Ein letzter K.o.-Schlag
Wenn ihn jemand gefragt hätte, wer er eigentlich sei, hätte Walerij Semenowytsch Bruchanda kaum gewusst, was er sagen soll.
Bruchanda hatte keine Freunde. Bis auf den alten, von Krankheiten geplagten Opa Pascha vielleicht, der als Nachtwächter in einem Secondhandladen arbeitete. Zwei riesige kastenförmige Pavillons, die zu Sowjetzeiten als Gemüselager dienten, waren jetzt mit Bergen abgetragener Kleidung von wohlgenährten Westeuropäern vollgestopft. Opa Pascha war nicht nur der Wächter oder besser Wärter dieser Textilberge, er war ihr treuer Herr und Hüter. Die Lumpen fand er allerdings widerlich. Er hätte sie nie getragen und behauptete, sie kämen von Toten; seinem Freund Walerij Semenowytsch aber erlaubte er, sich ein paar passende Trainingshosen auszusuchen.
Bruchanda schaute häufig bei den Pavillons vorbei. Er und der Opa konnten wie zwei buddhistische Weise die ganze Nacht hindurch auf den Baumwoll- oder Ledergipfeln sitzen und ununterbrochen reden, über die vergangenen Zeiten, über ihre Jugend und ferne Städte, über Samarkand, Wladiwostok oder Chişinău. Opa Pascha klagte immer wieder über seine Tochter und seinen Enkel, die er für Nieten hielt, weil ein eigentlich ganz passabler Mann, sein Schwiegersohn, sie vor ungefähr zehn Jahren für eine andere Familie verlassen hatte. „Ljudka hat ihn weggejagt, die dumme Kuh“, sagte Opa Pascha. „Und jetzt plagt sie sich ab, und Hryscha wächst ohne Vater auf, er benimmt sich wie ein Ex-Knacki, ist ein totaler Schlappschwanz und hat Skoliose, ein Reck kennt er höchstens aus dem Fernsehen.“ Bruchanda teilte Opa Paschas Ansichten nicht. Er hielt Hryscha für einen ganz höflichen und freundlichen Jungen. Ein Schlappschwanz war er vielleicht, aber bestimmt kein Ex-Knacki.
Walerij Semenowytsch Bruchanda wohnte im zweiten Stock des zweiten Aufgangs. Er lebte leise vor sich hin, so leise, dass es den anderen Hausbewohnern manchmal so vorkam, als sei selbst die taubstumme und gelähmte Tante Rita aus dem ersten Aufgang lauter als er. Bruchanda trank allerdings. Das wussten alle, aber er trank anständig, also leise. Deshalb sagte auch keiner etwas. Nein, niemand konnte ihm was vorwerfen, keiner konnte sagen: Eh du, Bruchanda, also Walerij Semenowytsch, geht’s nicht ein bisschen leiser? Oder: Ich kann das schon verstehen, Onkel Walera, aber ich habe ein kleines Kind, könnten Sie sich vielleicht etwas ruhiger verhalten? Nein, so etwas kam nicht vor. Es hatte sich noch nie jemand beklagt. Wirklich nie.