Folgenden Bericht des Dichters Ostap Slyvynskyj über die Menschenrechtsverletzungenin der Ukraine möchten wir Ihnen an dieser Stelle präsentieren.
26.01.2014
In der Ukraine kommt es, so müssen wir nach den Ereignissen der letzten Woche konstatieren, nicht nur systematisch zu Menschenrechtsverletzungen, u.a. gegen die Meinungsfreiheit, die Freiheit und Unantastbarkeit der Persönlichkeit oder das Recht auf Leben etwa, sondern auch zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie sie in den Römischen Verträgen festgehalten sind, besonders erschütternd sind die Verbrechen, die die Würde des Menschen verletzen, die Menschen in zynischer Weise erniedrigen und den humanistischen Grundwerte des Zusammenlebens jenseits von Zeit, Ort und politischem Kontext hohnsprechen. Derartige Vergehen sind nicht zu rechtfertigen. Es gibt keine Handlung, auf die solche Verbrechen eine angemessene Reaktion darstellen.
Zu nennen sind hier Folter, die Misshandlung von Gefangenen, die Verletzungen der Regeln und Gewohnheiten des Krieges. Das Kriegsvokabular ist hier durchaus angebracht, denn die Zusammenstöße von Spezialeinheiten des Innenministeriums und der organisierten Protestbewegung auf der Straße weisen, insbesondere im gegenwärtigen Rechtsvakuum, durchaus Züge kriegerischer Auseinandersetzungen auf.
Die unklare Rechtslage im derzeitigen Konflikt verführt die Seite, die sich für den rechtmäßigen Vertreter des Gesetzes hält, zur Verletzung elementarer ethischer Normen in den offenen Auseinandersetzungen, so etwa die Achtung vor einem Abgesandten oder die Unantastbarkeit der Ärzte. So wurde zum Beispiel vor meinen Augen ein Vertreter der Protestierenden, der mit einer weißen Fahne zu den bewaffneten Kräften ging, um eine Nachricht zu überbringen, ohne Vorankündigung verprügelt und verhaftet.
Angriffe auf Ärzte und Krankenschwestern, die die Protestierenden medizinisch versorgen, sind in den letzten Tagen zu einer traurigen Dauererscheinung auf dem Majdan geworden. Einen Höhepunkt erreichte die Aggression am 22. Januar, als die Sanitätsstelle durch Blendgranaten und Schlageinwirkung vollständig zerstört wurde. Viele Ärzte wurden verletzt, und was mit den Verletzten passiert ist, die zu der Zeit an der Sanistelle behandelt wurden, ist unklar. Die Ärzte, die den Protestierenden medizinische Hilfe leisten, werden in der ganzen Stadt, fernab der Zusammenstöße aufgespürt und verhaftet, genauer gesagt verschleppt, denn es gibt kein Gesetz, das ihre offizielle Festnahme rechtfertigen würde. So wurde zum Beispiel am 23. Januar die 22-jährige ehrenamtliche Arzthelferin Olexandra Chajlak von Kämpfern einer Berkut-Spezialeinheit auf dem Kiewer Bahnhof festgenommen und in den Wald verschleppt. Dort nahm man ihr alle Medikamente ab, einschließlich eines Asthma-Präparats, das für sie selbst lebensnotwendig ist.
Die Verschleppungen durch die Polizei, die mitunter von gedungenen Zivilisten vorgenommen werden, sind häufig begleitet von Misshandlungen und Folter, bisweilen kommt es auch zu öffentlichen Folterungen. In mindestens einem Fall endete die Verschleppung tödlich. Die tatsächliche Opferzahl liegt möglicherweise höher, denn etwa 10 Personen werden derzeit vermisst.
Am 21. Januar wurden die zwei verletzten Majdan-Aktivisten, Igor Luzenko und Jurij Werbyzkyj von „Unbekannten in Zivil“ aus dem Krankenhaus verschleppt. Luzenko, den Häschern entkommen, kommentiert: „Zu Anfang wurden wir gemeinsam verhört und misshandelt, dann wurden wir getrennt, in unterschiedliche Waldstücke gebracht und noch einmal malträtiert. Ich habe nur gehört, dass man Jurij stark unter Druck gesetzt hat … Das ging ungefähr 40 Minuten, vielleicht eine Stunde. Dann wurden wir wieder in den Bus gesetzt und mit Säcken über dem Kopf weggebracht.“ Am 22. Januar wurde die Leiche von Jurij Werbyzkyj mit Anzeichen schwerer Folterungen in der Nähe des Dorfes Hnidyn bei Kiew gefunden.
Am 22. Januar wurden in Kiew auf der Straße sechs Studenten der Kiewer Theaterhochschule von einer Berkut-Spezialeinheit festgenommen, die auf dem Rückweg vom Majdan waren. Später wurde – wie im oben beschriebenen Fall – eine Person freigelassen. Der 17-jährige Student Mychajlo Nyskohus wurde nach eigenen Angaben gefoltert und gequält: Er musste sich nackt ausziehen, die Nationalhymne singen und in der Polizeieinheit Spießruten laufen, man hat ihn geschlagen und am Hintern mit dem Messer verletzt.
Ein Mitglied des so genannten Automajdan, der Protestbewegung der Autofahrer, Olexandr Krawzow, wurde am 23. Januar von der Polizei festgenommen, er berichtet von Misshandlungen und Repressalien gegen die Opfer im eisigen Frost: „Wir wurden überfallen, die Autos wurden demoliert, wir wurden in den Marien-Park gebracht … Dort mussten wir uns nackt ausziehen und anderthalb Stunden auf Knien im Schnee ausharren … wir waren ungefähr 17 Personen.“
Besonders herabwürdigend wirken die öffentlichen Folterungen, denen der Majdan- Aktivist Mychajlo Hawryljuk ausgesetzt war, den die Polizei am 23. Januar festgenommen hatte. Mehrere Dutzend Polizisten beteiligten sich an den Misshandlungen, sie zeichneten alles auf Video auf, was im Folgenden zu einem Aufschrei in den Medien führte. „Ich lag am Boden und wurde misshandelt“, erzählt Machajlo Hawryljuk. „Alles, was Beine hatte, kam angelaufen und machte mit, sie sprangen mir auf den Kopf und machten Fotos. Als sie mich ausgezogen hatten, spielten sie mit meinem Kopf Fußball. Sie spielten die Helden und machten gegenseitig Fotos, setzten mir den Fuß auf den Kopf, als ich am Boden lag.“
Der Einsatz unerlaubter Mittel gegen die Demonstranten von Seiten der Polizei ist nicht nur eine Verletzung der Dienstvorschriften, sondern auch ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Nachweislich haben die Polizeikräfte Messingkugeln mit einem Durchmesser von 18,5 mm gegen die Demonstranten abgefeuert. Diese sind eigentlich zur Beseitigung mechanischer Hindernisse oder zum Anhalten von Verkehrsmitteln bestimmt, zum Öffnen von Türen zum Beispiel. Das zeigt, dass die Polizeikräfte sich keine Gedanken über die Demonstranten und ihren Widerstand machen: für sie sind die Protestierenden Objekte, die es zu entfernen oder zu vernichten gilt, es fehlt hier an dem Mindestmaß an Ethik. Eine der erwähnten Messingkugeln hat am 22. Januar Mychajlo Schiznewskij aus Belarus getötet, die Kugel durchschlug ihm das Herz. Außerdem wurde beobachtet, wie die Polizeikräfte der Sonderkommandos Blendgranaten mit Steinsplittern umwickeln, wodurch die Geschosse zu kleinen Splitterbomben werden und mechanische Verletzungen herbeiführen. Unmenschlich und unvereinbar mit den Menschenrechten ist ebenso die Erlaubnis des Ministerrates, bei Minustemperaturen Wasserwerfer einzusetzen, was schwere Erfrierungen und den Tod durch Unterkühlung nach sich ziehen kann.
Die Verletzungen, die viele Demonstranten erlitten haben, deuten auf gezielte Kopf- (insbesondere Augen) und Achselschüsse durch die Polizei. Viele Verletzungen wurden den Demonstranten von Scharfschützen zugefügt. Es ist bezeichnend, dass unter den Journalisten und Medienvertretern die Opferzahl besonders hoch ist. Die gezielte Gewalt gegen Journalisten ist eine Besonderheit der Auseinandersetzungen in der Ukraine. Die panische Angst der ukrainischen Machthaber vor der Öffentlichkeit lässt sie auf Journalisten schießen, und so ist die Aufschrift „Presse“ am Jackett oder auf dem Helm (genauso wie Rotes Kreuz) kein Schutz, sondern eine zusätzliche Gefahrenquelle. Allein zwischen dem 19. und 23. Januar sind nach vorsichtigen Schätzungen 40 bis 50 Journalisten verletzt worden. Zu den am schwersten Verwundeten gehören Stanislaw Grigorjew, Kameramann des russischen Fernsehsenders REN-TV, er wurde von einer Blendgranate getroffen, Wlad Bowtruk vom ukrainischen Fernsehsender Hromadske.tv, ihn trafen Gummikugeln am Bein und am Rumpf, und Wolodymyr Zintschenko vom ukrainischen Fernsehsender ICTV, ihn verletzte eine Gummikugel am Auge.
Zusammenfassend lässt sich folgendes sagen: Egal, wie die Auseinandersetzungen in der Ukraine enden, egal, welche politische Realität auf das Land zukommt, die Schuldigen für die Verbrechen gegen die Menschlichkeit müssen bestraft werden. Das ist die Pflicht und Verantwortung von uns Ukrainern und der gesamten Weltgemeinschaft.
Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe