Kontext

Arkadij Ljubtschenko und sein Roman Wertep

„Wertep“ bezeichnet das Puppentheater aus der barocken Blütezeit der ukrainischen Kultur. Dieses spielt traditionell auf zwei Ebenen: einer weltlichen und einer sakralen. Autor Arkadij Ljubtschenko, der ‚Puppenspieler‘, Regisseur, Schöpfer, erklärt die Regeln und Mechanismen seines speziellen „Werteps“ im Eingangskapitel. So bilde bei ihm der Alltag die niedere Ebene, Abstraktes wie Harmonie in Kunst oder Natur, Kreativität oder Weisheit dagegen eine höhere Ebene. Beides fließt zusammen in einem sich bewegenden, wandelnden, vitalistischen Strom.

Der 1929 erschienene Roman von Arkadij Ljubtschenko zog meine Aufmerksamkeit aufgrund dieses Titels auf sich – hatte ich doch für das Projekt „Übersetzer*innenblick“ bereits den fast einhundert Jahre später erschienenen Roman „Wertep. #RomanÜberDenMajdan“ von Olena Sachartschenko besprochen und übersetzt.

In Ljubtschenkos Werk bilden die einzelnen Kapitel autarke und dennoch zusammenhängende Kurzgeschichten:

Ein Stadtbewohner steht am Zimmerfenster und beobachtet eine Beerdigung. Die trauernde Witwe bricht zusammen. In einem viel späteren Kapitel besucht diese Witwe zusammen mit einem Mann aus einem anderen Kapitel den Friedhof. Die beiden scheinen glücklich – ein optimistischer Ausblick: Das Leben geht weiter, die Frau von der Beerdigungsszene hat neues Glück gefunden. Die hier beschriebenen stillen, philosophischen Szenen muten an wie kinematographische Einstellungen. Gleichzeitig wird jedes Detail fokussiert.

Der Stadtbewohner nimmt sich vor, seinen Schreibtisch aufzuräumen, stößt dabei auf alte Notizhefte, blättert sie durch und hängt wehmütig Erinnerungen nach. Hier interessiert sich Ljubtschenko für die innere Welt seines Protagonisten, die er ganz unaufgeregt beschreibt.

Im Kapitel „Seance mit einem indischen Gastkünstler“ setzt sich der Autor mit buddhistischen Ideen auseinander. Zwei Dialogpartner vertreten unterschiedliche Auffassungen: Ist ein Nirwana ohne übertriebene Gefühle besser oder ein mit Freude durchsetztes Leiden? Ljubtschenkos Antwort – letzteres – ist typisch für die Romantik des Vitalismus.

Der urbanen Szenerie mit rhythmischen Melodien und Lebensfreude aus dem Kapitel „Der abendliche Tanz der Stadt“ steht eine sehr einfache, ornamental-expressionistische Handlung im Kapitel „Pantomime“ gegenüber: Ein Wintertag. Ein Mädchen spielt im Hof. Gleichzeitig ist die Psyche des Kindes der eigentliche Gegenstand.

Die Hymne an den Arbeiter (den Mann, der später mit der Witwe von der Beerdigung auf dem Friedhof erscheint) im Kapitel „Leichtathletik“ entwirft ein Bild im Stil des sozialistischen Realismus.

Im Schlusskapitel fasst ‚Puppenspieler‘ Ljubtschenko die Essenz seines Romans noch einmal zusammen und lässt den Vorhang fallen.

Melodramatisch fließen die verschiedenen Ebenen, Innen- und Außenraum, Mikro- und Makrowelt, ineinander – wieder eine fast filmische Veränderung von Bildwinkeln. So wird der Friedhof zum Korridor, der Himmel zur Bettdecke, gefallene Blätter oder Gras auf dem Friedhof stehen dem/der Leser*in als Mikrobilder plastisch vor Augen.

In „Solo einer ruhelosen Lyrik“ wird das Geschehen von außen nach innen fokussiert, von der Makro- zur Mikrowelt. In „Mystère profane“ richtet sich die Bewegung im Gegenteil aus einem Herzen voller Gefühle in die Unendlichkeit des Himmels. Unterstützt wird dieser Effekt durch bestimmte Blickwinkel, etwa vom Gras oder der Perspektive eines Insekts aus nach oben („… du betrittst eine schöne Halle, so hoch, so unglaublich groß, dass du dir zunächst wie ein unsichtbares Insekt vorkommst“) oder aus der Perspektive eines Vogels, der von Himmel und Sonne zur Erde hinunterblickt. Eine unsichtbare Brücke führt vom Zimmer des Erzählers ins Reich der Natur, etwa vom Schreibtisch mit den Notizbüchern zur „rauchblauen Decke“ des Himmels mit „unermesslichen violett-blauen Wänden“ und „gelbem Licht“.

Mykola Chwyljowyj [dem ein weiteres Porträt dieser Reihe gewidmet ist], Freund und Vorbild unseres Autors und eine Schlüsselfigur der ukrainischen Literaturlandschaft der 20er Jahre, nennt Ljubtschenko in seinem Artikel „Soziologisches Äquivalent zu drei kritischen Bewertungen“ von 1926 einen „anspruchsvollen, raffinierten Miniaturisten“. Mit kleinsten visuellen und akustischen Eindrücken weckt Ljubtschenko auch in „Wertep“ Emotionen Dabei erzählt er kaleidoskopartig und assoziativ.

In einer sehr bildhaften Sprache fasst Ljubtschenko komplexe Emotionen in Text. Impressionistisch und filigran zeichnet er die menschliche Seele und die Verbindung von Mensch und Natur in elf dynamischen Kurzgeschichten, die doch durch einen Untertext miteinander verbunden sind. Was stilistisch polyphon, bunt und chaotisch wirkt, als Geschichten in einer Geschichte, erfährt durch philosophische Ideen oder Elemente aus Musik, Malerei, Theater und Kino eine Synthese. Zur Synthese verbunden sind auch Lyrik, Farbkaleidoskope, Klangsymphonien. Scheinbar Unvereinbares wird in Ljubtschenkos „Wertep“ vereint: Das Sakrale und das Normale-Alltägliche, Licht und Dunkel. Der Autor präsentiert Brüche, verschiedene Blickwinkel, eine Unendlichkeit an Lösungen in Form einer Collage oder eines Mosaiks. So vermittelt er die Widersprüchlichkeit und Komplexität der Welt.

Jedes Kapitel ist ein Baustein im komplexen, intellektuellen Spiel. Neben dem Apfelbaum sind etwa Kreuze, Fenster oder Türen symbolhaft. Die Beschreibung der Psyche der Figuren hinterlassen bei den Leser*innen starke Eindrücke. Der Mensch wirkt einer höheren Macht (dem Puppenspieler) untergeordnet und der Lächerlichkeit preisgegeben.

Die einzelnen Kurzgeschichten repräsentieren abstrakte Konzepte wie Leben, Tod, Liebe, Kreativität, Jugend, Kraft, Weisheit, Schönheit. Stadt oder Steppe werden zu allegorischen Bildern. Der Apfelbaum etwa, der vor dem Fenster des Erzählers wächst und seinen Blick auf den Friedhof etwas einschränkt, symbolisiert Fruchtbarkeit, Freude, Liebe, Weisheit. Zyklisch vergehen Jahreszeiten und Lebenszeiten im Kreislauf Geburt, Leben, Tod, Auferstehung. Die namenlosen Charaktere – der Erzähler, eine Witwe, ein Totengräber, ein Mädchen, ein Arbeiter – verkörpern die ewigen Antinomien des menschlichen Geistes: Rationales und Irrationales. Neu ist in Ljubtschenkos „Puppenspiel“ vor allem die Psychologie und Philosophie. Die Charaktere zögern und leiden. Sie versuchen dem Bild des modernen Menschen, einer starken, selbstbestimmten Persönlichkeit zu entsprechen.

Jedes Kapitel hat auch eine bestimmte musikalische Stimmung und Struktur, einen „inneren Sound“. Teils finden sich auch Anklänge oder Motive ukrainischer Volkslieder oder klassischer Komponisten wie Antonio Vivaldi, Franz Schubert, Frédéric Chopin und Wolfgang Amadeus Mozart.

In der Verbindung von Stadt und Steppe, die der ’neue Mensch‘ verbindet erscheint die Idee von einer neuen Ära, vom Traum des ukrainischen Volks, die Komplexe des Provinzialismus, der von Russland zugeschriebenen bäuerlichen „Rückständigkeit“ zu überwinden und der europäischen Moderne anzugehören.

Die Prosa seiner fruchtbarsten Schaffensphase, der 1920er Jahre, kann als impressionistisch-neoromantisch und vitalistisch charakterisiert werden. Zudem galt er als talentierter Schauspieler und begabter Rezitator, wie Ostap Tarnawskyj etwa in seinen Erinnerungen „Literarisches Lwiw, 1939-1944“ schrieb. Er erlebte Ljubtschenko als lebhafte, temperamentvolle Person

Der am 7. März 1899 in einem Dorf im Bezirk Uman geborene Arkadij Ljubtschenko wurde als Soldat der Armee der Ukrainischen Volksrepublik 1920 von der Roten Armee gefangen genommen, aber aus unbekannten Gründen sofort wieder freigelassen. Ab 1921 diente er als Krankenpfleger und spielte in einer mobilen Theatergruppe der Roten Armee.

Nach dem Bürgerkrieg mischte sich Ljubtschenko aktiv ins literarische Leben von Charkiw, der damaligen Hauptstadt der ukrainischen Sowjetrepublik, und war unter anderem Mitgründer und Sekretär der Organisation VAPLITE. Seit dieser Zeit war er zudem ein treuer Begleiter von Mykola Chwyljowyj.

Die Mitglieder von VAPLITE waren in der Zeit der Literaturdiskussion von 1925-28 vom Kommunismus überzeugt, traten aber gleichzeitig für die Wiederbelebung und Selbstbestimmung der ukrainischen Nation ein. Viele der talentiertesten ukrainische Schriftsteller waren Mitglieder von VAPLITE. Sie vertraten verschiedene Stile und Kunstrichtungen, waren aber ideologisch vereint in der Leitidee der nationalen Selbstbestimmung entsprechend der Parolen der Oktoberrevolution. Die neue ukrainische Literatur sollte durch eine Hinwendung zu Westeuropa ein hohes Qualitätsniveau erlangen. Entschieden lehnte die Assoziation den masowism, also die Idee einer Partizipation der Massen in proletarischen Literaturorganisationen, ab.

Von Moskau wurde diese Haltung zunehmend kritisiert. Aufgrund stetiger Angriffe und Verfolgung war VAPLITE 1928 gezwungen, sich selbst aufzulösen. Die Mitglieder der Organisation setzten ihre Aktivitäten im Almanach „Literaraturnyj jarmarok“ (1928-1929) und der Organisation „Prolitfront“ fort. In den Jahren 1933-1934 wurden zahlreiche frühere Vaplitianer liquidiert, etwa Mykola Kulisch, Majk Johansen oder Oleksa Slisarenko; Mykola Chwyljowyj beging Selbstmord. Sie gehörten zu den ersten Opfern von Stalins Unterdrückung.

Auch Ljubtschenko sollte sich nun immer wieder mit Reuebriefen und Selbstkritik zu den offiziellen sowjetischen Richtlinien bekennen. Seine Vergangenheit bei VAPLITE lastet schwer auf ihm. Die Parteipresse kritisierte seine Werke scharf, da sie aus ihrer Sicht negative Seiten der sozialistischen Realtität – Ljubtschenko hatte Anfang der 1930er als Korrespondent eine Reise durch ukrainische Dörfer unternommen und selbst gesehen, was Kollektivierung und Hunger dort anrichteten -, Enttäuschungen der Revolution oder nationalistischen Bestrebungen zu viel Beachtung schenkten. Vielmehr sollte Ljubtschenko lobende Artikel über die Kollektivierung verfassen. Seine Werke aus den frühen 1930er Jahren gehörten zu den ersten über den Holodomor.

Zweimal wurde der Autor als Vertreter der ukrainischen Intelligenz verhaftet, doch beide Male schnell wieder freigelassen. Weshalb er kein Opfer der Repressionen wurde, bleibt ein Geheimnis.

Dennoch arrangierte er sich in den 30ern mit dem sozialistischen Alltag und wurde zu einem bedeutenden literarischen Funktionär der Sowjetukraine. Nur ein unvollendeter Roman über Bergarbeiter im Donbas mit dem geografischen Titel „Horliwka“ entstand in dieser Zeit. Ein Zeichen dafür, wie Ljubtschenko unter dem Kanon von Sozialistischem Realismus, der Zensur, den Verhaftungen und Ermordungen von Kolleg*innen und Freund*innen gelitten haben mag.

In Charkiw schrieb Ljubtschenko für die Zeitung „Nowa Ukrajina“. Als im zweiten Weltkrieg die nationalsozialistischen Truppen die Ukraine eroberten, begann Ljubtschenko ein Tagebuch zu führen, das erst posthum veröffentlicht wurde. Darin hofft der Autor auf Freiheit, Unabhängigkeit, eine wiedererstehende Nation, bis er erkennt, dass die Deutschen auf dem Weg zur unabhängigen Ukraine keine Hilfe sein werden, dass sie taub sind für die Idee einer selbständigen Nation. Das Tagebuch zeigt seine Suche, Fehleinschätzungen und Irrtümer, eine nationalistische, aber auch antibolschewistische und antisemitische Haltung, die ihn zur umstrittenen Figur macht. Seine Illusionen über die Deutschen wichen einer tiefen Enttäuschung und Krise.

Die Gestapo verhaftete Ljubtschenko vorübergehend wegen angeblicher Verbindungen zum Untergrund der OUN. Dennoch wich der Autor zusammen mit den Deutschen vor der Roten Armee zurück gen Westen, zunächst nach Kiew (1942), dann nach Lwiw (1943) und schließlich nach Deutschland (1944). Lange schon hatte er an Magengeschwüren gelitten. Im Februar 1945 starb er nach einer Operation in Bad Kissingen.

Ljubtschenkos Schaffen kann also in drei Phasen unterteilt werden: In der ersten, fruchtbarsten und kreativsten Schaffensphase, parallel zur ukrainischen – später erschossenen – Wiedergeburt in den 1920er Jahren, entstanden seine besten Werke, darunter „Via dolorosa“ oder „Wertep“. Seine ersten Prosasammlung „Stürmischer Weg“ wurde 1926 veröffentlicht. Seine frühsten Geschichten handelten vom Bürgerkrieg und waren von revolutionärer Romantik durchdrungen. In der VAPLITE-Periode suchte Ljubtschenko einen neuen Stil.

Die zweite Schaffensphase der 1930er entspricht den dunkelsten Jahren für die Ukraine. In dieser Zeit schrieb Ljubtschenko wenig, er versuchte sich mit seiner Situation zu arrangieren. Der Verlust der Freunde, Repressionen, Zensur, die Vorgaben des sozialistischen Realismus, der Zwang zur Zusammenarbeit mit dem Sowjetregime stürzten ihn in eine Krise.

Befreit von der Beobachtung durch die Sowjets konnte Ljubtschenko in seiner letzten Schaffensperiode, den 1940er Jahren, seine Archive organisieren und zuvor begonnene Arbeiten abschließen, das Tagebuch sowie Essays über frühere Mitstreiter schreiben.

Sein Leben war voller kreativer Höhen und tragischer Verluste. Zwar überlebte er den stalinistischen Terror, doch moralisch und künstlerisch war er zerstört. In der Sowjetunion wurden Autor und Werk verboten und verschwiegen und erst im November 1989 rehabilitiert. Erst seit den 1990ern wird Ljubtschenko wiederentdeckt und erforscht.

In all seiner Widersprüchlichkeit und Problematik reflektiert gerade Ljubtschenkos Leben und Werk die historische Situation der Ukraine, ihrer Zerrissenheit zwischen Sowjets und Nazis und ihrem Streben nach Eigenständigkeit. „Wertep“ ist dabei eine Momentaufnahme des kreativen Höhepunkts, von den Hoffnungen und Möglichkeiten der später erschossenen Wiedergeburt, von dem was da auflebte und sich entfaltete.