Bot‘ / Verrückt in Peru
[…] Jamie glotzte das ärmliche Holzkreuz an, das sich vom nächtlichen Himmel abhob und fühlte, wie ihn das bittere Gefühl einer Kränkung überflutete. Aufgebracht und ratlos stürmte der Pygmäe in die Kirche. Er fiel vor Müdigkeit fast um. Sein Kopf explodierte vor höllischem Schmerz. Ununterbrochen knurrte beleidigt sein Magen.
Die Kirche war leer. In einer entfernten Ecke, unter drei mit der Zeit verblassten Heiligenbildern, brannten einige Kerzen.
„DU!“ schrie der Kleinwüchsige und sprang zum geschnitzten Kruzifix, das über dem Altar hing. „Das ist alles Deine Schuld! Reicht es Dir nicht, dass du mich kleiner gemacht hast als einen Tischkühlschrank? Genügt es nicht, dass meine Glieder an übrig gebliebene, angenagte Hotdog-Würstchen erinnern? Jetzt verliere ich auch noch mein Dach über dem Kopf, meine Helfer und mein Geld! Warum hasst Du mich so?“ Jamie sprühte vor Zorn. Er holte tief Luft, strich widerwillig mit dem Finger über das hölzerne Gesicht und spuckte hervor: „Du fette hirnlose Robbe!“ Und dann verstummte er und lauschte aufmerksam. Nichts passierte. Irgendwo in weiter Ferne lärmte die Brandung, doch die Erde öffnete sich nicht und es kamen keine Blitze aus dem heiteren Himmel. Makake wurde mutiger.
„Was ist?“, schrie der Zwerg und warf theatralisch die Arme hoch. „Na, was willst du mir antun, ha? Du Schlappschwanz! Totale Null, hohle Nuss! Du bist bloß ein Wurm, der durch ganz zufällig unsterblich wurde.“ Jesus schwieg, den mit einer Dornenkrone bekränzten Kopf geneigt. Der Boss der Tocopilla-Mafia sprühte weiter.
„Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich mich schon vor zwanzig Jahren von Dir losgesagt! Du hast dich einfach über mich lustig gemacht“, fügte Makake wie betäubt hinzu. Er griff nach der Holzfigur, stemmte sich mit den Beinen gegen die Wand und begann an ihr zu reißen. „So, jetzt… jetzt werde ich Dich…“ Der Pygmäe war kaum größer als das Kruzifix. Er musste sich sehr anstrengen, bis es ihm gelang das Kreuz von der Wand zu reißen, mit dem er auf den Holzboden stürzte. Dann schluchzte der kleine Jamie hysterisch, erhob sich rasch und wollte gerade das tun, was er gewöhnlich mit Feinden machte, die am Boden lagen, nämlich das Kruzifix nass machen. Das war sein Markenzeichen: auf tote Gegner pissen. Blind vor Zorn stand Makake über dem Kreuz, knöpfte die Hose auf und schob sogar sein Würstchen heraus, doch… Man muss dazu sagen, dass Jamie einen sehr schlechten Zeitpunkt für die Klärung seiner Beziehung zum Herrn gewählt hatte.
Plötzlich erkannte der Zwerg, dass sich das Kruzifix ruckartig seitlich über den Boden bewegte. Er hielt seine Birne mit der Platzwunde und bemerkte, dass alle Gegenstände rundum – der Altar, die Ikonen, die geschnitzten Bänke, die Kerzenhalter – wie verrückt vibrierten. Ihre Umrisse verschwammen, zerflossen in der Dunkelheit. Wände und Boden pulsierten geräuschlos. (Der Pygmäe wusste nicht, was Infraschall ist, und da er gewöhnlich für Menschen unhörbar ist, kam er nicht darauf, dass Niederfrequenz-Schallwellen so eine Kraft entfalten können.) Eine unsichtbare Hand presste ihm die Kehle zu. Makake wurde schweißnass, als er die Anwesenheit einer Höheren Macht spürte und mit Entsetzen wurde ihm klar, dass er ausgespielt hatte.
Das Vibrieren war noch nicht zu Ende, als weit im Osten ein dumpfer, donnernder Ton entstand. Jamie schluckte und spürte, dass ihm die Sinne schwanden. Das Gepolter kam schneller näher, als der Zwerg zu denken vermochte. Innerhalb einer Sekunde wurde die Erde von einem Brüllen erschüttert. Die Kirche bebte und wurde wie Spielzeug umher geworfen. Die Fenster klirrten, von der Decke bröckelte der Stuck, die hölzernen Balken winselten jämmerlich, die Nägel traten aus den Schindeln. Das Heulen wurde stärker und drückte wie ein Schraubstock den Kopf des kleinen Mafioso zusammen. Es war, als ob der Herr die Geduld verloren hatte.
„A-a-a-a-ah!“, klagte Makake und machte direkt in die heruntergelassenen Hosen.
Einen Augenblick später erreichte das Brüllen seinen Höhepunkt. Die schwere Ton-Welle knallte wie eine unsichtbare Peitsche gegen die Kirche. Die Fensterscheiben flogen nicht einfach weg, sie entmaterialisierten sich mit einem dumpfen „Dzschuck!“. Die Bänke sprangen einen halben Meter in die Höhe und fielen neben der westlichen Wand herunter. Die Eingangstür wurde aus den Angeln gerissen. Sie flog bis zum Altar und erschlug fast den demoralisierten Jamie auf dem Boden.
Sein Selbsterhaltungstrieb drängte Makake auf die Straße hinaus. Während er etwas von Barmherzigkeit und Vergebung schrie, lief der Pygmäe wie angesengt aus der Kirche. Desorientiert sprang er auf den steinernen Strand und fiel neben dem Wasser hin, als er sich in seine heruntergelassenen Hosen verwickelte. Im Westen beruhigte sich der Krach und entfernte sich so schnell, wie er aufgetaucht war. Der kleine Mafioso kniete, wimmerte, drehte den Kopf zum Ozean und … fiel in Ohnmacht. Dieser Augenblick änderte sein ganzes Leben. Jamie blickte in das Antlitz Gottes. In der Finsternis über dem Ozean, genau über Makake, brannten wie ein Zeichen von väterlichem Tadel zwei riesige gelbglühende Augen. Sie brannten in ihm und folterten seine Seele, indem sie den ganzen Körper mit ehrfürchtigem Schaudern erfüllten… Der bedauerliche Zwerg wusste überhaupt nichts von dem, was sich tatsächlich in den letzten Monaten in der Atacama-Wüste ereignet hatte. Er ahnte nichts von der Existenz des „NGF-Labors“ oder von den Bots (obwohl er ihnen schon begegnet war). Folglich konnte Jamie auch nichts über den Anflug der amerikanischen Luftwaffe wissen. Nach der erfolgreichen Durchführung ihrer Operation stiegen die schwerfälligen B-2-Bomber sofort auf. Sie erhoben sich so hoch es ihre Technik zuließ. Das war ihre einzige Möglichkeit, sich vor dem Radar zu verbergen. Die unsichtbaren Zerstörer – vier F-22 – dagegen warfen im Tiefflug ihre Bomben über dem Ort ab. Einer der Raptors flog auf den Ozean hinaus genau über der Kirche, die er fast in seine Einzelteile zerlegt hatte und wo Makake gerade durchdrehte. Eben diese Glut sah der Pygmäe am nächtlichen Himmel.
Normalerweise hätte Jamie die feurigen Abgase aus den Turbinen gar nicht sehen können. Gewöhnlich sind sie bei der F-22 Raptor nicht sichtbar. Die Düsen haben vier rechteckigen Klappen mit einer Sonderlegierung. Von außen sichtbar sind die Triebwerksauslässe, die die Sichtbarkeit des Zerstörers auf den Infrarot-Spektrums mindern. Doch nahm das Flugzeug, nachdem es den Ozean erreicht hatte, an Höhe auf und hielt die Nase auf 30°. Die Turbinen richteten sich genau auf die Küste und die gelbglühenden Düsen „visierten“ Makake an. Die Düsen der F-22 sind nicht rund, sondern rechteckig. Diese Form verhindert ein Zittern der heißen Abgase in der Luft. Es ist nicht verwunderlich, dass der unglückselige Mafioso sie als vom gerechten Zorn Gottes gerötete Augen wahrnahm.
Als es die richtige Höhe für den Cruising-Modus erreicht hatte, trimmte der F-22-Pilot das Kampfflugzeug vertikal. Die rotglühenden Augen verschwanden. Trotzdem genügte das, um Jamie zum zweiten Mal an diesem Abend zu schockieren. Zwanzig Minuten, nachdem der Raptor den chilenischen Luftraum verlassen hatte und sich das dumpfe, bauchige Brüllen aufgelöst hatte, schlug er sich in der Dunkelheit den Kopf an den Ufersteinen auf und schrie atemlos:
„Ich verstehe, Herr! Töte mich nicht! Töte mich nicht! Ich werde es nie wieder tun! Vergib mir, du Mistkerl! Ich werde es nie-ie-ie-ie wieder tun!“
Da machten sich Generationen inbrünstiger Katholiken bemerkbar.
CXXV
Dienstag, 1. September, 01:34 (UTC-4)
Atacama-Wüste
„Es riecht verbrannt, merkst du das?“
Tymur zog mehrmals wie ein Hund Luft durch die Nase:
„Ein bisschen. Unser Motor überhitzt doch manchmal?“
„Nicht doch. Es stinkt, als ob er nicht einfach überhitzt sei, sondern in der Hölle brennt.“
Tymur ließ auf seiner Seite das Fenster herunter. Der scharfe Geruch im Auto verstärkte sich. Aus der Motorhaube drang kein verdächtiges Geräusch.
„Eindeutig, da brennt irgendwo etwas“, stimmte der Ukrainer zu, „und das brennt so richtig.“
„Was ist das?“, Headhunter war eher verwundert als beunruhigt. „Hier gibt es nicht einmal etwas, das glühen könnte, nur Sand und Felsen.“
Tymur zog zweimal die Schultern hoch und gähnte. Der Junge begann müde zu werden, wie ein Kamel nach einer zweiwöchigen Sahara-Durchquerung. Er war nur noch einen Schritt davon entfernt, vor Müdigkeit tot umzufallen. Das Bewusstsein, dass alles zu Ende war – endgültig zu Ende war – verstärkte das Gefühl der Entkräftung. Anspannung hält den Körper in einem ungesunden Tonus. Doch jetzt wurde er schwach und weich. Der Junge hielt sich den Mund zu und schaute dabei, wie zwischen den Hügeln, zu denen Rino den Toyota lenkte, etwas Rotes leuchtete. Etwas sehr viel Helleres als Scheinwerfer an den Wänden des Labors. Das Leuchten dauerte nicht länger als zwei Sekunden, bevor es hinter kalkigen Vorsprüngen verschwand.
„Hast du das gesehen?“, fragte der Programmierer und wischte sich die Augen.
„Was?“
„Gerade hat etwas aufgeleuchtet.“
„Das war vielleicht Licht aus dem Ingenieurskomplex. Wir sind gerade auf dessen Höhe.“
Der Junge schaute weiter hin. Der Himmel schien im Süden etwas heller als sonst. Als ob der Morgenstern dort leuchtete. Wobei, zum Teufel, was ist das für ein Stern im Süden und schon gar um halb zwei Uhr nachts?!
Der Pickup arbeitete sich gerade den Hügel hoch, als Rino und Tymur gleichzeitig die Brandstelle sahen. Der ganze Landstrich flimmerte rot in der Ferne. Je näher sie heranfuhren, desto größer wurde er.
„Wo kommt das her?…“, fragte Headhunter und riss die Augen auf. Es gab kein Feuer. Dafür bewegten sich die rot-schwarzen Aschenhaufen als seien sie lebendig. Die Nachtluft darüber flimmerte vor Hitze.
Tymur schwieg und dachte bedrückt darüber nach, welche neue Tücke die Atacama für ihn bereit hielt.
„Ich weiß, dass das…“, plötzlich flüsterte der Programmierer. Der Brandgeruch wurde langsam unerträglich. In ihn mischte sich ein saurer metallischer Geschmack, wie er durch das Verbrennen von gekörntem Aluminium entsteht, das man für die Herstellung von Tritonal braucht. Von den Explosionen durch die amerikanischen Bomben. Der Junge hustete ein wenig.
„Was?“
„Hier ist ein Flugzeug abgestürzt. Riech mal: etwas Saures liegt in der Luft. Ich glaube, das ist Kerosin.“ Rino klopfte zornig mit der Handfläche aufs Lenkrad.
„Fucking hell! Das hat uns noch gefehlt“, sagte der hoch aufgeschossene Mann und lenkte nach rechts, um die Brandstelle zu umrunden.
„Ich habe etwas ähnlich in ‚Air Crash Investigation‘ gesehen“, plapperte Tymur, hob den Hintern vom Sitz und drehte den Kopf nach links, „das ist eine Sendung auf ‚National Geographic‘ über Flugzeugunglücke…“ „Steig ein! Halt die Klappe!“ bellte Rino. „Wir müssen schnell zum Labor. Wenn du recht hast, werden in weniger als einer Stunde Rettungskräfte hier eintreffen.“ „Etwas Riesiges ist heruntergefallen.“ Tymur hörte ihn nicht. „Eine Boeing 777 oder ein Airbus A 340. Schau nur das Ausmaß an verbrannter Erde! Ich kann es nicht glauben… Rino, diese Wüste ist verflucht!“ Der Toyota Tundra hüpfte über den unebenen Boden und fuhr flink um das herum, was Tymur für den Ort einer Flugzeugkatastrophe hielt.
„Ich finde den Weg nicht“, Headhunter war verwirrt. Nach zahlreichen Expeditionen in die Wüste hatte sich auf der nördlichen Seite des Komplexes eine gute, ebene Fahrspur gebildet. Rino beschrieb eine acht und bemühte sich diese Spur zu finden „Wir könnten übrigens schon angekommen sein“, sagte Tymur und schaute auf die Uhr im Amaturenbrett. „Und ich sehe bisher nicht einmal die Signallampen.“ „Was zum Teufel ist hier los? Hier sind keine Wege“, empörte sich der grobe Klotz.
„Willst du sagen, dass wir uns verfahren haben? Also, ich verstehe ja, es ist dunkel, aber trotzdem…“ Plötzlich wurde das Rascheln unter den Rädern gleichmäßig, klang anders, und im hellen Scheinwerferlicht tauchte eine komplett weiße Ebene auf. Obwohl es Nacht war, erkannten Tymur und Rino die Landschaft. Sie hatten sie x-Mal aus den Fenstern ihrer Schlafzimmer gesehen.
„Die Salzwüste?!“, schrien die Männer gleichzeitig auf.
Der Jeep fuhr auf die Salzwüste hinaus, die direkt hinter den Labors begonnen hatte.
Headhunter hielt das Auto an und kratze sich lange verwirrt den ungewaschenen Kopf.
„Heilige Scheiße,“ schimpfte Rino halblaut und fuhr allmählich über den ganzen Korpus zurück. „Das ist doch.. ist d…“ „Das… ist unser… Labor…“, presste Tymur hervor und betonte dabei jedes einzelne Wort. Er schaute in die gleiche Richtung. Dort, wo vor zwei Stunden noch die hintere Wand des Schlaf-Flügels gestanden hatte, war jetzt schwarzer Nachthimmel, schwach beleuchtet von der Glut.
Als sich der Riese umdrehte, erkannte auch er die frühere Lage ihres Wohnkorpus und legte seine Hände aufs Lenkrad:
„Wo ist es hin …“ Rino bemühte sich das passende Wort zu finden, was aber nicht gelang. In seinem Kopf drehten sich Verben, die nicht zum Kompositum „Betongebäude“ passten (geflogen?… geschmolzen?.. verbrannt?..). „Wohin ist es…äh… verschwunden?“
Aus: Maxym Kidruk „Bot‘“. Kiew 2012, S. 436-442
übersetzt aus dem Ukrainischen von Jutta Lindekugel
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„Hier bei uns wohnte vor einigen Jahren ein Einfaltspinsel,“ sagte Ciro und winkte, um zu zeigen, dass es sich um eine sehr lange Geschichte handelte. Aber er stockte nicht und fuhr mit der Erzählung fort: „Ein schrecklich unschlüssiger Mensch war das: total verrückt nach Schatzsuche. Ständig fragte er alle nach Gold und Diamanten, als ob die irgendwo in der Wüste vergraben wären. Es kam vor, dass ihn jemand anschmierte, bis ihm der Speichel aus dem Mund tropfte wie bei einem tollwütigen Hund, und ihm die Augen aus den Höhlen traten und in verschiedene Richtungen kreisten wie bei einem Gecko. Sogar die Erinnerung daran ist haarsträubend! Und um Gottes willen, Seniores, durfte ihm niemand widersprechen oder im Weg stehen, sonst stürzte er sich mit den Fäusten auf ihn. Kurz gesagt, der Junge war naiv. Er hatte auch einen entsprechenden Spitznamen: ‚Besessener Bill‘.“
„‘Besessener Bill‘?“ hakte ich nach. „Dann war er Amerikaner?“
„Ganz und gar nicht, Söhnchen,“ erwiderte unser Gast und machte es sich auf dem Sandboden auf dieser Seite des Lagerfeuers bequem. Es war offensichtlich, dass der Alte es liebte, sich einen Spaß zu machen. „Bill war so viel Amerikaner, wie ich Äthiopier bin. Seinen wahren Namen kannte keiner, doch er war peruanischer Abstammung, wenn auch mit einer Beimischung von indianischem Blut: Man sagte, dass Bills Oma mit irgendeinem fernen Amazonenstamm in dieses Land eingewandert war. Aber ‚Besessener Bill‘ taufte ihn sein Kompagnon, mit dem zusammen er Gold suchte. Der wiederum war ein hundertprozentiger Ami: glatzköpfig, hager und dreist. Er war als Jack Bobson bekannt. Obwohl ihn bei uns alle wegen seiner unwahrscheinlich knochigen und langen Nase heimlich ‚Ratte‘ nannten.
Hinter mir erklang ein leises „w-w-w-tschik“ vom Reißverschluss des Zelts: Marusja war von der Unterhaltung aufgewacht und kam heraus zum Lagerfeuer. Einige Sekunden lang trat das Mädchen von einem Bein aufs andere, als überlege sie, ob sie sich zu uns setzen solle. Doch dann ließ sie sich beim Feuer in die Hocke sinken, während sie verschämt die vom Liebesspiel zerzausten Locken ordnete. Tjomyk rückte näher und umarmte sie.
„Um die Wahrheit zu sagen“, fuhr Ciro fort, während er nach der Blondine schielte, „war Bobson an dem, was ihm und ‚Besessener Bill‘ passierte, selbst schuld. Man konnte Bill kaum einen normalen Jungen nennen. Ständig machte er irgendwelchen Blödsinn. Doch zu ernsthaften Problemen kam es nicht ein einziges Mal. Bis der Amerikaner bei uns erschien, hatte das Halbblut noch nicht einmal an einen Schatz gedacht. Man nannte ihn den Jungen mit den Hirngespinsten, aber er war nicht gewalttätig. Und dann führten eines Tages Teufel den langschnäbligen Bob Jackson zu uns … oder wie er auch immer heißt? Besser gesagt, die ‚Ratte‘. Er kam mit dem letzten Abendbus aus Ica, schlurfte zerknittert und hungrig durch den Staub, stürzte in die nächste Kneipe und erklärte noch auf der Schwelle, dass er Gold suche. Die Einheimischen interessierten sich anfangs sehr für ihn. Sie dachten, er sei ein studierter Geologe, der bisher unentdeckte Adern des wertvollen Metalls in der Wüste wittern konnte. Doch bald stellte sich heraus, dass Jack Bobson überhaupt kein Geologe war, sondern ein gewöhnlicher Schwindler, denn er sprach nicht von natürlichen Goldvorkommen, sondern von Schätzen, die irgendwo mitten in der Wüste vergraben seien. Das war die fixe Idee von jenem Ami: zu Orten fahren, an denen sich uralte Reichtümer verbergen könnten. Es gab Gerüchte, dass er mal eine ecuadorianische Frau gehabt hatte und das hätte gewissermaßen alles erklärt, denn es ist allgemein bekannt, dass alle Ecuadorianer verrückt sind nach Schätzen. Vielleicht hatte sie ihm die Geschichten über unzählige Reichtümer eingeredet, die die Inkas, Konquistadoren und Piraten während vergangener Jahrhunderte in unserer Gegend versteckt hätten. Nach eineinhalb Monaten näherte sich die ‚Ratte‘ Bill immer mehr an (dieser Dummkopf war der Einzige, der noch an das Gefasel der fremden amerikanischen Langnase glaubte), und zu zweit machten sie sich daran auf Schatzsuche die Umgebung zu durchwühlen. Von da an veränderte sich der arme Tropf ‚Besessener Bill‘ allmählich. Und zwar zum Schlechten.
Tjomyk unterbrach die Erzählung des Alten: „Aber warum nannte die ‚Ratte‘ das Halbblut ‚Besessener Bill‘?“
„Warum Bill, weiß ich nicht genau,“ gab Ciro ehrlich zu, „aber ,Besessener, wegen der unnatürlichen Begabung für Erdarbeiten. Der arme Teufel schaufelte und wühlte wie verrückt, besser als ein Exkavator: pro Tag bewegte er zehn Kubikmeter Erde und zerbrach drei-vier Schaufeln. Sogar Bulldozer beneideten ihn. Und alles wegen dieser Märchen von den vielen Reichtümern, die die ‚Ratte‘ erzählte.
Ich brummte zustimmend und tippte mir an die Stirn, um einen Vogel zu zeigen. Tjomyk seufzte aus unbekanntem Grund. Und der Peruaner verkündete während dessen weiter:
„Obwohl ‚Besessener Bill‘ wie schon gesagt nicht immer so ein Schwachkopf war. Erst nachdem dieser verfluchte Ami Bob Jackson behauptete, dass bei Pepito Natanael im Garten Piratengold vergraben sei, begannen bei ihm die Anfälle und die Vernebelung seines Verstands.“
„Und woher wusste er, wo das Gold liegt? Hat er eine Wünschelrute benutzt oder hatte er vielleicht irgendwelche Karten?“ rutschte es mir wider Willen heraus (na, ich kann mich eben nicht zurückhalten, wenn jemand davon erzählt, wie man schnell reich werden könnte!), doch biss ich mir sogleich auf die Lippen und besserte blitzschnell nach: „Finde ich einfach interessant… so ganz allgemein.“
Der Peruaner verstummte augenblicklich und betrachtete mich skeptisch. Einige Zeit schnaufte er konzentriert. Sicher überlegte er, ob wir auf seiner Seite waren. Doch schließlich beschloss er, sich nicht stören zu lassen und nahm die Erzählung wieder auf:
„Jack Bobson quatschte nicht groß darüber. Soviel ich weiß, verwendete der Amerikaner jedes Mal eine andere Methode: Mal nahm der die Wünschelrute, aber es kam gemäß Bill auch vor, dass sie irgendeinem streunenden Hund einen Feuerwerkskörper hinten reinsteckten, anzündeten und dann schauten, wo er hinrannte. Da, wo er hinfiel, musste Gold vergraben sein. Auf diese Weise fanden sie das.“
„Hören Sie, Ciro, funktioniert das… naja… wirklich?“, fragte ich leise, da ich es nicht schaffte, meine Neugier zu bändigen.
„Ich weiß nicht, ob es funktioniert, aber dank diesem Ritual gruben sich diese Mistkerle im Laufe eines Jahres durch einige Hektar Erde im Umkreis. Und niemand hätte sie angerührt, wenn sie – verflucht nochmal ! – nur in der Wüste gegraben hätten. Aber es zog sie dauernd auf die Felder der Farmer oder in die Gärten neben den Höfen. Bei uns in der Wüste stehen kaum Bäume, aber die zwei Esel mit ihren Mäusehirnen hackten, fällten und rissen alles heraus, was sie in die Finger bekommen konnten. Langer Rede kurzer Sinn: Man mochte sie bei uns nicht. Besonders die ‚Ratte‘ Bob Jackson… So kam es, dass eines Tages zu Frühlingsbeginn die ‚Ratte‘ in ‚Besessener Bills‘ Verschlag stürmte und wie ein Verrückter schrie, dass er dieses Mal wirklich auf einen Schatz gestoßen sei. Eine Prophezeiung aus Hundeinnereien habe ihm gezeigt, dass unter den Feldern des stupsnasigen Natanael Reichtümer versteckt seien. Für Bill waren weitere Beweise nicht nötig, und deshalb gingen er und Jack Bobson in jener Nacht zusammen in Pepitos Garten.“
Das Lagerfeuer verlöschte allmählich, Dunkelheit umfing uns, aber niemand dachte daran, Holz nachzulegen, so sehr waren wir von der Erzählung unseres nächtlichen Gasts gepackt. Ciro holte Atem und fing wieder an:
„Ehrlich gesagt, aus Pepito wird nie ein guter Farmer werden. Er weiß nicht, wann es Zeit ist, zu säen oder die Ernte einzubringen, ganz zu schweigen vom Überwachen des Wachstums seiner Pflanzen. Im vergangenen Frühling ist ihm wohl etwas auf den Kopf gefallen, denn der Mann erinnerte sich an die Saatzeit. Einen ganzen Tag lang kam er nicht aus seinem Acker heraus, jätete alles Unkraut und setzte dann auf dem ganzen Feld Kartoffeln. Er war unheimlich stolz. Die ganze Woche erzählte er das im Dorf herum. Da wusste er noch nicht, dass sich der Hund Bobson in seinen Garten verlaufen hatte. Hätte er das gewusst, hätte er vielleicht ein-zwei Tage mit dem Pflanzen gewartet, aber so…“
„Vielleicht möchtet ihr unserem Gast auch Tee anbieten,“ flüsterte Marusja auf Ukrainisch.
„Das braucht’s nicht,“ entgegnete ich trocken und schnitt ihr das Wort ab, denn ich dachte daran, wie grob sich Ciro Espiridallon auf unser Lager gestürzt hatte. „Niemand hat ihn hierher gebeten.“
„Seid still!“, rief Tjomyk dazwischen. „Er soll weiter erzählen.“
Von unserem Wortwechsel aus dem Konzept gebracht, schwieg der Peruaner ein oder zwei Minuten lang. Schließlich nahm der Wunsch, zu Ende zu erzählen, überhand und der Alte begann mit einem Husten wieder zu sprechen:
„Kurzum, die ‚Ratte‘ und ‚Besessener Bill‘ haben auch so keine Schätze gefunden, dafür aber noch bis Mitternacht die ganzen Kartoffeln von Natanael wieder ausgegraben. Und sie auf einen Haufen neben das Gebäude geworfen, damit sie ihnen nicht im Weg lagen. Alles wäre noch glimpflich abgegangen, wäre Pepito nicht einige Minuten vor Mitternacht zum Pinkeln raus gegangen. Der Mann hatte kaum die Hose aufgeknöpft, als er bemerkte, dass sich direkt vor ihm eine Pyramide aus den Kartoffeln erhob, die er drei Tage lang sorgfältig in die Erde gesteckt hatte. Auch wenn Pepito ein Hornochse war, wusste er sofort, dass Erdäpfel nicht von alleine aus der Erde krabbeln. Er nahm eine Lampe in die Hand und begann damit über den Acker zu leuchten. Und dort fand er Grube an Grube vor und dazwischen große Haufen frisch aufgeworfener Erde und Sand. Das sah aus, als hätten amerikanische Bomber angegriffen.
Zuerst erstarrte der Mann ehrfürchtig vor dem, was er für ein außergewöhnliches Naturphänomen hielt. Doch dann bemerkte er, dass in der Mitte des Gartens in einem der Löcher zwei Paar erschrockene Augen glänzten. Der furchtlose Farmer ging zur Grube und fragte mit höflichem Interesse, während er gleichzeitig die ‚Ratte‘ und Bill mit der Lampe blendete: „Was ist das für eine Scheiße, häh?! Ihr nichtsnutzigen Schafsköpfe! Aus welchem tollen Anlass habt ihr in meinem Garten eine solche Schweinerei veranstaltet?!“
Da seufzte Ciro und fuhr fort:
„Pepito ist im Allgemeinen kein Schwätzer. Normalerweise kriegst du kein Wort aus ihm heraus. Früher sang er immerhin im Kirchenchor, bis er sich eines Tages mit dem Popen aus dem Nachbardorf in der Kneipe geprügelt hat. Seither verkehrt Pepito ohne Vermittler mit Gott. Aber in der Regel schweigt der Junge. Wenn er dann aber schon mal anfängt zu reden, dann kann man sich jedenfalls auf ein Unheil gefasst machen. Er schlägt einem direkt und kräftig auf die Rübe… Bob Jackson, war cleverer und merkte sofort, dass sich jetzt was Übles kommt, sprang aus der Grube und rannte ins Gebüsch. ‚Besessener Bill‘ dagegen blieb und beschloss wohl, dass er beichten musste, denn er erklärte ohne Umschweife: „Wir sind in deinem Garten, Pepito, weil wir Schätze suchen.“ Nun, war ja klar, dass Pepito sauer war, weil sie ihn nicht haben mitmachen lassen. Er nahm Bill die Schaufel weg und schlug dem Jungen damit mehrmals auf den Kopf. Wisst ihr, Pepito ist ein Meister darin, jemandem mit etwas Schwerem aufs Hirn zu schlagen. Das macht dem Bauern bei uns keiner nach… Nach diesem Zwischenfall erst hatte ‚Besessener Bill‘ komplett eine Schraube locker. So wurde der Mann wegen Schätzen verrückt…“
Damit beendete Ciro seine Erzählung. Allerdings hing etwas Unausgesprochenes schwer in der Luft. Ich erinnerte mich nur schwach an den Anfang des Gesprächs, aber ich war mir sicher, dass die Geschichte anfangs nicht davon handelte, wie ‚Besessener Bill‘ den Verstand total verloren hatte.
Ich dachte eine ganze Weile darüber nach. Als das Lagerfeuer aufloderte, fragte ich schließlich:
„Und wissen Sie, wo sich ‚Besessener Bill‘ heute rumtreibt?“
„Seit kurzem in einer besseren Welt. Doch das ist eine andere Geschichte, Söhnchen…“ erwiderte der Peruaner ausweichend.
Aus: Maxym Kidruk „Verrückt in Peru“. Charkiw 2011, S. 178-183
übersetzt aus dem Ukrainischen von Jutta Lindekugel
Über das Buch
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- http://www.ukrinform.ua/ukr/news/pershiy_ukraiinskiy_tehnotriler_bot_prezentuvali_u_kie_vi_1758374
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