Jurij Wynnytschuk
Geboren am 18.3.1952 in Stanislawiw (Iwano-Frankiwsk)
Wynnytschuks Biografie während der Sowjetzeit ist durch seinen familiären Hintergrund geprägt. Wynnytschuks Vater war Arzt, der auch westukrainische Partisanen betreute, die nach dem 2. Weltkrieg gegen die Sowjets kämpften. Sein Onkel war ebenfalls im antisowjetischen Widerstand aktiv und wurde 1941 vom sowjetischen Geheimdienst erschossen. Zu Ehren dieses Onkels erhielt er dessen Vornamen Jurij.
Bereits gegen Ende seines Studiums, das er 1973 am Pädagogischen Institut in I.-Frankiwsk abschloss, war er im Samizdat aktiv und 1974 erfolgte die erste Hausdurchsuchung durch den KGB. Um einer Verhaftung zu entgehen, fuhr Wynnytschuk nach Lwiw (Lemberg), wo er anfangs illegal in den Wohnungen von Bekannten und Verwandten unterkam. Während dieser Zeit war er im Underground und im Samizdat aktiv. Zu dieser Zeit entstand der Roman "Mädchennächte" (Diwy notschi) aus dem Milieu der sowjetischen Halb- und Unterwelt.
Seit Beginn der 1980er erhielt er die Erlaubnis als Übersetzer und Literaturkritiker zu publizieren. So veröffentlichte er neben literaturkritischen Artikeln zahlreiche Übersetzungen (aus dem Tschechischen, Polnischen, Russischen, Bulgarischen), oft unter Pseudonymen. Im Freundeskreis hielt er in Privatwohnungen Lesungen seiner nicht publizierbaren Prosatexte. Gegen Ende der Glasnost-Perestrojka-Zeit war er Mitbegründer und Mitwirkender des populären satirischen Kabaretts „Ne schurys!“ (Nicht jammern! / 1987-90).
Seit Beginn der 1990 arbeitet Wynnytschuk in verschiedenen Lemberger Zeitungen, in denen er mit eigenen Rubriken hervortritt. Er hat zahlreiche „mystifizierende“ Texte und Bücher über Lemberg verfasst (so in den populären Sammelbänden Lemberger Legenden, Lemberger Kneipen, Die Geheimnisse des Lemberger Kaffees u.a.).
Das Spiel mit literarischen Texten und ihrer Rezeption trieb Wynnytschuk so weit, dass er einen Paralleltext zum berühmten Igorlied verfasste (dessen Authentizität von wissenschaftlicher Seite angezweifelt wird); Wynnytschuks Text wurde in einigen akademischen Publikationen als authentisch, d.h. als Schriftzeugnis der mittelalterlichen Kyjiwer Rus erachtet (siehe Ukrajinska Literaturna Enzyklopedija); auf ähnliche Weise lancierte er das skandalöse Tagebuch der ukrainischen Nationalheldin Roksolana mit deren Erlebnissen als Haremsfrau, das angeblich aus dem 16. Jahrhundert stammen sollte und später unter Wynnytschuks Namen mit dem Titel "Das Leben im Harem" (Schyttja haremnoje) in Buchform erschien.
Zudem ist Wynnytschuk als Herausgeber verschiedener Anthologien hervorgetreten (z.B. ukrainische phantastische Erzählungen, ukrainische Märchen). Anfang der 1990 erschienen seine Erzählungen in den beiden Bänden "Spalach" (Das Funkeln) und "Wikna zastihloho tschasu" (Die Fenster der gefrorenen Zeit) sowie die Romane "Mädchennächte" und "Das Leben im Harem". 2002 erschien zudem der umfangreiche Roman "Malwa Landa" (Romantitel trägt den Namen der Heldin), und 2006 "Wesjani ihry" (Frühlingsspiele).
Das literarische Schaffen von Jurij Wynnytschuk ist vielfältig und umfasst Prosatexte mit Romanen und Erzählungen, Theaterstücke, Lyrik, populäre Bearbeitungen von Sagen, Legenden, Märchen sowie journalistische Arbeiten. Insbesondere mit seiner Prosa stellt der Autor seit den 1970er Jahren (als Samizdat- und Underground-Autor) einen festen Bestandteil einer alternativen, nicht soz-realistischen und seit den 1990ern einer nach-sowjetischen ukrainischen Literatur dar, die (selbst-)ironisch Geschichte und Erinnerungkultur reflektiert.
Mit seinen Erzähltexten wirkte er auf die ukrainische Literatur und ihre Vertreter seit den ausgehenden 1980er Jahren, z.B. Jurij Andruchowytsch, Taras Prochasko, Jurij Izdryk u.a.), wie auch auf junge Gegenwartsautoren (z.B. Ljubko Deresch).
Seine Popularität liegt u.a. darin begründet, dass seine Prosatexte auf ansprechende Weise die ukrainische Tradition grotesker und satirischer Erzählweise, wie sie in der Prosa des ukrainischstämmigen Nikolai Gogols berümt wurde, variiert. Gleichzeitig knüpft Wynnytschuk mit der Galerie von Sonderlingen, Außenseiter:innen, mit seiner grotesken Darstellungweisem, den zuweilen fantastischen Plotstrukturen, einer karnevalistischen Körperlichkeit und Sexualität an mitteleuropäische Erzähltraditionen eines Bohumil Hrabal oder Witold Gombrowicz oder im internationalen Kontext Charles Bukowski an.