Das Leben und die Werke von Olha Kobyljanska (1863-1942) sind irgendwie zum Lebensthema für mich geworden. Alles fing mit dem Irrtum einer Bekannten an, die mir ein Werk von Kobyljanska empfahl, als ich nach einer anderen großen ukrainischen Dichterin, nämlich Lesja Ukrajinka (1871-1913), zu der es tatsächlich viele Verbindungen gibt, fragte. Der Irrtum löste sich ziemlich schnell auf aber ich war dankbar für ihn. Zwar wäre ich früher oder später bei meinen Lektüren zu Ukrajinka auch auf Kobyljanska gestoßen. So aber fiel sie mir quasi in den Schoß, als wollte sie sagen: „Hej, schau doch auch mal in meine Richtung! Ich bin in der ukrainischen Dichterverehrung vielleicht nicht ganz so präsent wie meine Freundin Lesja. Aber du hast da einen blinden Fleck und das ist ziemlich schade.“ Dass dieser blinde Fleck nicht nur ein Fleck, sondern ein ganzer Kosmos war, bekam ich erst nach und nach mit. Erst einmal las ich alles, was ich von ihr auftreiben konnte. Sie ließ mich nicht wieder los. Ihre Art zu schreiben sprach mich an. Da ist eine Nähe zum Geschehen, eine Unmittelbarkeit der Figuren sowie ihrer Gedanken- und Gefühlswelt, die das Ringen um ein Leben in Würde so greifbar machen. Kobyljanska spart das Scheitern, dessen Logik, Brutalität und Tragik, nicht aus. Es ist, als würde sie mit einer Kamera genau da hineingehen und es festhalten wollen, damit es nicht in Vergessenheit gerät, damit es sichtbar bleibt oder überhaupt erst einmal sichtbar wird. Es steckt eine ganz eigene, besondere Sinnlichkeit in Kobyljanskas Erzählstil. Wahrscheinlich ist dies ein Grund, bei weitem aber nicht der einzige, warum sie für den einen oder anderen ein enfant terrible in der ukrainischen Literatur darstellt(e).
Meine erste Annäherung an Kobyljanska erfolgte ausschließlich auf Ukrainisch. Ich las ihre Texte auf Ukrainisch und ich las ukrainische Sekundärliteratur. Ich nahm zur Kenntnis, dass sie in der Bukowina beheimatet war und ihre ersten Prosatexte auf Deutsch verfasst hatte. Mir fielen intertextuelle Bezüge und Anspielungen auf deutschsprachige Klassiker und auf deutschsprachige Zeitgenossen Kobyljanskas auf. Doch ich schenkte dem zunächst keine größere Beachtung. Ich folgte lieber den spannenden gendertheoretischen Untersuchungen ukrainischer Kulturwissenschaftlerinnen und lernte viel über die Debatten um den ukrainischen Nationaldiskurs. Darin spielen Frauen, Künstlerinnen, Schriftstellerinnen eine wichtige und innovative Rolle. Allerdings wurden sie nicht selten auf Randplätze verwiesen oder auf einzelne diskursive Bausteine reduziert. Bei Kobyljanska funktionierte das, wie die ukrainische Kulturwissenschaftlerin Solomija Pavlytschko um die Jahrtausendwende in ihrem viel diskutierten Buch Дискурс модернізму в історій української літератури (1999; Moderne als Diskurs in der ukrainischen Literaturgeschichte) aufzeigte, über die diskursive Verortung im absoluten räumlichen und kulturellen Abseits. Es ist nicht nur ein Blick von den kulturellen Zentren Kyjiw und Lwiw in die Peripherie. Kobyljanska wurde als „exotische Blume“ in der ukrainischen Literatur abgetan, weil sie „im Deutschen“ aufgewachsen sei1. Der einflussreiche galizische Schriftsteller und gesellschaftspolitische Akteur Ivan Franko (1858-1916) bezeichnete Kobyljanskas Heimat, die Bukowina, als „[…] Kulturgebiet, wo auf die örtliche rumänisch-ruthenische Barbarei manche vereinzelte Reiser der modernsten Denk- und Sprechweise gepfropft werden und ausnahmsweise recht originelle, selten gesunde Blüten und Früchte zeitigen. […].“2 Und als ob damit nicht genug wäre, hob die zeitgenössische Kritik vor allem ein Werk Kobyljanskas hervor – den Roman Земля (1901, Erde), in dem unter anderem die miserablen Verhältnisse, die Routinen und die Werte einer ukrainischen Dorfgemeinschaft innerhalb der habsburgisch kolonisierten Bukowina hinterfragt werden – und lieferte damit der sowjetideologischen Instrumentalisierung eine Steilvorlage. Während Земля kanonisiert wurde, fristeten anderee Werke Kobyljanskas in der Sowjetzeit ein Schattendasein. Der letzte große Roman Апостол черні (1926-1928, Der Pöbelapostel) war mit dem Vorwurf des Nationalismus verboten. Stattdessen schob man der schon stark von Alter und Krankheit gezeichneten Kobyljanska 1940-1941 Grußbotschaften unter, in denen sie vermeintlich die sowjetische Besetzung der Bukowina im Zuge des Hitler-Stalin-Paktes guthieß. Vor nicht allzu langer Zeit sagte mir ein ukrainischer Bekannter, er könne Kobyljanska eben wegen jener Grußbotschaften nicht schätzen. Dabei betonte Kobyljanskas Großneffe, der angesehene Chemiker Prof. Oleh Pantschuk, seit der ukrainischen Unabhängigkeit immer wieder öffentlich und mit kritischem Verständnis für die Angehörigen, dass die Familie von Repressionen und Schlimmerem bedroht war und sich deshalb nicht der falschen Grußbotschaften verwehrt hatte. Die Kobyljanska-Forscherin Jaroslawa Melnytschuk hat darüber hinaus die Texte mit anderen Schriften der Autorin verglichen und gravierende Unterschiede in der Sprachverwendung und Stilistik festgestellt.3
Obwohl ich sowohl von Kobyljanska als auch von der frauenbewegten ukrainischen Kulturwissenschaft nach der Unabhängigkeit begeistert war, stimmte etwas nicht. Es war meine erste Reise nach Tscherniwzi und meine erste Begegnung mit Oleh Pantschuk, die mir die Augen für weiterführende Zusammenhänge öffnete. Er sprach in einem so galanten, fließenden Deutsch mit österreichischem Tonfall, dass es einfach eine Freude war, ihm zuzuhören. Er gehörte zu jenen gesellschaftlichen Akteuren der Stadt Tscherniwzi, die sich nach der ukrainischen Unabhängigkeit für eine Besinnung auf die vielkulturelle Geschichte der Stadt mit dem einstigen Namen Czernowitz stark gemacht und eine rege Forschungstätigkeit zur historischen Beschaffenheit der Bukowina als Kulturlandschaft gefördert haben. Er ist übrigens in der Nacht zum 28. Februar 2022 verstorben und hat den erklärten russischen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine quasi mit ins Grab genommen. Er, der weltoffene österreichisch-rumänisch-sowjetisch-ukrainische Wissenschaftler starb in dem Bewusstsein, dass sein Land und seine Nationalität ausgelöscht werden sollen. Bei jenem ersten Gespräch mit Prof. Pantschuk fiel es mir wie Schuppen von den Augen, dass mit der Deutschheit Kobyljanskas aber auch mit dem imperialen Joch, gegen das sich laut sowjetischer Interpretation und teils auch postsowjetischer Lesarten ihr Roman Земля auflehnte, vor allem jene 144 Jahre habsburgische Kolonisationsgeschichte in der Bukowina von 1774 bis 1918 gemeint sind, die im deutschsprachigen Raum als politischer, gesellschaftlicher und kulturmissionarischer Erfolg rezipiert werden. Die Heimat Kobyljanskas ist auch die Heimat Rose Ausländers, Paul Celans, Georg Drozdowskis, Gregor von Rezzoris, Manes Sperbers und und und … Ich bin kein Fan des „kakanischen Zuckergusses“4, der das vielkulturelle Zusammenleben in der Region teilweise verklärt. Aber anders als das imperialistische Russland von heute, das jegliches Ukrainertum vernichten will, gewährte die Habsburgermonarchie den Ukrainer*innen in der Bukowina wie auch in Galizien Möglichkeiten der Selbstrepräsentation und der Institutionalisierung. Kobyljanska lebte den größten Teil ihres Lebens in eben dieser habsburgischen Bukowina und diese habsburgische Bukowina prägte ebenso wie bei all jenen Autor*innen aus der Bukowina, die im deutschsprachigen Raum mehr oder weniger bekannt geworden sind, ihr literarisches Schaffen sowie ihre narrativen und diskursiven Strategien.
Kobyljanska erzählt die habsburgische Bukowina aus einer ukrainischen Perspektive. Sie gibt dabei keine Bewertungshorizonte – wie zum Beispiel das sowjetische Narrativ vom imperialen Joch – vor, sondern ihre Figuren agieren innerhalb der gegebenen Bedingungen und reflektieren Ereignisse sowie Handlungen aus ihrer jeweils individuellen Lebensrealität heraus. Daraus entsteht ein Kaleidoskop von Lebensentwürfen, Überzeugungen, Lösungsansätzen aber eben auch Erfahrungen des Scheiterns, aus denen im Leseprozess ein vielschichtiges und ambivalentes Bild von Raum, Zeit und sozialer Interaktion entsteht. In dem bereits erwähnten Roman Земля zum Beispiel ist der Wehrdienst in der österreichisch-ungarischen Armee für den Protagonisten Mychajlo ein traumatisches Erlebnis, das in allen Einzelheiten und Missständen geschildert wird. Darin lässt sich durchaus Kritik an der imperialen Institution des Militärs und am Umgang mit Rekruten verschiedenster Muttersprache ausmachen. Es ist aber derselbe Mychajlo, der im Vorfeld als attraktiver, begabter und starker junger Bauer sowie gute Partie für die heiratsfähigen Töchter seines Dorfes eingeführt wird. Der Kontrast zwischen idealisiertem Bild als ukrainischer Bauer einerseits und schwächlich-hilflosem Rekruten andererseits rüttelt auch am Selbstbild einer Richtung des zeitgenössischen Nationaldiskurses, nämlich der Narodnyky (Volkstümler), die den Bauernstand als einzige authentische Repräsentation von Ukrainertum propagierten und daraus Paradigmen für Literatur und Kunst ableiteten. Kobyljanska folgte diesen Paradigmen nicht, sondern führte im Gegenteil neue Figurentypen und ästhetische Verfahren in die ukrainische Literatur ein. Nicht zuletzt schöpfte sie dabei aus ihren umfangreichen Lektüren deutschsprachiger, skandinavischer und französischer Literatur, die letzteren beiden über deutschsprachige Übersetzungen.
Ich kann nicht oft genug betonen, dass Kobyljanska nur vier Jahre zur Schule gehen konnte und sich danach weitestgehend autodidaktisch bildete. Zwar hatte sie über ihre Brüder einen gewissen Zugang zu schulischen und akademischen Materialien. Es fehlte jedoch die strukturierte Anleitung und Einübung von Fertigkeiten, wie sie (gute) Schule leistet. Ein kleiner Eindruck, was fehlender Unterricht für den Lernprozess und den Lernerfolg bedeutet, konnte ja im Kontext des Home-Schoolings während der pandemiebedingten Lockdowns gewonnen werden. Ich versuche immer wieder mir vorzustellen, was ich nach der vierten Klasse wusste und konnte. Definitiv nicht genug. Es zeugt von sehr viel Willenskraft, sich dennoch autodidaktisch mit all den Themen und Wissensbeständen ihrer Zeit auseinanderzusetzen. Der Bildungsnachteil Kobyljanskas wirkte auf verschiedenen Ebenen: Ihr fehlte die Schulung, was vermutlich vor allem in der schriftstellerischen Anfangsphase den Schreibprozess verlängerte. Diejenigen, zumeist männlichen Zeitgenossen, die eine vollständige Bildungslaufbahn absolvieren konnten, waren geübter im Umgang mit Texten und damit im Vorteil. Sie waren es in der Regel auch, die Standards postulierten und an deren Produkten die Qualität ihres eigenen Schreibens festgemacht wurde. Zudem erfolgte Kobyljanskas erster Schriftspracherwerb entsprechend des habsburgischen Bildungswesens in der Bukowina zuerst auf Deutsch. In ihrem Elternhaus wurde dagegen vor allem Ukrainisch und Polnisch gesprochen. Ukrainischunterricht erhielt sie nur wenige Monate. Dennoch entschied sie sich für das Ukrainische als Schreibsprache, auch wenn sie immer wieder auch auf das Deutsche zurückgriff. Sie übersetzte auch in beide Sprachen. Was für eine Leistung?! Und was für ein Beweis für die Bedeutung des Lesens fürs Lernen im Allgemeinen aber auch für den Spracherwerb! Mir erscheint die historische Bukowina insgesamt ein interessantes Forschungsfeld für Spracherwerbs- und Schriftspracherwerbsstudien zu sein.
Trotz meiner Begeisterung für Kobyljanska kann ich nicht leugnen, dass sich ihre Texte nicht so einfach lesen und erst recht nicht so einfach übersetzen lassen. Die Mehrsprachigkeit schlägt sich als Germanismen im Ukrainischen und als Slawismen in ihren deutschsprachigen Texten nieder. Manchmal sehe ich regelrecht den deutschen Satzbau in einem ukrainischen Text. Oder eine in den slawischen Sprachen übliche Struktur wie „Die Karpathen Bukowinas“5 in einem deutschsprachigen Text. Es gibt grammatikalische und syntagmatische Defekte. Wer die jeweils andere Sprache nicht kennt, mag davon irritiert oder gar abgestoßen sein. Ich finde es eher faszinierend, wie die Texte trotzdem funktionieren und auch Aufschluss über sprachliche Entwicklungs- und Verflechtungsprozesse in der vielkulturellen Bukowina geben. Es tut der Spannung keinen Abbruch.
Kobyljanska setzt die mündliche Rede ihrer zum Teil analphabetischen Protagonist*innen und die Ausdrucksweise ungeübter Schreiber*innen in Text um. Auch dies ist eine Form der Übersetzung, mit der sie den Menschen, die Ende 19., Anfang 20. Jahrhundert (noch) nicht an der literarischen und publizistischen Ideenzirkulation teilnehmen konnten, eine Stimme verlieh. So gesehen lässt sich ihr Werk auch als Writing back to Empire6 oder Dialogversuch interpretieren, insbesondere wenn im Hinterkopf die „Halb-Asien“7-Texte Karl Emil Franzos´ mitschwingen. Gerade in der gegenwärtigen Situation dieses perfiden russisch-imperialistischen Angriffskriegs auf die Ukraine und eines schwierigen, von kolonialen Reflexen begleiteten Umgangs des Westens mit ukrainischen Positionen sind wir alle dazu angehalten, uns eben mit diesen Positionen auseinanderzusetzen und den verschiedenen Stimmen zuzuhören. Es finden sich bei Kobyljanska, insbesondere in den Texten zum Ersten Weltkrieg, auch Bestätigungsdiskurse für die Habsburgermonarchie. Was ihre Werke für die heutige Auseinandersetzung mit der Ukraine einerseits und dem europäischen Kolonialismus andererseits so aufschlussreich macht, ist die Möglichkeit, Ereignisse aus einer anderen Perspektive oder aus verschiedenen Blinkwinkeln zu betrachten. Ein bemerkenswertes Beispiel hierfür ist die zuerst auf Deutsch verfasste Erzählung Eine Schlacht (1896), die die aus kolonialer Sicht gefeierte Erschließung und Abholzung der bukowinischen Karpaten aus der Perspektive des Waldes erzählt und damit zugleich eine frühe Kritik an Raubbau und Umweltzerstörung ist. Ein anderer Text, der mir besonders jetzt sehr nahe geht, ist die Erzählung Сниться (Ein böser Traum, 1917). Der Text setzt sich mit den Schrecken und Härten des Ersten Weltkriegs auseinander und steht im Geiste von Bertha von Suttners Antikriegs-Roman Die Waffen nieder (1889). Besonders beklemmend ist darin die szenische Trennung zwischen den Männern an der Front und den im Hinterland verbliebenen Frauen, Kindern und Alten. Subjekte werden zu Objekten, existenzielle Bedürfnisse stehen zunehmend über dem Zusammenhalt der ideellen Gemeinschaft(en), auch angesichts der Ungewissheit über die Rückkehr der Männer. Es ist, als betrachte der Text nicht nur die furchtbare Gegenwart des Ersten Weltkriegs, sondern schaue auch in die grausame Zukunft, in der ein Krieg mit der erklärten Absicht geführt wird, ein Volk, eine Gemeinschaft und deren Ideale auszulöschen.
Noch einmal zurück zur Umsetzung von Mündlichkeit in Schriftlichkeit bzw. zur Inszenierung von Texten ungeübter Schreiber*innen: Es entstehen dabei Verschachtelungen, Redundanzen, syntaktisch unsaubere Informationsketten, die im Prozess des Übersetzens in eine andere Sprache durchdrungen und dann aber auch wieder hergestellt werden müssen, ohne dass der Lesefluss und Lesegenuss beeinträchtigt wird. Der im Projekt übersetzte Textausschnitt ist beispielhaft dafür. Das Buch, aus dem er stammt, Апостоль черні (Der Pöbelapostel, 1926/28) ist der letzte große Roman Kobyljanskas und für mich ihr wichtigstes Werk. Wie bereits weiter oben erwähnt, war er in der Sowjetzeit verboten. Noch heute wird er in der Ukraine als Geheimtipp gehandelt. Erzählt wird über drei Generationen die Geschichte der ukrainischen Familie Zesarewytsch und der polnischen Familie Albinskij, einsetzend in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis hin zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Im Mittelpunkt stehen der junge Julian Zesarewytsch und seine Suche nach dem eigenen gesellschaftlichen und beruflichen Weg im Spannungsgefüge zwischen nationaler und imperialer Identität. Am Ende übernimmt er die Funktion eines Dolmetschers beim Militär, eines Vermittlers zwischen Menschen, Sprachen und Welten. Vielleicht war diese Rolle im Dazwischen auch Kobyljanskas eigene Antwort auf die immer wieder an sie herangetragene Frage nach Identität und Zugehörigkeit. Als „Bridging east and west“8 bezeichnet Yuliya Ladygina in ihrer gleichnamigen, 2019 herausgegeben Monographie zu Kobyljanska deren hybride Position, aus der heraus die Schriftstellerin Lebenswirklichkeit und Geschichte in der habsburgischen Bukowina erzählte und dabei moderne narrative Strategien erprobte. Im Ausschnitt geht es um eine individuelle Tragödie, die sich vor dem Hintergrund der habsburgischen Kolonisationsgeschichte in der Bukowina abspielt und diese miterzählt, sowohl in ihrem Glanz, als auch in ihren dunklen Facetten.
Im Untertitel von Ladyginas Monographie heißt es: „Ukraine´s Pioneering Modernist“. Kobyljanska war eine moderne Frau. Sie interessierte sich für zeitgenössische Diskurse, Entdeckungen und Entwicklungen sowie moderne Schreibstrategien. Sie lehnte die volkstümliche literarische Inszenierung von Ukrainer*innen ab und sprach sich stattdessen für eine Erweiterung möglicher Typen und Rollen, insbesondere mit Bezug auf weibliche Figuren, aus. Sie war in verschiedener Hinsicht eine Vorreiterin innerhalb der ukrainischen Literaturgeschichte. Die heutige Stadt Tscherniwzi besinnt sich aktuell auf vielerlei Weise ihrer habsburgischen Vergangenheit, ihr kulturelles Erbe und schöpft daraus Ideen für innovative Projekte in Gegenwart und Zukunft. Im Clip, der zu Olha Kobyljanska entstanden ist, scheinen die Stadt und ihre Bewohner*innen seltsam erstarrt in einer sowjetischen Blase. Durch die historischen Szenen bewegen sich Figuren, deren kantige, gramgezeichnete Gesichter und deren seltsam blasse Kleidung eben jenes imperialistische Joch repräsentieren, als das die sowjetische Propaganda die habsburgische Epoche Galiziens und der Bukowina über Jahrzehnte gezeichnet hat. Ich habe meinen Freund*innen und Kolleg*innen in Tscherniwzi den Clip gezeigt. Sie können sich damit nicht identifizieren und sagen, dass die künstlerische Ausgestaltung des Clips weder der Stadt noch Kobyljanska noch all den anderen berühmten Literat*innen und Künstler*innen dieser Stadt gerecht wird. Sie ist einfach nicht stimmig. Stimmigkeit ist ein Grundprinzip beim Übersetzen. Immer wieder muss überprüft werden, ob das, was man da schreibt, so auch stimmen kann. Das fängt bei Daten und Zahlen an, reicht über Handlungsabläufe und technische Hilfsmittel bis zu komplexen Frames, die ebenso komplexe Scenes evozieren. Stand, kniete, lehnte jemand an einer Mauer? Kam die Großmutter auf einem Panzer oder einem Tankwagen daher geritten? Handelt es sich bei dem Wort Strom um Elektrizität oder einen Fluss? Letzteres führte zu viel Gelächter, als meine Studierenden passende Bilder zum Osterspaziergang von Goethe finden sollten und jemand Fotos von einem vereisten Stromkabel mitbrachte. Das zweite Beispiel stammt aus einem Übersetzerworkshop, bei dem jemand etwas voreilig das deutsche Wort Tankwagen im Sinne von Fahrzeug mit Behälter(n) für Flüssigkeiten und Gase mit dem ukrainischen Wort танк für Panzer gleichsetzte. Im Clip stimmen die Bilder, wie oben bereits geschrieben, nicht. Das fängt schon mit der Karte an, auf der die Städtenamen an Frakturschrift erinnern, was in Gedanken an Czernowitz und das einstige Bevölkerungsgefüge der Bukowina und die ebenfalls unmenschliche Auslöschung einfach ein Unding ist. An eine Neuproduktion ist aus verschiedenen Gründen und insbesondere jetzt nicht zu denken. Aber wie können die Vorstellungen von Auftraggeberin und Künstler soweit auseinandergehen? Darüber ist es wert nachzudenken. Jenseits der stilistischen Vorlieben des Künstlers geht es um Bilder im Kopf, um Wissen sowie um Ideenzirkulation und innerukrainische (Nicht-)Mobilität. Wobei sich letzteres seit dem 24.2. gezwungenermaßen geändert hat, aber auch in den letzten Jahren davor zumindest zunahm. Dies ließ sich ganz gut an der wachsenden Zahlen an Reisebusen vor und Reisegruppen auf dem Gelände der ehemaligen Metropolitenresidenz von Czernowitz, dem heutigen Hauptgebäude der Juriy-Fedkowytsch-Universität Tscherniwzi beobachten. Der Künstler, der in Kyjiw wohnt, jedenfalls war nie in Tscherniwzi und hat sich zwar zur Vorbereitung auf die Arbeit mit Kobyljanska beschäftigt, aber vorrangig in den Bahnen, die volkstümliche und sowjetische Kanonisierung vorgaben und die vom Zentrum Kyjiw in Richtung Peripherie verlaufen. In der Auseinandersetzung mit dem eigenen kulturellen Erbe greifen ukrainische Kulturinstitutionen zum Teil durchaus noch auf sowjetisches Erbe zurück. So durfte ich 2013 einer Aufführung von Земля beiwohnen, die sich auf eine Inszenierung von 1953 stützte. Auch das wird sich wahrscheinlich im Zuge des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine ändern. Die schrittweise Loslösung von sowjetischen und postsowjetischen Routinen hat ja spätestens mit dem Euro-Majdan begonnen. Die Zugänge sind verschieden und in den ukrainischen Kulturwissenschaften finden seit den 1990er Jahren durchaus intensive Debatten zur Interpretation und Neuinterpretation der eigenen Klassiker*innen statt. Viel zu wenig spielt dabei aber immer noch eine Rolle, wie die Gesellschaften in den verschiedenen Regionen der Ukraine verfasst waren und in welchen sozialen, administrativen und politischen Rahmen sie funktionierten. Der innerukrainische Austausch und die schulische Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen historischen Gegebenheiten aber auch mit den Gemeinsamkeiten erscheint mir viel zu oberflächlich. Dabei gibt es sowohl klassische als auch aktuelle Literatur, die verschiedene Zugänge hierfür eröffnet. Es sind die eigenen blinden Flecken, die die Gesellschaft hoffentlich in einer bald friedlichen, souveränen und freien Ukraine diskutieren kann.
Was mir in dem Clip ebenfalls fehlt, ist die Sinnlichkeit, die ganze Intensität der Empfindungen und Wahrnehmungen, die in Kobyljanskas Werken zu spüren ist. Bricht der Künstler sie einfach auf die Sachlichkeit seiner Ästhetik herunter? Oder spielen sie in seiner Kobyljanska-Rezeption keine Rolle? Wir haben uns dazu nie ausgetauscht, denn er lebt sehr zurückgezogen … Trotz meiner Unzufriedenheit will ich die Erfahrung dieser Übersetzung von Text in bewegtes Bild aber nicht missen. Ich schaue jetzt ganz anders auf andere Produktionen, die nichts mit unserem Projekt zu tun haben. Mit je mehr Leichtigkeit so ein Clip, der Menschen auf verschiedenen Ebenen erreichen und abholen kann, daherkommt, um so mehr Arbeit scheint darin zu stecken. Arbeit, die sehr viel Können und Wissen erfordert. Schauen Sie sich den Clip unbedingt an. Vielleicht sehen Sie ganz andere Aspekte darin als ich. Vor allem aber merken Sie sich den Namen Olha Kobyljanska. Wie die renommierte Literaturwissenschaftlerin Tamara Hundorova in ihrer Monographie schreibt, „ziehen Kobyljanska und ihr Werk in regelmäßigen Abständen die Aufmerksamkeit von Wissenschaftler*innen und Kulturschaffenden auf sich“9. Manchmal auch in Bereichen, auf die man erst einmal gar nicht kommt. Anfang 2022 brachte zum Beispiel die Modedesignerin Elena Reva eine neue Kollektion heraus, zu der sie sich von Kobyljanska und ihren Werken inspirieren ließ10. Das wünsche ich Kobyljanska und ihren Werken: Dass sich Menschen von ihr inspirieren lassen. Zum Lesen, zum Entdecken, zum Weiterdenken. Es lohnt sich.
1 Ostap Terlec´kyj 1909. zitiert nach Oleh Babyškin: Ol´ha Kobyl´ans´ka. Narys pro zyttja i tvorčosti. Knyzkovo-zurnal´ne vydavnyctvo: L´viv, 1963. S. 32.
2 Ivan Franko: Brief Nr. 259 an Vatroslav Jagič, 8.XI.1905. In: Іван Франко, Зібрання творів у п’ятдесяти томах. Т. 50. Київ, Наукова думка: 1986, S. 279-281.
3 Ярослава Мельничук: На вечірному Прузі. Ольга Кобилянська в останній період творчості. Чернівці: Букрек, 2006. S. 87-102
4 Martin Pollack: Nach Czernowitz. In: Mythos Czernowitz. Eine Stadt im Spiegel ihrer Nationalitäten. Deutsches Kulturforum östliches Europa e.V. S. 1-13. Hier: S. 4.
5 Olga Kobylanska: Eine Schlacht. In: Olga Kobylanska: Valse melancolique. Ausgewählte Prosa. Hrsg. u. mit einem Nachwort versehen von Petro Rychlo. Tscherniwzi: Knyhy XXI, 2013. S. S. 43.
6 Begriff siehe Bill Ashcroft, Garath Griffiths, Helen Tiflin: The Empire writes back. Theory and Practice in Postcolonial Literatures. London: Routledge, 1989.
7 Karl Emil Franzos: Aus Halb-Asien. Culturbilder aus Galizien, der Bukowina, Südrußland und Rumänien. Leipzig: Duncker & Humblot, 1876.
8 Yulia Ladygina: Bridging East and West. Ol´ha Kobylians´ka, Ukraine´s Pioneering Modernist. University of Toronto Press. Toronto, Buffalo, London. 2019.
9 Tamara Hundorova: Femina melancoliqua. Стать і культура в гендерній утопії Ольги Кобилянської. Київ: Критика, 2002.
10 (zuletzt aufgerufen 10.06.22)