Hinsicht großartigen Land, dessen Bürger gerade für ihre Freiheit, Demokratie und die uns so wertvollen europäischen Werte zu sterben drohen! Deshalb halte ich die Debatte über die russische Kultur für verfehlt, darum geht es jetzt nicht. Anstatt durch pauschale Verbannung russischer Literatur die Auseinandersetzung mit Positionen und gesellschaftlichen Zuständen in Deutschland, Russland und Ukraine zu verhindern und sich in Einzelfallbeurteilungen zu verzetteln, sollte man produktiv denken. Wir sollten uns Gedanken machen, wie wir zu vertieften, konstruktiven Betrachtungen gelangen über die Ukraine selbst gelangen ohne dabei auf die eine oder andere Weise den Umweg über Russland zu denken. Zum Beispiel können Verlage und andere Institutionen Programme zur Förderung ukrainischer Literatur auflegen. Ukrainische Literatur sei hier stellvertretend für viele weitere Bereiche aus Kultur und Wissenschaft genannt, in denen ebenfalls ein erhebliches Defizit an Kenntnis und Kompetenz im Hinblick auf die Ukraine herrscht.

Zur Literatur: Ja, es gibt vielleicht ein gutes Dutzend ukrainischer Autorinnen und Autoren, die in den letzten 30 Jahren ins Deutsche übersetzt wurden. Die Mehrzahl davon erschien und erscheint in österreichischen Verlagen. Von den deutschen Großverlagen hat bisher suhrkamp vier Autoren veröffentlicht, davon sind zwei (Andruchowytsch und Zhadan) fest im Programm. In den letzten 2-3 Jahren kann man die erfreuliche Tendenz beobachten, dass sich kleine und mittelgroße Verlage ukrainischer Literatur annehmen und tolle Bücher machen, von denen das Feuilleton oft schwärmt. Für die Herausgabe dieser Bücher benötigen die Verlage oft Förderungen, und auch hier gibt es eine erfreuliche Tendenz in der Übersetzungsförderung. Wenn man dann aber in die Buchläden blickt, wird man in der Regel und selbst jetzt nicht auf ukrainische Titel stoßen. All das soll kein Gejammer sein, sondern eine Beschreibung des Ist-Zustands.

Die Gesellschaft in Deutschland wie in ganz Europa wird in den kommenden Jahren gezwungen sein, sich mit der Ukraine und ihren Menschen auf die eine oder andere Weise auseinanderzusetzten, mit Flüchtlingen, die in einer freien und demokratischen Ukraine leben wollten und deshalb alles verloren. Und wir werden uns selbst fragen müssen, warum etwa die deutsche Ost-Politik seit den 2000er Jahren außer Wirtschaftsförderung nichts im Blick hatte und insgesamt so versagt hat, vor allem nach der Krim-Annexion – man mag sich lieber nicht daran erinnern, dass die CDU/ SPD Regierung 2014 den Baubeginn Nordstream 2 absegnete.

Der Blick auf Osteuropa in Politik und Teilen der Medien sowie Bereichen der Geistes- und Sozialwissenschaften stand bisher im Schatten des vermeintlichen russischen Riesen, sodass die Nachbarländer aus dem Blick gerieten. Deswegen schrieben und schreiben sich, wenn es um die Ukraine, Belarus, Polen und andere Länder östlich von Deutschland gelegen geht, tradierte (oft negative) Stereotype und Denkblockaden, ja eine geradezu kulturkolonialistische russische Sicht in unserer Wahrnehmung fort!

Ein anderes deutsches Beispiel: In universitären Strukturen findet sich unter der Bezeichnung „Ostslawistik“ keinerlei gesicherte strukturelle Verankerung der Ukrainistik (mit Ausnahme einer halben Professur an der Viadrina in Frankfurt/ Oder) oder Belarusistik. Dies verwundert umso mehr, da inzwischen in vielen gesellschaftlichen Bereichen eine Sensibilisierung für die Macht sprachlicher Bezeichnungen vorhanden und mit der Verwendung von Gender-Bezeichnung im Alltag angekommen ist. So fand auch die Umbenennung von Slawistenverband zu Slawistikverband statt. Im Hinblick auf die Ostslawistik wird freilich vor allem in Literatur- und Kulturwissenschaften fast ausschließlich Russistik betrieben. Die beiden anderen ostslawischen Sprachen und Literaturen (Ukrainisch, Belarusisch) bleiben in der Regel unsichtbar. Man sollte solche Professuren einfach in Russistik umbenennen, das entspricht auch der Kompetenz ihrer Stelleninhaber/innen. Zugespitzt könnte man sagen, die Bezeichnung Ostslawistik schreibt überkommende Stereotype fort, indem zum Beispiel unter Sowjetliteratur hierzulande Literatur in russischer Sprache verstanden wurde und teils noch immer wird. In der Slawistik sollte eine Reflexion der eigenen institutionellen Strukturen einsetzen, die man zuweilen gar nicht als problematisch wahrnimmt, weil man so eng mit ihnen verwoben ist.

Es geht nicht um Betroffenheit hinsichtlich der Vergangenheit, sondern um Denkblockaden in der Gegenwart, wenn zum Beispiel Ostslawistik nur mit einer dominanten Russistik denkbar ist. Die mag es ja geben, aber nicht nur und ausschließlich!

Tatsache ist, dass ohne institutionelle Infrastruktur die vielen und zweifellos wertvollen Forschungsarbeiten und die Kompetenzen Einzelner in Ukraine- und Belarus-Studien nicht in die breite Öffentlichkeit oder gar in die Politik wirken können, also weiterhin nicht sichtbar sind, und somit die Unwissenheit über die Ukraine als „terra incognita“ festschreibt. Es wäre Aufgabe der Slawistik, nicht ständig und immer wieder in allen Instituten die Ostslawistik-Professuren in der Literaturwissenschaft mit Russisten zu besetzen, die ihrerseits wieder in der überwiegenden Mehrzahl Russisten in Stellung bringen.

Die deutsche Slawistik ist nicht groß und sie schrumpft, weil die Finanzen knapp sind. Sie wäre aber mit einer vernünftigen Personal- und Nachwuchspolitik in der Lage, die Vielfalt an Kulturen der slawischen Länder in Forschung und Lehre abzubilden, und das käme dann auch der Russistik zugute – freilich nur dann, wenn die Stellen nicht überwiegend mit Schwerpunkt Russistik besetzt werden. In Forschung und Lehre über den ostslawischen Raum muss neben Russland institutionell verankert und mit eigenen Stellen die Forschung und Lehre zur Ukraine und Belarus ermöglicht werden, und zwar von Slawisten, die auch Ukrainisch und Belarussisch lesen und im Idealfall auch sprechen.

Es ist zudem für die Verlage höchste Zeit, die vielen fantastischen und mitreißenden Stimmen zu Gehör zu bringen, die von der kulturellen Vielfalt und der aufregenden Geschichte der Ukraine und Belarus erzählen! Wenn man in den letzten beiden Wochen in die Buchhandlungen schaut, wird man eher selten ukrainische Themen oder Bücher ukrainischer Autoren auf den Büchertischen finden. Dies gilt auch für die Internetauftritte großer Buchhandlungsketten. Die Bücher sind nicht vorhanden, die Buchhändler kennen die Autorinnen und Autoren nicht, und die Bücher kommen meist nicht zu den Lesern.

Auch Politiker und Politikberater in Ministerien und sogenannte think tanks können durch soziokulturelle Werte und historische Themen, wie sie in Literatur und Kunst reflektiert werden, ihr Hintergrundwissen erweitern und somit bei Entscheidungen kompetent agieren.

Das ist kein naives Gerede.

Literatur entwirft und reflektiert im Modus der Fiktion gesellschaftliche, politische und kulturelle Szenarien. Ein Blick in russische, ukrainische und belarussische Texte der letzten Jahrzehnte ist hier sehr erhellend für die jetzige Situation. Politik und Ihre Beratungsinstanzen sollten sich ihrer gestrigen Verhaltensmuster und Denkblockaden bewusst werden – auch dazu kann ein wenig literarische Lektüre beitragen.

Frau Baerbock sagte am Morgen des russischen Angriffs auf die Ukraine den richtigen Satz „Wir sind in einer anderen Welt aufgewacht.“ Nach einem solchem Aufwachen braucht man eine gewisse Zeit, um sich von dem Schock zu erholen, dass es die Welt von Gestern nicht mehr gibt. Man muss sich neu orientieren. Genauso wie die riesige ukrainische Exilcommunity, der wir in den nächsten Tagen, Wochen und Jahren begegnen werden. Da sollten wir im eigenen Interesse, wegen des so oft zitierten sozialen Friedens, die Geschichte und Kultur der Geflohenen und Exulanten kennen. Und es sollte nicht nur aus kurzfristiger Betroffenheit erfolgen, sondern es muss langfristig ein Bildungsangebot und ukrainische Bücher und Filme geben für all die, die sich für das Denken, die Literatur und Sprache der Ukraine interessieren. Und das ist auch in unserem eigenen Interesse.