Jurij Wynnytschuk und Andrij Kurkov: Die Schlüssel Marias

Lemberg, Mai 1941, Bohdan Kurylas erhält einen Anruf vom NKWD

 

Professor Bohdan Kurylas spürte hinter sich leise Schritte.

„Brauchst Du noch lange, Bohdan?“, fragte seine Frau fast flüsternd.

„Nein, bin schon fertig.“

„Die Markowytschs haben angerufen … Du musst dich noch rasieren!“

Der Professor wandte sich um. Seine Frau war bereits im Kleid, jenem, das sie noch vor dem Krieg gekauft, doch bisher kein einziges Mal getragen hatte. Sie war bereits frisiert und geschminkt. Sie sah noch immer jung aus, obwohl sie schon über vierzig war. Der Professor war zehn Jahre älter als sie, er fühlte sich jedoch nicht alt, sondern einfach nur müde. Was sie seit Beginn der russischen Okkupation erlebt hatten, als sich Menschenmassen in Bewegung setzen wie die Ameisen, das war die Hölle gewesen.

Was soll man dazu sagen! … Die Menschen unterscheiden sich in solche, die um nichts auf der Welt aus ihrem Land fortgehen würden, mit dem Volk zu sein, ist für sie eine nationale Verpflichtung. Na-ja, und auch die Russen seien schließlich nicht mehr so, wie sie mal gewesen wären, denn sie kämen nun nach Europa und müssten sich demnach den Umständen anpassen. Und vor allem sei das hier die Ukraine, wenn auch eine rote, deshalb müsse man einfach an Ort und Stelle bleiben, einen Posten bekleiden und den Lauf der Dinge beeinflussen. Doch andere, die die Bolschewiken schon früher kennen gelernt hatten, waren überzeugt, dass die sich kein bisschen geändert hatten und auch nicht ändern würden, deshalb flohen sie lieber. Und eine dritte Gruppe dachte wiederum, dass es keinen Grund gäbe, in Panik zu geraten und man die Ereignisse abwarten solle und sich dann entsprechend entscheiden.

Trotz der Fluchtbewegungen in alle Richtungen wurden es nicht weniger Menschen in Lemberg, ganz im Gegenteil die Stadt schwoll zur Millionenstadt an, die Straßen waren mit Autos, Kutschen, Fuhrwerken und Menschenmassen verstopft. Flüchtlinge aus ganz Polen, die vor den Deutschen Rettung suchten, drängten sich hier zusammen. Die meisten begriffen jedoch bald, dass sie den Teufel mit Beelzebub getauscht hatten. Und so hatten wohl die Recht behalten, die geflohen waren. Denn sie überlebten fast alle, besonders die Vertreter der Intelligenz, von der jener Teil, der in Lemberg geblieben waren, nach Sibirien und Mittelasien deportiert wurde.

Das proletarische und erbärmliche Äußere der Roten Armee erstaunte alle – grobe, wie mit der Axt zurecht gehauene Gesichter, wachsame Augen und schlappe Bewegungen. Sie schienen sich kaum auf den Beinen halten zu können. Die Waffen legten sie freilich nicht aus der Hand, aus allen Militärfahrzeugen ragten aufgesetzte Bajonette. Die Kommissare der Roten Armee fürchteten, der Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung könne die Soldaten demoralisieren. Deshalb war es ihnen verboten, jemanden anzusprechen oder sich gar zu unterhalten. Mit der einheimischen Bevölkerung sprachen vor allem die Kommissare und die Politagitoren, die, obwohl sie mit allen möglichen Phrasen gerüstet waren, oft nicht auf die einfachsten Fragen zu antworten vermochten. Zum Beispiel, warum seid ihr alle so erbärmlich gekleidet? Denn das Äußere der Befreier in Zivil unterschied sich kaum von jenem der Soldaten. Sie trugen völlig zerschlissene Schuhe, meist Stiefel, sie hatten nicht einmal Unterwäsche und so kam ihnen selbst ein einfacher Arbeiter wie ein Bourgeoise vor. Von da an zogen die Lemberger ihre schäbigsten Kleider an, um nicht aufzufallen und in die Bredouille zu geraten, denn es waren schon mehrere einfache Arbeiter wegen bourgeoisen Aussehens verhaftet worden.

In der Westukraine nannte man diese Befreier Sowjets oder Russen, denn sie redeten alle russisch und sagen ausschließlich russische Sträflingslieder, mehrheitlich waren es tatsächlich Russen. Überall in der Stadt wurden Plakate mit Marx, Lenin und Stalin aufgehängt, an den Gebäuden prangten rote Fahnen, die ziemlich rasch verblassten, aber nachts wurden sie immer ausgetauscht. Aus Pappmaché wurden kurzerhand auch Denkmäler errichtet, angepinselt und auf Betonsockel gestellt, die dann beim ersten Regenguss aufweichten und auseinanderfielen. Auf dicht bevölkerten Straßen kreischten Rotarmistenlieder tagelang aus Lautsprechern, die von so phantastischen Plänen kündeten, wie den siegreichen sowjetischen Marsch an die Ufer des Atlantiks sowie erheiternde Neuigkeiten auf stets ein und dasselbe Thema: Welch wundervolles Leben nun in dem befreiten Land beginne und in welchem Elend die bourgeoise Welt dahinsieche, doch auch sie werde bald befreit werden.

Die Neuankömmlinge aus dem Osten besetzten rasch alle wichtigen Positionen und übernahmen die Führungsposten, und die „Expluatotoren“ sahen sich gezwungen, nach und nach das gesamte Hab und Gut ihres „bourgeoisen Lebens“ zu verkaufen und Kleidung, Geschirr, Bilder, schlicht alles auf den Basar zu tragen.

Polnische und ukrainische Beamte des höheren Diensts, Richter, Kaufleute und Hausbesitzer, Offiziere und Polizisten wurden nach Kasachstan und Sibirien verfrachtet, wo die meisten von ihnen erschossen wurden.

[…]

Bald gab es nicht mehr genug Wohnungen für die neureichen Sowjets. Doch die neue Regierung fand einen sehr einfachen und zugleich effektiven Weg, um dieses Problem zu lösen: Die Neuankömmlinge wurden in die Wohnungen von Lembergern zwangsweise einquartiert. Professor Kurylas hatte fünf Zimmer gehabt, geblieben waren ihm nun zwei. In den anderen drei Zimmern wurden die Familien dreier lärmender Kommunisten untergebracht. […] Der ständige Krach auf der anderen Seite der Wände, Streitereien, Kindergeschrei, das voll aufgedrehte Radio hinterließ seine Spur und der Professor stopfte sich die Ohren zu, um in Ruhe arbeiten zu können. Er versuchte es mit Watte, feuchten Servietten, und schließlich fand er heraus, dass sich die besten Ohrstöpsel aus frischem Teig herstellen lassen. Er mischte rasch einen Löffel Mehl mit Wasser, rollte daraus zwei Kügelchen und fertig, nun hätte man eine Haubitze neben ihm abfeuern können. Da die Ehefrau diese nette Angewohnheit ihres Mannes kannte, musste sie sich vor ihm hinstellen und wie wild winken, damit er sie bemerkte und ihm dann einen Zettel hinschieben, worauf stand, dass sie ihm etwas mitteilen wolle.

Doch heute war das überflüssig, es war Sonntag und alle Wohnungsinsassen waren im Park unterwegs. Endlich war Ruhe eingekehrt. Nur von draußen klang gedämpft Marschmusik von Straßenlautsprechern herauf so wie hin und wieder das Gebimmel einer Straßenbahn. Eine wunderbare Gelegenheit, um zu arbeiten, aber sie waren bei den Markowytsch eingeladen, einem Kollegen aus der Universität.

Der Professor nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. Vor ihm lag eine Archivmappe mit mehreren Dokumenten aus der Zeit der Kreuzzüge. Ihn interessierte nur ein einziges Schriftstück darin: Eine kurze Chronik, die ein galizischer Ritter auf seiner Heimreise verfasst hatte. Diese Chronik hatte er bereits früher einmal gelesen, doch nun war gezwungen, sie abermals und sehr aufmerksam zu lesen – obwohl er nicht richtig verstand, was der NKWD-Oberst Oleh Waryk eigentlich von ihm wollte. Der hatte vor einigen Tagen Kurylas angerufen, und ihm in weiser Voraussicht nachdrücklich versichert, dass er keinerlei Bedenken gegenüber dem Professor hege, sondern sich einfach mit ihm zu unterhalten wünsche. Der erste Gedanke war: Wollen sie dich als Spitzel anwerben? Aber was hätte das für einen Sinn? In der Universität fanden sich auch so genug Spitzel. Währenddessen fragte der Oberst, vielleicht um ihm die Anspannung aus dem Gespräch zu nehmen: „Genosse Professor, haben Sie die Chronik von Olherd in der Sammlung über die Kreuzzüge gelesen?“

Diese Frage überrumpelte den Professor. Was für eine Frage auch immer, aber eine solche hätte er von einem Tschekisten nie erwartet.

„Ja, habe ich gelesen.“

„In dem Fall bitte ich Sie, die Chronik noch einmal zu lesen,“ sagte der Oberst sanft und doch nachdrücklich, „um die Erinnerung ein wenig aufzufrischen. Und am Montag erwarte ich Sie dann um zwei Uhr bei mir im Büro.“

„Entschuldigung … um zwei halte ich eine Vorlesung.“

„Das wissen wir. Professor Mychajlo Rudnytzkyj wird sie übernehmen. Er wurde bereits informiert.“

„Ah-ha … gut, ähm, und wo ist bei Ihnen? ….“

Peltschynskyj-Straße, die kennen Sie doch?“

Es erklang ein Lachen und der Hörer landete auf der Gabel.

 

 

 

Die Chronik des Ritters Olherd … darüber was sich in der Höhle versteckt hielt.

 

„Wir hatten gehofft, in aller Ruhe bis zum Sonnenuntergang nach Jerusalem zu gelangen. Doch unterwegs wurden wir von Sarazenen angegriffen. Munter dreinhauend konnten wir uns gerade noch zurückziehen, denn wir waren in Unterzahl. Zum Glück gelangten wir in eine geräumige Höhle, in der wir uns verschanzen konnten, ohne unsere Huzulenpferde zurückzulassen. Der Feind konnte nicht hinein, ohne sich einem Pfeilhagel auszusetzen. Als die Sarazenen begriffen hatten, dass sie uns nicht so einfach kriegen würden, begannen sie eine Belagerung.

Wir hatten unsere Maultiere verloren und waren in einer verzwickten Situation. Zum Glück tropfte kristallklares Wasser von den Wänden der Höhle und floss weiter in die Tiefe der Höhl, man hörte das Echo, wie das Wasser schließlich aus großer Höhe in ein Becken platschte. Unseren Durst konnten wir also löschen, doch zu essen hatten wir nichts, um am dritten Tag quälte uns alle der Hunger mordsmäßig. Die Sarazenen hatten gegenüber der Höhle ihr Lager aufgeschlagen und – als wollten sie uns reizen – jagten Wildziegen, entfachten ein Lagerfeuer und wollten uns mit dem Duft gebratenen Fleisches verführen.

Der Hunger setzte uns so zu, dass der eine Käfer fing, der andere bereits Raupen und Tausendfüßler aus den Felsen puhlte. Und einige waren bereits so verzweifelt, dass sie sich lieber in den Kampf stürzen und fallen wollten, als vor Hunger zu sterben. Der Fürst hielt sie zurück und überzeugte sie, dass der Barmherzige die seinen nicht dem Untergang preisgeben werde. Und es geschah, wie er sagte. Bruder Luka berichtet uns völlig überraschend von einer wundersamen Entdeckung. Wir eilten auf seinen Ruf hin herbei und während wir die Felswand beleuchteten, bemerkten wir einen weißlichen Belag an der Felswand, der einer Kruste ähnelte. Bruder Luka teilte uns mit, dass er diesen Belag probiert habe, er schmecke süßlich, doch damit nicht genug des Wunderlichen, denn auch das Hungergefühl sei augenblicklich verschwunden und es habe sich sogar Sättigung eingestellt. Da kratzten wir mit dem Messer alle etwas von diesem Belag ab, steckten es in den Mund und tatsächlich war das Hungergefühl sogleich wie weggeblasen, und mehr noch, wir fühlten uns auch gelabt, und selbst die Wunden begannen vor unseren Augen zu verheilen. Wir fühlten uns bärenstark und wollten uns sogleich in den Kampf stürzen. Einige hatten tatsächlich schon das Schwert gezogen, jedoch hielt Fürst Ihor sie zurück und suchte diese jugendliche Unüberlegtheit Torheit zu verhindern. Drei der Unsren hörten nicht auf ihn und stürmten gar ohne Rüstung aus der Höhle und begannen die Sarazenen zu metzeln. Das war ein unglaubliches Spektakel: Sie waren nur zu dritt gegen mehr als hundert Sarazenen, und doch wussten sich diese nicht zu helfen gegen die Unsrigen. Die Schwerter der Rus mähten sie nieder wie reife Ähren. Da stürmten auch wir herbei und selbst Bruder Luka warf sich in den Kampf bewaffnet mit seinem Spieß. Mein Schwert fühlte sich unglaublich leicht an, ich musste es nicht mehr mit beiden Händen führen, ich schwang es leicht und locker, als sei es ein Weidenzweig, dabei schnitt es die Feinde in-zwei als wären es keine menschlichen Körper, sondern Kürbisse. Und als mir mein eigenes Schwert zu wenig schien, ergriff ich mit der linken einen Sarazenenschwert und focht mit beiden in alle Richtungen, dass das Blut nur so spritzte und mich besprühte wie ein rotglitzernder Nebel. Bald war der Großteil der Sarazenen niedergestreckt, der Rest rannte wie die Hasen.

Wir holten unsere Maultiere zurück, nahmen uns das eine oder andere Prachtstück, das die Sarazenen zurückgelassen hatten und wollten gerade aufbrechen, als Bruder Luka, der sich über seine Behändigkeit angesichts seines fortgeschrittenen Alters wunderte, in die Höhle zurückkehrte und die wundertätige krustige Substanz betrachtete, und dann zum Schluss kam, dass es sich um nichts anderes handeln könne als um die erquickende Milch der Gottesmutter. Es müsse sich hier um eben jene Höhle handeln, in der sie sich vor Herodes versteckt hatte. Ungeachtet dessen, dass es eine ähnliche Höhle auch nahe Jerusalems gäbe. Dort verleiht der weiße Belag auf dem Stein allerdings keinerlei Kräfte, er heilt jedoch Unfruchtbarkeit während dieser hier den Mann zum Recken macht.

Der Fürst holte einen Tonkrug aus einer Umhängetasche, in dem davor Wein gewesen war und kratzte etwas von dem Belag ab und füllte so viel ein, wie in den Krug passte. Danach übergab er ihn mir mit dem Auftrag, ihn nach meiner Rückkehr in die Kyjiwer Sophienkathedrale zu bringen.

Als wir die Höhle gerade verließen, hörte ich aus ihrer Tiefe plötzlich ein Kratzen. Es war finster dort. Was für ein seltsames Tier mochte das sein? Ich nahm eine Fackel und zog das Schwert aus der Scheide. Doch meine Vorsicht war unnötig gewesen, denn es war kein wildes Tier, sondern eine Jungfer, sie war völlig entblößt und zitterte vor Angst. Ich warf ihr einen Mantel über, hüllte sie ein und führte sie aus der Höhle. Sie war bildhübsch und hatte zimtbraune Haare, die sich bis zur Hüfte schlängelten. Sie wiederholte immerzu die gleichen Worte, aber keiner verstand, was sie sagte. Einzig Bruder Luka erkannte, dass es sich um Aramäisch handelte und begann sie auszufragen. Sie sagte, dass sie sich vor Feinden verstecke.

„Wer sind eure Feinde?“, fragte Bruder Luka.

„König Balduin,“ antwortete sie mit einer so feinen Stimme, die geradezu an Vogelgezwitscher und das Glucksen eines silbernen Bächleins erinnerte.

„Was will er von euch?“

„Er will mich in seine Burg entführen.“

„Wer seid ihr denn?“

„Maria.“

„Gut, wir werden euch retten,“ entgegnete der Fürst entschlossen.

Wir suchten etwas für sie aus der Kleidung eines sarazenischen Ritters zusammen, dann warf sie sich noch einen unserer schwarzen Umhänge mit dem weißen Kreuz und einer Kapuze über und verbarg ihre Haare unter einem Helm. Sie sah nun wie ein Schildknappe aus. Ich setzte sie vor mir aufs Pferd und so brachen wir auf, noch immer spürten wir große Kraft in uns. Das Mädchen bat, sie nicht nach Jerusalem zu bringen, doch überzeugten wir sie, dass ihr in unserer Begleitung keine Gefahr drohe, und sie niemand als Jungfrau erkenne. Wir hatten vor, uns einige Tage in Jerusalem aufzuhalten und vom König Geldmittel für den Heimweg zu erhalten. Jene zwölf Jahre, die wir im heiligen Land gewesen waren, erschienen uns wie eine Ewigkeit.

Gegen die Mittagsstunde erblickten wir eine Staubwolke und rechneten damit, von neuem Sarazenen zu begegnen. Wir hielten an, nahmen das Mädchen in unsere Mitte und begaben uns in Kampfposition. Sie zog jedoch auch ein Sarazenenschwert und stellte sich neben uns. Unruhig blickten wir zu der Staubsäule, die empor wirbelte und wieder zusammenfiel, das Pferdegetrampel kam immer näher, die Sonne blendete uns. Als schließlich Kreuzritter des Königs mit dem Ritter Etienne durch den Staubvorhang ritten, seufzten wir erleichtert auf. Wir begrüßten uns und Etienne sagte:

„Als wir von weiten euer Feldzeichen sahen, wussten wir, dass ihr zu uns gehört. Woher kommt ihr?“

„Aus Nazareth.“

Seid ihr nicht einem Mädchen mit sehr langem Haar begegnet?“

„Nein, wir haben kein Mädchen gesehen,“ entgegnete Fürst Ihor, und um Fragen der Unseren zuvorzukommen, fragte er: „Was ist mit ihr?“

„Wir suchen sie,“ entgegnete Etienne und blickte uns forschend an.

„Wer ist sie?“, fragte der Fürst.

„Eine Gefangene des Königs. Sie ist gestern geflohen.“

„Gut, wenn wir sie sehen – was sollen wir machen?“

„Ergreifen und nach Jerusalem bringen.“

Nach diesen Worten ritten wir unseres Wegs.

„Ja-ja,“ sprach Bruder Luka, „das beste Versteck, Jungfer, wird gerade Jerusalem sein. Keiner wird euch dort suchen.“

Nachdem wir die letzte Anhöhe erklommen hatten, öffnete sich vor unseren Blicken eine malerische Landschaft mit Olivenhainen, die sich bis an die Stadtmauer erstreckte, mit hohen Palmen, in deren stolzen Kronen dicht die Datteln hingen, und darunter verteilten sich weiße Zelte der Kaufleute und Kamele einer Karawane. Dort pulsierte das Leben, tönten zahllose Stimmen in vielen Sprachen. Nichts erinnerte mehr an Blut, Tod und Niedergang, die sich über die verschlungenen Pfade der Erinnerung zurückgezogen hatten. Und jenseits der Mauern tauchten die Kuppeln der Kirchen mit ihren goldenen Kreuzen in den Himmel, hohe Türme, auf denen Kreuzritter Wache hielten, und Taubenschwärme stiegen fächerförmig in das in Blau und andere landeten auf Hausdächern.

Wir hielten an und staunten über die Schönheit der Stadt. Seitdem wir Jerusalem im Sturm erobert hatten, war uns keine Gelegenheit mehr gegeben gewesen, hier zu verweilen. Obwohl wir all die Jahre nichts anders gemacht hatten, als mit den Ungläubigen zu kämpfen, war Jerusalem doch unser Morgenstern gewesen, Antriebsfeder all unseren Handelns.

Das David-Tor war sperrangelweit offen und die Leute konnten es ungehindert passieren. Auf beiden Seiten des Tores standen Ritter des Johannisordens Wache. Sie begrüßten uns lautstark. Einige aus ihrer Gruppe gruben am antiken Ort der Stallungen des Salomon aus. Die Grube war schon so tief, dass man nur noch die Köpfe der Ausgräber sah. Andere wiederum schafften den ausgegrabenen Sand zur Seite.

„Was suchen die?“ fragte ich Luka, doch der zuckte nur mit den Schultern. Da räusperte sich das Mädchen und murmelte rasch etwas. Luka übersetzte.

„Sie sagt, sie suchen die Bundeslade. Doch vergebens.“

„Ist sie denn nicht da?“ fragte ich nach.

„Nein,“ antwortete Luka. „Aber sie weiß, wo sie sich befindet, gibt es aber nicht preis.“

„Und was ist diese Bundeslade?“

„Eine ungefähr zwei Meter lange Kiste aus Akazienholz, außen und innen mit Gold verziert,“ erklärte Luka. „In der Kiste befinden sich die Zehn Gebote, also die beiden Steintafeln mit Gottes Gesetz. Die Bundeslade besitzt magische Kräfte. Sie schützt den, der sie schützt, und sie vermag Berge zu versetzen und Wege zu begradigen. König Joschua hatte sie versteckt und seitdem weiß niemand mehr, wo sie aufbewahrt wird.“

„Und das Mädchen weiß es?“

„Vielleicht wird sie gerade deshalb gesucht. Doch die Kreuzritter sind nicht mehr würdig, über solche Reliquien zu verfügen. Wegen Zwietracht und Haders wird sich der Herrgott schon bald von ihnen abwenden.“

Wir waren in die Stadt gekommen, als es bereits zu dämmern begonnen hatte. Die Stadt lebte, wie sie gelebt hatte, bis wir kamen und alles Leben zerstörten. Die Händler räumten ihre Buden auf, die Wasserverkäufer saßen müde mit leeren Schläuchen in verschiedenen Ecken, die abendliche Abkühlung setzte ein und keinen plagte mehr der Durst. Dafür kamen um diese Zeit nun Frauen mit offenen Gesichtern und lockenden Blicken auf die Straße. Sie warfen uns aufmunternde Blicke und ein süßes Lächeln zu. Wenn einer von uns diesen Blicken nachgab und stehenblieb, donnerte ihn der Fürst an und jener, unzufrieden vor sich hin brummelnd, eilte, die Gruppe einzuholen.

Wir steuerten die Herberge an, die der Kaufmann Ruprecht von Heidelberg unterhielt. Wir hatten ihm und seiner Familie das Leben gerettet, als wir sie einst aus der Gefangenschaft der Sarazen befreiten. Damals versprach er, uns stets kostfrei zu bewirten und unterzubringen. Er teilte uns mehrere Räume zu, der Jungfrau wurde eines mit Bruder Luka zugewiesen und wir brachten ihnen die Abendmahlzeit, damit das Mädchen niemanden in den Blick geriet, der es nicht sehen sollte. Wir andern speisten unten.

„Was für einen Jüngling habt ihr denn dabei?“, fragte unvermittelt Ruprecht.

„Den Sarazenen entrissen,“ entgegnete ich, „einer von unsern.“

„Auch aus der Rus?“

„Nein, aber gehört zu uns.“

Er nickte und stand auf, um uns Bier nachzuschenken. Er hatte sich auch früher mit knappen Antworten begnügt und so verlor er auch diesmal rasch das Interesse.

 

 

 

Lwiw, Mai 1941. Bohdan Kurylas ist überrascht: Der NKWD-Oberst zitiert Jules Renand

 

Unterwegs erinnerte sich der Professor an den August 1939, als die ganze Familie noch zusammen war und in Kuty in den huzulischen Karpaten die Ferien verbracht hatte. Es war herrlich warmes Wetter und nichts deutete auf eine Tragödie hin. Und doch lag etwas in der Luft, man spürte es. Eine nicht zu fassende Unruhe bedrückte alle und verbreitete sich in unsichtbaren Wellen. In der Bergesstille, getränkt vom Duft der Fichten und des gemähten Grases, lag etwas Bedrohliches.

Nachdem die Familie Kurylas Ende August schließlich nach Lwiw zurückgekehrt war, zweifelte niemand mehr, dass ihre Vorahnung wahr geworden war: Die Stadt war in heller Aufregung, die Menschen überboten sich in Hamsterkäufen, zeitweise gab es gewisse Lebensmittel überhaupt nicht mehr, besonders solche, die lange haltbar waren, wie zum Beispiel Schmalz, und in manchen Läden gab es sogar kein Salz mehr. Der Zucker war ausverkauft und danach das Gas. Alkohol mit mehr als viereinhalb Prozent verschwand aus den Regalen, es wurde schlicht verboten, ihn zu verkaufen. Die Preise kletterten in die Höhe, was eine sofortige Maßnahme der Stadtverwaltung nach sich zog, die die schlauen Krämer bestrafte. Gleichzeitig begann man Konduktorinnen zu schulen, das bedeutet genommen die Frauen und Schwestern der Konduktoren, damit sie die Männer ersetzen konnten, falls die zum Militär eingezogen werden sollten.

Oles wurde gleich zu Beginn in die polnische Armee einberufen, außerdem verbreiteten sich übertrieben fantastische Neuigkeiten, dass England und Frankreich einen Angriff auf Polen nicht zulassen würden.

Die Stadtverwaltung rief die Lemberger dazu auf, Gräben auszuheben, in denen sie sich vor den Bomben verschanzen könnten. In der ganzen Stadt wurden nun Gräben ausgehoben, besonders in Parks und Grünanlagen, aber auch auf Plätzen, wobei man den Abstand zu den umliegenden Gebäuden entsprechend deren Höhe einhielt, um nicht unter deren Trümmern begraben zu werden. Zahlreiche Gräben verliefen in Zickzack-Linie und waren mit Brettern abgedeckt. Fast die ganze Stadt grub begeistert Gräben und sogar die Schüler kamen zum Buddeln.

„Vielleicht werde ich wegen meines Sohnes einbestellt?“, überlegte Kurylas. „Aber was kann ich schon sagen. Ich habe nicht einmal einen Brief von ihm erhalten.“

Dann kreiselte der Name des Oberst‘ in seinem Kopf … Wawryk, Wawryk …. ist er denn ein Verwandter dieses russophilen Schriftstellers Wasyl Wawryk? Der lehrte auch an der Universität, sprach ein grässliches Russisch und freute sich darüber, dass Lwiw nun endlich mit Moskau vereint sei.

Er trat auf die Peltschynyskyj Straße und spürte, wie ihm die Knie weich wurden und sich Nebel in seinem Kopf ausbreitete. Er lehnte sich an eine Linde und steckte sich eine Papirosi an. Es gelang ihm erst mit dem vierten Streichholz, sie anzuzünden. „Warum bin ich so nervös? Hab ich mich nicht damit längst abgefunden? Hab ich nicht jeden Tag einen solchen Anruf erwartet?“

Er blickt zu dem finster dreinblickenden Gebäude des NKWD, früher war hier die Verwaltung des städtischen Elektrizitätswerks untergebracht gewesen. Da hatte das Gebäude nicht so finster ausgesehen, doch seitdem die Tschekisten dort saßen, hatte es eine Patina aus Salpeter und tiefer Traurigkeit überzogen. Die Fenster waren tagsüber immer dunkel, abends und nachts waren sie dann erleuchtet, doch stets verhüllt von undurchdringlichen Stores. „Lembergs höchstes Gebäude, von dem aus man bis Sibirien sehen kann“, so scherzten die Lemberger.

Am Eingang stand eine Wache mir einem Gewehr und rauchte ebenfalls. „Vielleicht gehe ich wieder?“, überlegte er. Doch es gab so oder so kein Zurück, er konnte sich jetzt nicht mehr verstecken. Nachdem er noch ein paar Schritte gegangen war, sah er, wie sich die Wache aufrichtete und ihn anstarrte.

„Ich gehe zu Oberst Wawryk,“ teile Kurylas ihm möglichst gelassen mit.

Seine feste Stimme, das forsche Auftreten riefen bei der Wache einige Verwunderung hervor, er trat zur Tür und drückte einen Klingelknopf. Nach einer Weile kam der Diensthabende.

„Er will zu Oberst Wawryk.“

„Sie wurden herbestellt?“

„Ja, für zwei Uhr.“

De Diensthabende und die Wache blickten gleichzeitig auf ihre Uhren. Kurylas musste grinsen, als er an den Handgelenken die deutschen Uhren bemerkte, die sie offensichtlich auf der gemeinsamen Parade mit den Deutschen erhalten hatten. Aber vielleicht haben sie sie auch einem Lemberger weggenommen.

Der Diensthabende verschwand wieder. Die Wache ließ den Blick nicht vom Professor, vielleicht in der Hoffnung einer Provokation. Die Tür öffnete sich abermals und der Diensthabende sagte: „Kommen Sie mit“, und ließ den Besucher vorgehen. Kurylas ging durch das Foyer und bemerkte, wie ein großer, kräftig gebauter Mann die Treppe herab kam. Er war ungefähr ebenso alt wie er, mit dichtem, wenn auch von Grau durchzogenem Haar und einem grob geschnittenem, von Falten zerfurchtem Gesicht. Freundlich lächelnd streckte er die Hand aus:

„Ich habe Sie hergebeten, Genosse Professor. Kommen Sie mit.“

Schweigend stiegen sie Stufen hinauf, die mit einem langen, bordeauxroten Teppich bedeckt waren, die quer auf jeder Stufe von einer Metallstange gehalten wurde.

Obwohl Kurylas noch ein Kreislaufmittel genommen hatte, bevor er hierher gekommen war, hatte er Herzklopfen. Er hätte lieber einen Schnaps trinken sollen, dachte er.

Der Oberst öffnete die Tür eines geräumigen Büros und bat ihn einzutreten. Sie nahmen auf den gegenüberliegenden Seiten eines gewaltigen Schreibtisches Platz. Alle Möbelstücke in diesem Raum waren polnischer Herkunft und offensichtlich in Privatwohnungen konfisziert worden, das sah man an den Krendenzen, die nun als Aktenschränke dienten.

„Also“ begann der Oberst, „ich denke, Sie haben die Chronik noch einmal gelesen?“

„Ja, ich habe sie nochmals gelesen, sogar zweimal. Aber ich verstehe nicht, was Sie daran interessiert.“

Der Oberst zog eine Schublade auf und zog eine durchsichtige, kleine Flasche in Birnenform heraus, die mit einem Holzstöpsel und rotem Siegellack verschlossen war. In der Flasche schimmerte ein weißes, kristallines Pulver.

„Das hier interessiert uns.“ Der Oberst streckte dem Professor die Flasche hin. Der nahm sie und drehte sie verwundert in den Händen.

„Was ist das?“

„Eben das, was die Ritter in der Höhle von der Wand gekratzt haben.“

„Die Milch der Gottesmutter?“, erstarrte Kurylas.

„Genau. Der Ritter Olherd wurde in Kyjiw hinterhältig ermordet. Man hat ihn in der Gruft der Sophienkathedrale beerdigt. Als man dort Ausgrabungen machte, wurde sein Gerippe und dieses Fläschchen gefunden. Professor Hruschewskyj äußerte als Erster die Ansicht, dass es sich hier um die Milch der Gottesmutter handle, die in jener Höhle gefunden wurde. Allerdings ist uns jemand zuvorgekommen und hat sich die Hälfte des Pulvers angeeignet. Wer das war, konnten wir nicht mehr feststellen. Allerdings war es Hruschewskyj verboten gewesen, darüber zu reden und zu schreiben. Natürlich hat er sich nicht daran gehalten, und von daher verschwanden einige Historiker und Archäologen in den Schneewehen Sibiriens. Auch er wurde vernichtet. Wundern sie sich nicht, dass ich das alles so freimütig erzähle? Das liegt daran, dass die Feinde des Volkes diese wunderbaren Menschen vernichtet haben. Wofür sie dann im Jahr 38 ja auch erschossen wurden.

„Und wie kann ich behilflich sein?“

„Nun, wissen Sie …“, der Oberst nahm die kleine Flasche wieder an sich und verbarg sie in der Schublade. „Die Feinde des Volkes haben es ein wenig übertrieben und faktisch die gesamte Geschichtswissenschaft liquidiert. wir haben keine Kader mehr, die eine umfassende Forschung in Angriff nehmen könnten. Die ganze Hoffnung liegt auf denen, die in Lemberg überlebt haben. Von denen haben wir Sie ausgewählt, einen anerkannter Forscher über die Kreuzzüge und der Beteiligung von Rittern aus Galizien und Wolhynien. Was denken sie über das Mädchen, das von den Rittern beschützt wurde?

„Auf die es König Balduin und der Papst abgesehen hatten?“

„Ja, genau. Wer ist sie ihrer Meinung nach?“

„Wenn man sich auf die Chronik stützt, handelt es sich um die ewig junge, ägyptische Göttin Ma-a oder … die Gottesmutter. Doch das ist nicht mehr als eine Legende.“

„Legende hin oder her, sie hat einen wahren Kern,“ der Oberst regte nun den Zeigefinger in die Höhe. „Jules Renan äußert die interessante Vermutung, dass Jeanne d‘Arc in Wirklichkeit gar nicht die Stimmen des Erzengels Michael, der heiligen Katherina von Alexandria und heiligen Margarita von Antiochien vernommen habe. Sie haben nicht mir ihr geredet, weil sie selbst die Gottesmutter war. Die jungfräuliche Kämpferin.“

Kurylas musste sich vor Überraschung räuspern. Er hatte nichts dergleichen bei Renan gelesen. „Dürfte ich fragen, in welcher Arbeit Renans Sie das gefunden haben? Denn sein Buch ‚Das Leben Jesu‘ habe ich gelesen.“

„Ich zweifle nicht daran, dass Sie es gelesen haben. Und es ist richtig, dass sich das eben Erwähnte in keiner seiner Arbeiten findet. Diese Äußerung wurde in seinen Aufzeichnungen entdeckt. Eine Arbeit, die nur als Manuskript existiert, vielleicht deshalb, weil sie nie abgeschlossen wurde. Aber er ist beileibe nicht der Einzige, der so dachte. Toma Kempijskyj schrieb in einem Brief an den Papst über die Gottesmutter: ‚Sie ist wie der Frühling, ewig jung, sie wird für gewöhnlich im Körper eines jugendlichen Mädchens wiedergeboren und stirbt ebenso im jugendlichen Alter, um immer wieder von neuem geboren zu werden. Gut und Böse stellen ihr nach, wollen sie vereinnahmen, doch sie entschlüpft jedes Mal, wie der Sonnenstrahl den haschenden Händen. So sah man sie in London, Liège und Salamanca, auch in München … Sie ist stets ein und dieselbe und zugleich immer eine andere.‘ In den alten Kulturen und Religionen entstand der vollendeste aller Gedanken: die Wiedergeburt der Seele. Phönix, das Symbol des natürlichen Lebenskosmos‘, der immer und ewig den Scheiterhaufen für die Selbstverbrennung bereitet, verbrennt und entsteigt seiner Asche mit einem neuen, jungen und unverbrauchten Leben – und vor allem als verjüngter Geist! Die Milch der Gottesmutter ermöglicht uns, wie der Phönix immer neu geboren zu werden, doch nicht so wie wir waren, sondern vollendeter, erleuchteter, erfüllt von neuen Aufgaben und Möglichkeiten. Jeanne d‘Arc war selbst die heilige Kataryna, die im ägyptischen Alexandria lebte und als Märtyrerin im Jahr 307 starb. Deshalb ziert stets Schwert und Rad ihre Abbildung auf den Ikonen. Sie war ebenso die heilige Margarita aus Antiochien, die als Märyterin im Jahr 305 in ihrer Heimatstadt umkam. In der christlichen Kunst wird sie als junges Mädchen dargestellt, die in der Hand ein Schwert in der Form eines Kreuzes hält. In späterer Zeit wird sie auf Ikonoen zunehmend zusammen mit der heiligen Kataryna dargestellt!

„Zwei Jahre nach dem Tod der heiligen Margarita wurde sie im Körper der heiligen Kataryna wiedergeboren?, wunderte sich Kurylas.

„Ja.“

Der Oberst geriet anscheinend in Ekstase.

„Aber Jeanne d‘Arc wurde doch verbrannt,“ entgegnete Kurylas behutsam.

 

 

 

 

Kapitel 14

Lemberg, Mail 1941. Beim NKWD trinkt man Kognak.

 

Wawryk lachte gutmütig, beugte sich vor und holte aus einer Schublade eine Kognakflasche und füllte zwei Gläser. „Hat er meinen Wunsch erraten?“ wunderte sich Kurylas und stürzte den Kognak mit einem Schluck herunter, ohne sein Aroma zu gustieren. Der Oberst schenkte nach und sagte: „Ihre Spezialisierung hat offensichtlich auch eine Kehrseite. Zwar wissen sie alles über die Kreuzzüge, doch nicht über den hundertjährigen Krieg. Die aktuelle Forschung geht davon aus, dass nicht Jeanne d’Arc verbrannt wurde, sondern eine Hexe, die sich für die Jungfrau von Orlean ausgab. Kein konnte wirklich sehen, wer da verbrannt wurde, da der Person ein Sack über den Kopf gestülpt worden war. Ich will nicht ins Detail gehen, sondern lediglich erwähnen, dass sich in den Archiven des Vatikans die Verhörprotokolle der Einwohner von Domremy-Landéville erhalten haben, wo Jean’ Arc angeblich geboren wurde. Diese sprechen einhellig davon, dass sie kein Bauernmädchen gewesen sei, sondern die Tochter von Isabella von Bayern und Ludwig von Orlean. Ihr königliches Blut bezeugt auch ihr Schild mit dem Wappen von Karl VII.“

„Ja, stimmt, ich hab auch gelesen, dass sich die Zeitgenossen wunderten, wie geschickt sie reiten und mit dem Speer umgehen konnte.“

„Das auch, ja. Doch am interessantesten ist doch, dass in den Aufzeichnungen der Inquisition nichts über ihre Hinrichtung gesagt wird. Die meisten Historiker gehen davon aus, dass sie vor der Hinrichtung quasi ausgetauscht wurde. Obwohl das für uns eigentlich unwesentlich ist. Sie wird ja immer wieder geboren. Sie opfert sich selbst und kommt wieder auf die Welt. Verstehen Sie?“

Der Oberst schenkte abermals Kognak nach und fragte blinzelnd: „Was halten Sie davon?“

Kurylas und stürzte den Kognak nicht mehr hinunter, sondern schmeckte ihn mit sichtlichen Vergnügen.

„Entschuldigen Sie, aber was sollte ich denn denkne?“

Der Oberst lachte.

„Ach gehen Sie. Wir sind in Galizien, da können Sie kein Atheist sein. Sie gehen zum Gottesdienst.“

„Nicht regelmäßig,“ wehrte sich Kurylas, der sein Verhältnis zum Opium für das Volk keinesfalls preisgeben wollte.

„Gut, das spielt keine Rolle. Ihr Kontakt zu Gott interessiert mich auch nicht. Mich interessiert vielmehr, was Sie von meinen Überlegungen halten.“

„Eine nette Legende. Vielleicht sogar mit dem Dionysos-Mythos verbunden, in der Antike existierte die Legende vom ewig jungen Dionysos. Danach wurde sie von den Kirchenvätern offensichtlich auf die Gottesmutter übertragen.“

„Genosse Professor, das ist keine Legende, und das ist ein Problem,“ der Oberst trommelte mit den Fingern auch die Tischplatte. „Wir befassen uns bereits mehrere Jahre damit. Ich selbst hab zahllose Quelle durchgesehen und viele verschiedene Zeugnisse über ihr Erscheinen in unterschiedlichen Epochen gefunden. Zugegeben, manchmal kann man nicht genau sagen, ist sie es oder ist sie es nicht. Doch zumeist, wie im Fall der Jean d’Arc bestehen keine Zweifel. Um es ihnen einfach zu machen: Wir suchen sie.“

Kurylas spürte, wie er vor Aufregung zu schwitzen begann, er seufzte, da er einsah, dass es keinen Sinn hatte zu widersprechen und er sich damit abfinden musste, diese Phantasterei geduldig bis zum Ende anzuhören.

„Gibt es denn Informationen, dass sie in unserer Zeit erschienen ist?“, fragte er vorsichtig.

„Ja. Sie ist zu allen Zeiten erschienen, und zusammen mit ihr auch dieser Ritter, der sie dort, unweit von Jerusalem, gerettet hatte. Sie schenkte ihm Unsterblichkeit.“

„Du lieber Gott!“, stöhnte Kurylas unhörbar. „Ist das hier wirklich der NKWD oder die Klapse? Träum ich vielleicht?“ Er fragte jedoch: „Olherd? Er ist der Unsterbliche?“

„Ja und nein! Er wird auch immer wiedergeboren, um der heiligen Jungfrau ein treuer Gefährte zu sein. Eine übernatürliche Kraft verbindet sie. Uns so finden sie auch zusammen, obwohl sie sich dessen nicht bewusst sind. Das passiert irgendwie instinktiv. Nicht wie bei Menschen, sondern eher wie bei Vögeln oder Schmetterlingen. Da gibt es übrigens ein interessantes Detail … Die Sache ist die, dass nicht nur der Ritter nicht weiß … oder wie kann man es besser sagen, dass nicht nur er keine Ahnung von der bedeutenden Mission hat, sondern auch die heilige Jungfrau. Verstehen Sie? Da ist die gewaltige Kraft des Instinkt am Werk, der den Vogel dazu zwingt zu fliegen, den Fisch zu schwimmen und die Schlange kriechen!“

„Was denn? Die Jungfrau weiß nicht, wer sie ist?“

„Sie weiß, dass sie etwas besonderes ist, dass sie sich von den anderen Menschen unterscheidet. Sie ist mutig, hat außergewöhnliche Fähigkeiten, zum Beispiel Überredungskunst, vielleicht auch Hypnose. Es gibt überlieferte Zeugnisse, dass sie hervorragend fechtet, schießt, reitet, sogar mehrere Angreifer mit bloßen Händen abwehrt. In den Erinnerungen an die berühmte mexikanische Dichterin Juana de Asbaje y Ramírez, bekannter als Ordensschwester Juana Inés de la Cruz, die 1695 starb, wird überliefert, dass einmal gelehrte Männer, die ihre Kenntnisse und Bildung herabwürdigen wollten, begann sie auszulachen, dass sie sozusagen weder mehrerer Sprachen mächtig sei, noch Astronomie und Historie kenne und selbst ihre Dichtung und Traktate seine wertlose Fiktion. Doch sie bewies ihnen das Gegenteil und machte sie lächerlich. Inés war eine Schönheit, die die Herzen vieler wohlgeborener Jünglinge entflammte. Und zwar so lange, bis sie dem Orden beitrat. Einer ihrer Feinde lauerte ihr auf, als sie einmal im Park unweit des Klosters spazieren ging. Er versuchte sie zu vergewaltigen. Es gelang ihm, die Nonne zu Boden zu werfen, doch da packte sie seine Hände und presste sie so fest zusammen, dass die Knochen splitterten. Die Hände wurden zu Fleischklumpen. Der Unglücksrabe erzählte danach immer wieder, dass ihn eine Nonne angegriffen und so verunstaltet habe, aber natürlich hat ihm keiner geglaubt.“

„Und wer ist dafür Gewährsmann?“

„Der große mexikanische Gelehrte Carlos de Sigüenza y Góngora, er ist 1700 gestorben. Im Handschriftenarchiv Codex Ixtlilxochitl entdeckte er Aufzeichnungen aus dem Jahr 1531, die eine Erscheinung der Gottesmutter huldigen. Er selbst widmete ihr eine Dichtung, in der er seine Überlegungen zur Dauerhaftigkeit der Gottesmutter entwickelt, über ihre faktisch fortwährende Präsenz, denn ihr wiederholtes Erscheinen und Verschwinden findet tatsächlich in kurzen Zeitintervallen statt. Sigüenza vertrat auch als Erster nachdrücklich die Ansicht, dass die Olmeken von Atlantis in die Neue Welt gekommen seien. Und jetzt aufgepasst! In jenem Archiv fand er noch eine uralte Handschrift, die die Reise der Indianer über den Ozean darstellt. Es gab auch Abbildungen von Schiffen und auf den Schiffen befanden sich Indianer. Und jetzt stellen Sie sich vor, auf dem ersten, vordersten Schiff, direkt am Bug steht ein Mädchen in einem langen Rock. Der Wind zerzaust ihre Haare. Und in Händen hält sie das Zeichen!“, der Oberst machte eine kurze Pause, damit Kurylas das eben Gehörte ordentlich verdauen konnte, da er bisher auf den Zügen des Gegenübers kein besonderes Interesse bemerkt hatte. Dessen Gesichtsausdruck war ruhig, in sich gekehrt. Der Oberst beugte sich in seinem Sessel nach vorne und sagte abschließend: „Was auf den Segeln abgebildet war, erzähle ich dann einmal später.“

Kurylas überlegte. Er verstand noch immer nicht, was der Tschekist eigentlich von ihm wollte.

„Sie erwähnten einen Ritter, der die Jungfrau begleitet,“ fragte er. „Was macht der eigentlich?“

„Alles Mögliche. Er kennt ja seine tatsächliche Bestimmung nicht. Und doch er gerät er immer wieder in bestimmte historische Ereignisse. Deshalb suchen wir auch ihn. Denn wo er ist, da befindet sich auch sie.“

„Was ist denn an der Jungfrau für den NKWD so interessant?“

„Nun schauen Sie, in jener Flasche befinden sich noch ungefähr fünfzig Gramm kristallisierte Milch. Das ist furchtbar wenig. Unsere Chemiker haben versucht die Zusammensetzung zu analysieren, aber es klappte nicht. Uns gelingt es einfach nicht, es künstlich herzustellen. Doch sollte es gelingen, könnten wir unsere Armee damit versorgen, und sei es nur in geringer Dosierung, wäre es ein gewaltiges Stimulus für unsere Soldaten. Sie wären unbesiegbar. Träumen Sie icht auch davon Professor, dass wir, die Bolschewiken die ganze Welt erobern?“

Kurylas nickte hastig.

„Ja-ja, natürlich ….“

„Na, da haben Sie den Grund. Ist er nicht erhaben?“, freute sich der Tschekist unverhohlen. „Und diese Milch heilt auch noch verschiedene Krankheiten und verlängert das Leben. Wir würden zu diesem Zwecke die nützlichsten Bürger des Staates auserwählen. Zum Beispiel solche wie Sie, Professor, und Milchrationen zuteilen, damit sie möglichst lange zum Wohl des Staates leben.“

„Das ist interessant … ja, wirklich. Und dabei soll die Muttergottes helfen?

„Ganz genau.“

„Und wie?“

„Sie haben es noch nicht erraten?“, lachte der Oberst. „Wann haben Frauen Milch?“

„Nun … bekanntermaßen … wenn sie gebären.“

„Oh, sehen Sie!“, freute sich der Oberst, und seine Augen glänzten begeistert. „Es reicht also, wenn die Gottesmutter gebärt, und wir werden so viel Milch haben, um den ganzen Planeten zu erobern. Ich muss Ihnen noch ein spannendes Detail anvertrauen. So wie Olherd Maria beschrieben hat, hat sie jeden Monat Milch. Das nennt man Scheinschwangerschaft. Schon mal davon gehört?

„Nein.“

„Aber natürlich, Sie leben ja im Elfenbeinturm ihrer Wissenschaft. Doch dieses Phänomen ist in der Medizin gut erforscht.“

Kurylas spürte beklemmende Verzweiflung. Er sah kein Licht am Ende des Tunnels, in den ihn das Gespräch mit dem Oberst geführt hatte. Zu beiden Seiten schwarze Wände, vorne ihm Dunkelheit, hinten ihm ein Abgrund. Was will man von ihm?

Als hätte der Oberst die schmerzhaften Gedanken erraten, sagte er: „Ich werde Ihnen gleich Dinge zeigen, von denen Sie wahrscheinlich noch nie gehört haben. Aber unterschreiben Sie zuerst.“

Damit schob er dem Professor ein Stück Papier hinüber, auf dem stand:

„ich, Name, Vorname, verpflichte mich, nicht davon, was ich hier hören und erfahren werde von den Mitarbeitern des NKWD, weiterzugeben. Datum, Unterschrift.“

„Ähhh …“, murmelte Kurylas bestürzt un drehte dabei den Kugelschreiber in seinen Fingern. „Die Unterschrift bezieht sich darauf, was ich bereits gehört habe?“

„Sicher, das ist eine reine Formalität,“ entgegnete der Oberst.

„Aha … gut … Es betrifft nicht das, was ich hören werde?“

Der Oberst machte eine erstaunte Mine.

„Wie, es betrifft es nicht? Natürlich betrifft es es.“

„Aber wenn ich die Erklärung unterschreibe, bevor Sie mir noch etwas mitteilen, dann wird es nur das betreffen, was ich bereits hörte und nicht was ich noch hören werde.“

Der Oberst betrachtete Kurylas aufmerksam und ernst, dann zog er ihm die Erklärung unter der Hand hervor und sagte resolut: „Gut, dann unterschreiben Sie es eben am Schluss.“