Essays, Kontexte



Essays, Kontexte

LINA KOSTENKO und das „geistige Tschornobyl“

Jeder, der sich mit der ukrainischen Literatur und Gesellschaft befasst, weiß von Lina 
Kostenko. 1967 war sie eine von nur fünf weiblichen Nominierten für den 
Literaturnobelpreis, und 2005 befand sie sich unter den 1.000 Peacewomen, die für den 
Friedensnobelpreis vorgeschlagen wurden. Mir war die Autorin zunächst als moralische 
Autorität und virtuose Dichterin ein Begriff. Ich verband Kostenko mit dem Widerstand 
gegen das Sowjetregime sowie dem Kampf für eine eigenständige Ukraine. Erst später 
entdeckte ich, dass Kostenko ein weiteres Lebensthema hat, nämlich Tschornobyl, dessen
in Deutschland bekanntere Transkription Tschernobyl ich in einigen Zitaten beibehalte.
Welche Bilder tauchen in Verbindung mit dem Begriff Tschornobyl vor dem inneren Auge 
auf? Der Sarkophag über dem havarierten Block 4? Schilder, die vor Radioaktivität 
warnen? Ein Geigerzähler? Die noch immer für die Feierlichkeiten des 1. Mai 1986 
vorbereitete Geisterstadt Prypjat mit dem Riesenrad oder zurückgebliebenem 
Kinderspielzeug?
Das Bild von Tschornobyl ist überformt und geprägt von verschiedenen Medien. Düstere 
Fiktionen aus Filmen. Computerspiele, deren apokalyptische Bilder vor blindem 
Technikglauben und vor Katastrophen warnen. Sie schaffen Distanz zur Realität, über die 
viele der Betroffenen nach wie vor schweigen, und machen das Unsagbare sagbar. Das 
reale Ereignis wird dabei zum Symbol. Dahinter verschwindet die Realität: eine Region mit
einer reichen Kultur und Geschichte, mit ihrer Natur und ihren Menschen - vor und nach 
der Havarie. Eine Region, in deren Wäldern viele ukrainische Mythen, Fabelwesen und 
heidnische Götter aus dem nationalen Kulturschatz angesiedelt sind.
Die belarussische Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch geht das Thema mit einem 
von ihr kreierten Genre, das man vielleicht als Doku-Fiktion bezeichnen könnte, an, die 
ukrainische Literaturwissenschaftlerin Tamara Hundorova in ihrer Post-Tschornobyl 
Bibliothek. Der ukrainische literarische Postmodernismus (Pisljatschornobylska biblioteka.
Ukrajinskyj literaturnyj postmoernizm) kulturtheoretisch.
Lina Kostenko ist eine der wenigen ukrainischen Stimmen, die der realen Region, ihrer 
landschaftlichen Schönheit, historischen Bedeutung und den Folgen des Reaktorunglücks 
im Alltagsleben in mehreren Gattungen und auf vielfältige Weise Ausdruck verleiht. Etwa in ihrer Lyrik, ihrem einzigen Prosawerk, einem Drehbuch und Zeitungsartikeln. Aber 
auch durch Expeditionen in die Zona Widtschuschennja, die Sperrzone oder wörtlich 
übersetzt die Zone der Entfremdung, wo Kostenko mit den zurückgekehrten Anwohnern, 
den sogenannten Samosely (wörtlich: Selbstsiedler), Gespräche führt und aufzeichnet, wo
sie kulturelle, historische, ethnografische oder architektonische Artefakte sammelt und 
anschließend archiviert, um die Kultur von Polyssja, dem nordukrainischen Gebiet nahe 
der belarussischen und russischen Grenze, zu bewahren, aber auch um die Wahrheit 
über die Katastrophe zu ergründen und kundzugeben.
Wie Kostenko in einem ihrer bald nach dem Unglück erschienenen Gedichte Fliegende 
Zeilen (Letjutschyj katreni) schrieb, geht es ihr um das geistige Tschornobyl, also um die
kulturellen, ethnischen, sozialen und nationalen Auswirkungen der Havarie.
Vereinzelt wurden Gedichte von Kostenko, auch solche, die Tschornobyl betreffen, bereits 
ins Englische, Deutsche und weitere Sprachen übersetzt. Ihr Drehbuch zum Film 
„Tschornobyl. Leichenmahl wurde auf Italienisch veröffentlicht. Im gerade erst 
erschienenen Band Lina Kostenko. I znowu Proloh – Lina Kostenko. Und wieder ein 
Prolog“ mit virtuosen Gedichtübersetzungen von Alois Woldan, erklärt Alla Paslawska im 
Nachwort: Und manchmal hat der Übersetzer einfach nicht den Mut, an Texte 
heranzugehen, die die Seele der Nation ausmachen, deren Herzschlag und Atemluft. Eine 
solche Gestalt ist für die Ukrainer Lina Wasyliwna Kostenko – unabhängig, einzigartig und 
kompromisslos, (…). Auch Kostenko selbst stellt in einem Interview mit der Zeitung 
„Tyschden“ vom 8. Juni 2011 fest, dass das Übersetzen von Gedichten nicht einfach ist: 
„Und das liegt daran, dass ich die Augen schließe und mich vom Kontext entferne, weil ich
möchte, dass man Poesie spürt, nicht Technik. Ich habe zu meiner Zeit viel übersetzt, also
glauben Sie mir, ich weiß, dass das Übersetzen eine harte und wunderbar kreative Arbeit 
ist.“
Die Ehrfurcht vor dem Übersetzen von Gedichten, wobei immer nur eine Annäherung 
gelingen kann, könnte also ein Grund dafür sein, warum viele Werke Kostenkos noch nicht
übersetzt sind. Dass ihr Drehbuch, der Roman und die publizistischen Texte, die 
Tschornobyl betreffen, noch nicht übersetzt sind, könnte unter anderem daran liegen, dass
es schwerfällt, sich von den medial geprägten Klischees zu Tschornobyl zu entfernen, 
hinter denen die Realität Polyssjas verschwindet, oder an dem Tabu, das Tschornobyl im 
Osten häufig noch darstellt.

Beredtes Schweigen – Lina Kostenko als Autorin der Schistdesjatnyky
Lina Kostenko, Jahrgang 1930, ist die Galionsfigur der ukrainischen Autorengeneration der
1960er Jahre, der sogenannten Schistdesjatnyky, und bis heute eine moralische Autorität
der ukrainischen Kultur und Gesellschaft. Ihr Werk steht für eine außergewöhnlich 
ästhetische und gleichzeitig ethisch-moralische Schönheit. Die Autorin ließ sich von dem 
totalitären Sowjetsystem nicht gängeln und schrieb ihre Werke beispielsweise 
ausschließlich in ukrainischer Sprache. Ihre Kompromisslosigkeit ist legendär und macht 
sie für viele zum Symbol des Strebens nach individueller und nationaler Freiheit. Kostenko
gilt als unbestechlich und nonkonformistisch. Die Veröffentlichung ihrer ersten drei 
Gedichtbände in den Jahren 1957, 1958 und 1961 fiel in die sogenannte Tauwetter-
Periode, in der Chruschtschow gewisse Freiheiten zuließ.
Während ihre Freunde und Kolleg:innen aus der ukrainischen Intelligenz ab Mitte der 
1960er Jahre verhaftet und verurteilt wurden, versuchte man die populäre Lina Kostenko, 
die sich nicht scheute, bei Gerichtsverhandlungen ihre Meinung kundzutun oder 
Protestbriefe zu unterzeichnen, durch Druckverbote aus dem Bewusstsein der 
Öffentlichkeit zu drängen. Auf Vorschläge der Zensur ließ sich Kostenko nicht ein. Sie zog 
es vor, in der Öffentlichkeit sechzehn Jahre lang zu schweigen bzw. verschwiegen zu 
werden. Sechzehn Jahre der gesellschaftlichen Apathie und der geistigen Stagnation, in 
denen Kostenko für die Schublade schrieb und in denen ihre Werke im Samvydat, also in 
privaten Abschriften, heimlich zirkulierten.
Zwischen 1977 und 1999 erschienen wieder Gedichtbände und Poeme von Kostenko, die 
größtenteils in ihrer Schweigeperiode entstanden waren, darunter der Versroman 
„Marusja Tschuraj von 1979, in dem die legendäre Figur einer Sängerin zur Zeit des 
ukrainischen Befreiungskampfs unter Bohdan Chmelnyzkyj Mitte des 17. Jahrhunderts zur
Heldin der ukrainischen Nation wird. Von all den ihr zugedachten Preisen, Orden, 
Ehrenprofessuren bzw. –doktorwürden lehnte Kostenko Auszeichnungen ab, die ihr 
politisch fragwürdig schienen.
Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends schwieg Lina Kostenko erneut. Warum - 
darüber gehen die Meinungen auseinander: Aus Trauer über den Tod ihres Mannes, wie 
Agnieszka Matusiak im Vorwort zu „Lina Kostenko. Und wieder ein Prolog“ vermutet oder 
aus Enttäuschung über die Entwicklung des unabhängigen Staats, wie Kostenko selbst in 
einem Interview mit der The Ukrainian Week im Dezember 2010 angibt: Ich habe davor 
gewarnt, dass ich in dieser Gesellschaft einige Zeit nicht präsent sein würde: Ich will absolut keine Rolle spielen / in dieser teuflischen Show (…) Ich komme zurück. Erst 2011 
meldete sie sich zurück – mit zwei Gedichtbänden und ihrem ersten Prosawerk.
 
In der ukrainischen Nachkriegsliteratur sticht Kostenko als kämpferische weibliche Autorin 
hervor, die der herrschenden Ideologie offen Widerstand leistete. Dieses mutige Image 
bezog sich zu Sowjetzeiten auf Kostenkos politische Risikobereitschaft. Heute riskiert sie 
ihre Gesundheit und setzt ihr Engagement als Umwelt- und Kulturschützerin der Region 
Tschornobyl fort.
 
Das Reaktorunglück und die Sperrzone: Fakten und Traumata
Als am 26. April 1986 Block 4 des Atomkraftwerks Tschornobyl explodierte, gab das 
Sowjetregime zunächst kaum Informationen an die Bevölkerung oder an das Ausland 
weiter. Eine Kette fataler Einzelereignisse und ein System, das auf Erfüllung von Plänen 
und nicht auf Meinungsfreiheit basierte, führten dazu, dass die Simulation eines 
Stromausfalls in eine Katastrophe mündete. Fatal war auch, dass in den folgenden 
Wochen und Monaten Hunderttausende Liquidator:innen aus der gesamten Sowjetunion 
zur Säuberung eingesetzt wurden, ohne ausreichend gegen die Strahlung geschützt zu 
sein oder dass die Menschen aus der Zone 30 Kilometer um den Reaktor erst 36 Stunden 
später, dann aber in aller Eile evakuiert wurden, ohne zu wissen, dass sie nicht 
wiederkehren würden. Reflexartig verhängte die Regierung trotz ihres neuen 
Reformkurses mit dem Slogan Glasnost eine Informationssperre und heizte damit die 
Gerüchteküche und die Entstehung moderner Mythen, der sogenannten Tschernobyl-
Folklore, an.
Oksana Sabuschko beschreibt in Planet Wermut, übersetzt von Alexander Kratochvil, die
Situation folgendermaßen: (...) kann man nicht anders als das wesentliche Merkmal des 
Sowjetkommunismus, seine totale groteske Theatralität, seine Inszenierung 
wahrzunehmen (...), eine Inszenierung der Politik, die nun bei weitem nicht nur in den 
postkommunistischen Staaten in voller Blüte steht. Die Zone des 'neuen Horrors', die von 
Tschernobyl enthüllt wurde, war auch deshalb im Land selbst in kultureller Hinsicht so 
schwer verdaulich, weil Tschernobyl ein realer und brutaler Weckruf aus dem 
hypnotischen Traum ewiger Simulacra war.“
Noch heute ist die Gamma-Strahlung in der Geisterstadt Prypjat dreimal so hoch wie in 
Kyjiw. Weiterhin existiert eine Sperrzone von 30 Kilometern. Doch obwohl alle Evakuierten
eine neue Wohnung und einen neuen Job erhielten und innerhalb der Sperrzone jegliche 
Infrastruktur wie Läden, öffentlicher Verkehr oder öffentliche Ordnung fehlen, sind mehrere Hundert Samosely – über die genaue Zahl gehen die Angaben weit auseinander , meist 
ältere Menschen, illegal in die ehemalige Heimat zurückgekehrt, wo sie heute von 
staatlicher Seite geduldet werden.
Die Meinungen über die verbliebene Menge an giftigem radioaktivem Material im Reaktor 
und über die physikalischen Prozesse im Betonsarkophag liegen weit auseinander. 
Expert:innen gehen davon aus, dass noch bis zu 200 Tonnen Uran und Plutonium in Block
4 schlummern. Erst 2019 wurde eine neue Schutzhülle fertiggestellt, um deren 
internationale Finanzierung jahrelang gerungen worden war. Die Ukraine trägt nicht nur 
ökologisch und medizinisch mit die größte Last der Folgen, sondern ist auch finanziell 
überfordert.
Weltweit steht Tschornobyl heute als Metonym für eine Reaktorkatastrophe. Auch die 
Literaturwissenschaftlerin Tamara Hundorova schreibt, Tschornobyl sei ein Synonym für 
Katastrophe und ein Symbol für eine menschengemacht Katastrophe. Die Sperrzone 
mahnt als Erinnerungsort an eine gescheiterte gesellschaftliche Utopie der Moderne, 
welche die Apokalypse erst ermöglicht hat. Als Ereignis, das mehrere Länder und politisch-
ideologische Systeme betraf, ist Tschornobyl heute Projektionsfläche für 
postapokalyptische mediale Inszenierungen.
„Die nicht gesicherten, oft rein spekulativen Annahmen stellen den für die Umwelt 
relevanten Kontext des Computerspiels dar, denn diese Leerstelle ist ein Moment des 
posttraumatischen Erzählens des Computerspiels wie auch anderer medialer 
Aufbereitungen von Tschernobyl, schreibt Alexander Kratochvil in Posttraumatisches 
Erzählen über das Spiel S.T.A.L.K.E.R. Shadow of Chernobyl. PC-Spiele, Drohnenfilme 
der Geisterstadt Prypjat oder Horrorfilme, die in einer postapokalyptischen Landschaft 
spielen, überformen so das Thema Tschornobyl.
Die reale Zone mit ihren verlassenen Dörfern und die traumatischen Erlebnisse der realen 
Bewohner:innen verschwinden dahinter. Tschornobyl oder Fukushima wandeln sich von 
historischen Ereignissen zu kulturellen Konstruktionen und zu virtuellen Phänomenen. Das
Virtuelle dient auch der Distanzierung von der realen Tragödie.
Das individuelle Trauma, welches oft von Verschweigen und Verdrängen gekennzeichnet 
ist, wird zum transgenerationellen Trauma späterer Generationen, die es ins kollektive 
Gedächtnis aufnehmen, im Fall von Tschornobyl etwa durch das Computerspiel 
S.T.A.L.K.E.R.: Shadow of Chernobyl. Das reale Geschehen wird durch die Konstruktion 
greifbarer, eine Aufarbeitung findet statt, stellt Kratochvil fest.Dass ukrainische Stimmen zum Thema immer noch weitgehend fehlen, liegt auch daran, dass es sich in der Ukraine um ein Tabuthema handelt. In der Psychologie wird die Phase,
in der Individuen für traumatisierende Ereignisse keine angemessenen Worte und kein 
Narrativ finden können, auf 25 bis 30 Jahre geschätzt. So erschienen im Ausland mehr 
künstlerische Filme und literarische Texte über Tschornobyl als in Ost- und 
Mittelosteuropa, wo das Tschornobyl-Genre laut dem Ukrainisten Marko Pawlyschyn oft 
dokumentarisch oder mit Pathos, Tragik oder Ironie präsentiert wird, um bei der 
Fiktionalisierung von Tschornobyl weder trivial noch respektlos zu wirken. Meine 
Landsleute wissen nur zu gut, was diese 'Zone des Schweigens' bedeutet, und wie schwer
man aus ihr herausfindet, erklärt Sabuschko in Planet Wermut, weshalb auch sie selbst 
das Thema erst nach Jahrzehnten künstlerisch verarbeitete.
Oft zitiert wird in der Ukraine die Offenbarung des Johannes, nach der ein Stern namens 
Wermut auf den dritten Teil des Wassers fällt, der bitter wird und den Menschen den Tod 
bringt. Viele Ukrainer:innen sahen in Tschornobyl die Erfüllung dieser Prophezeiung, 
insbesondere, da das Wort Tschornobyl Wermut bedeutet. So schreibt Sabuschko in ihrem
Buch: Wermut – das heißt auf Ukrainisch Tschernobyl, Artemisia vulgaris, das erste 
ukrainische Wort, das man auf allen Kontinenten kennenlernte, fünf Jahre bevor auf der 
Landkarte Europas das Wort 'Ukraine' erschien (die beiden Ereignisse sind übrigens 
miteinander verflochten, und heute kann man schon unbekümmert feststellen, dass an 
jenem 26. April über das Sowjetimperium endgültig der Stab gebrochen wurde, als wäre 
auf dem Computer der Geschichte ein unsichtbarer Bildschirm mit flimmernder Schrift 
eingeschaltet worden: 'Bis zum Ende der UdSSR bleiben noch xx Jahre, yy Monate, zz 
Tage'.“
Bedeutete die Havarie doch auch gleichzeitig ein Auf-den-Kopf-stellen bisheriger 
Gewissheiten. Als Literaturnobelpreisträgerin hat Swetlana Alexijewitsch mit ihrem 
„kollektiven Roman unter dem Titel Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft ein Gefühl 
rekonstruiert, nämlich das Unvermögen, eine angemessene psychische Reaktion auf die 
Katastrophe und ihre Folgen zu finden. Das Vertrauen in die Sowjetunion, deren Werte, 
deren Fortschrittsoptimismus, wurde mit dem Unglück nachhaltig erschüttert. Die 
Selbstüberschätzung des Menschen hatte zum Zusammenbruch des Systems geführt, wie
der oft zitierte Jean Baudrillard 1994 feststellte: Nach Tschernobyl existierte die Berliner 
Mauer nicht mehr. Sabuschko formuliert es folgendermaßen: „Paradoxerweise fungierte 
Tschernobyl für die Ukrainer in den verstrahlten Gebieten wie ein therapeutischer Schock (…) wie ruckartig das Fundament des Sowjetregimes in der Ukraine, die Angst vor dessen 
Allmacht, die im Kreml konzentriert war, zerbröckelte (…). Doch dann enthüllte sich die 
Fiktionalität dieser Allmacht.“
Hundorova zeichnet in ihrer Post-Tschornobyl-Bibliothek nach, wie Tschornobyl nicht nur 
das Sowjetsystem zerstörte, sondern leichzeitig in der Ukraine Kultur und Literatur radikal 
veränderte, indem ein apokalyptisches Denken und der Wunsch nach Distanzierung die 
Postmoderne mit ihrer barock-spielerischen, karnevalistischen, polyphonen, intertextuellen
Literatur hervorbrachte. So wird laut Hundorova Tschornobyl zum Wendepunkt, zum 
Beginn einer neuen Zeit und einer neuen Identität, die eine Kritik am sozialistischen 
System ebenso wie an der antikolonialen Pose der Schistdesjatnyky beinhaltet.
In der Ukraine ist der Topos des geistigen Tschornobyl“ verbreitet, also einer Bedrohung 
der Moral, der Seelenlandschaft, der Sprache, der Kultur oder kurz der Nation. Als eine 
der ersten verwendet Lina Kostenko diesen Topos in einem ihrer „Fliegenden Zeilen“ 
(Letjutschi katreni), den Anna-Halja Horbatsch in „Grenzsteine des Lebens“ 
folgendermaßen übertragen hat:
„Wer hat nicht alles versucht
unser Schicksal zu bestimmen
In welchen Netzen zappeln wir nur?
Das geistige Tschornobyl hat längst begonnen
doch wir leben
noch in Angst vor ihm.“

Kostenko und Tschornobyl
Auch für Lina Kostenko und ihr Werk wurde die Havarie zu einem entscheidenden 
Wendepunkt.
Bereits kurz nach dem Ereignis spielte das Thema Tschornobyl in Kostenkos Gedichten 
eine Rolle, später zieht es sich wie ein roter Faden durch ihr einziges Prosawerk 
„Aufzeichnungen eines ukrainischen Verrückten“. Doch wird Tschornobyl auch über 
Kostenkos literarisches Werk hinaus in ihrem Handeln wichtig. Als einzige Autorin 
engagiert sich Lina Kostenko nämlich in den sogenannten Tschornobyl-Expeditionen, bei 
denen Artefakte der Region Polyssja gesammelt und archiviert werden, um das kulturelle 
Vermächtnis zu bewahren. Wie Kostenko die Region sieht und weshalb sie sich engagiert,
verdeutlicht sie unter anderem in ihrem Drehbuch zum poetischen Film „Tschornobyl.Leichenmahl“ von Regisseur Rollan Serhijenko und in einigen publizistischen Appellen.

Publizistik
So prangert Kostenko in ihrem Beitrag zum II. Internationalen Kongress der Ukrainisten 
1993 „Tschornobyl in Dosierungen des historischen Bewusstseins“ (Tschornobyl v dozach 
istorytschnoji svidomosti) etwa an, dass in eben diesem Jahr das Stadtjubiläum 800 Jahre 
Tschornobyl nicht offiziell gefeiert wurde, als gehöre die Region, das ehemalige Herzland 
der Rus, nicht mehr zur Ukraine. Vielmehr hätten Arbeiter aus der Zone auf eigene Kosten
eine Feier organisiert. Tschornobyl sei im Bewusstsein tiefer versunken als Troja, Atlantis 
oder Pompei. Im Ausland sei zwar Tschornobyl bekannt, nicht aber die Ukraine. Von der 
Geschichte der Region und den Leiden der Bewohner:innen wisse man im Ausland nichts.
Auch nicht davon, dass in der Sperrzone Kühe grasten, Äpfel und Pilze wüchsen oder 
Fische und Wild gediehen. So sei Tschornobyl ausschließlich im Kontext des 
Atomkraftwerks bekannt, nicht aber für seine Traditionen, seine Kultur oder Geschichte. 
Zudem setzt sich Kostenko für eine humanitäre Lösung der Probleme der Samosely ein. 
Das Volk habe sich mit der Einrichtung einer Zone und der Radioaktivität in der gesamten 
Ukraine abgefunden, statt sich darüber zu empören. Kostenko kritisiert die Trägheit ihrer 
Landsleute, deren „dosiertes Bewusstsein“.
Den Gedanken an die verlorene Kultur und Geschichte, über die niemand berichte, etwa 
über eine Kirche im 300 Jahre alten Kosaken-Barock, nimmt Kostenko im Artikel aus dem 
Jahr 2000 Wir durchleben eine Wahrnehmungskrise (My pereschyvajemo kryzu 
sprijnjattja) in der Zeitschrift Urok ukrajinskoji“ wieder auf. Für die Probleme der 
Menschen sei die Staatsführung taub, es herrsche eine Wahrnehmungskrise". 
Ausgerechnet in der Sperrzone beobachte sie seit 1991 dagegen eine geistige 
Wiedergeburt, ein Erwachen der Nation, denn hier werde Kultur bewahrt und das Lachen 
gepflegt. Symbol für die Wiedergeburt ist der Storch, der zudem mehrfach in Kostenkos 
Gedichten vorkommt.
Auch in ihrem 2003 in der Zeitung Den Kyjiw“ erschienenen Artikel Die Ukraine als 
Opfer und Faktor der Globalisierung von Katastrophen (Ukrajina jak schertva i tschynnyk 
hlobalizacija katastrof) wiederholt Kostenko, noch über ein Jahrzehnt nach Erlangung der 
Unabhängigkeit werde ihre Nation vom Ausland gar nicht oder negativ wahrgenommen, 
unter anderem weil sie nach Zusammenbruch der Sowjetunion mit dem Erbe von 
Tschornobyl allein gelassen worden sei. Der neue Staat sei also mit Ballast und Minderwertigkeitskomplexen gestartet, denn die Sowjetunion habe die ukrainische Kultur 
und Sprache als provinziell und sekundär gebrandmarkt. Eine neue Politik und ein neues 
Denken seien nötig, um die Trägheit zu überwinden. Dabei betrachtet Kostenko die 
Umweltzerstörung auch im globalen Kontext.
In diesem Artikel verdeutlicht die Autorin außerdem, was die Zone bedeutet: Die 
Sperrzone ist nicht nur ein radioaktiv verseuchtes Gebiet. Sie ist ein schwarzes Loch, das 
eine gesamte ethnische Gruppe verschluckt hat, ihre Onomastik, Sprache, Geschichte, 
Bräuche, Handwerk und Kunst und zu irreparablen Deformationen der über Jahrhunderte 
geformten Seele dieser Gruppe geführt hat.“
Immer wieder prangert Kostenko an, dass die Menschen über die Havarie des Reaktors 
vom menschenverachtenden Regime zu spät und schlecht informiert worden sind. So ist 
Tschornobyl für die Autorin nicht nur eine weitere Tragödie in der nationalen Historie, 
sondern eine philosophische Grenze zwischen Leben und Tod, ein Symbol und eine 
Warnung, wozu rücksichtsloser Umgang mit der Natur und Fortschrittsglaube führen 
können. Alle haben sich an den Gedanken gewöhnt, dass es sich um eine globale 
technogene Katastrophe handelt. Doch es handelt sich auch um eine anthropogene 
Katastrophe: Der Mensch ist der Täter bei dieser Katastrophe und ihr Opfer. Und wird 
erneut zum Täter. Da aus dieser Tragödie keine Konsequenzen gezogen wurden, ist die 
Ukraine noch immer nicht gegen ähnliche Katastrophen abgesichert, heißt es im 2003 
erschienen Artikel.
In einem Interview zum Jahrestag 20. April 2006 in „day.kyiv.ua“ sagt Lina Kostenko: „Und
wissen Sie, wo ich dort die Zukunft meiner Nation gefunden habe? Auf Friedhöfen ... Tote 
Dörfer, lebende Friedhöfe ... (…) Wenn Menschen ihre kleine Heimat verlieren, beginnen 
sie zu verstehen, was eine Heimat ist.“ Ein ganzer Kontinent von einzigartiger 
ethnokultureller Bedeutung sei mit der Havarie verschwunden, erklärt Kostenko in einem 
Interview mit Stanislav Bondarenko von der Zeitung „Vitsche Kyjiw“ im März 2010. Allein in
der Sperrzone seien 4.125 Quadratkilometer und 178 Siedlungen, darüber hinaus aber 
insgesamt in der „dritten Zone“ 635 Dörfer und Städte, in denen mehr als 650.000 
Menschen lebten, also ein Gebiet größer als die gesamte Slowakei, doppelt so groß wie 
Belgien oder Israel, verloren gegangen, in dem die Menschen als ethnokulturelle Einheit 
existiert hatten.

Expeditionen
Um dieses kulturelle und ethnographische Erbe zu erhalten, engagiert sich Kostenko seit 
den 1990er Jahren auch in den Tschornobyl-Expeditionen. Dabei schrecken sie Gefahren 
wie Radioaktivität oder Plünderer nicht.
Im oben genannten Gespräch mit „Vitsche Kyjiw“ erklärt Kostenko: „Heute verfügt der 
Fonds für das Museumsarchiv unseres Zentrums über fast 42.000 historische, 
ethnografische und archäologische Exponate, fast 125.000 archivierte Dokumente, 
darunter 80.000 Fotografien und mehr als 3.000 Stunden Audio- und 
Videoaufzeichnungen (...). Basierend auf den Materialien unserer Feldforschung sind 
mehr als 30 wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Publikationen, drei CDs mit 
traditioneller Musik von Polissja und mehrere Filme entstanden.“ Mit den gesammelten 
Materialien könnte man bereits ein Museumsarchiv und einen Wissenschaftsfonds 
schaffen, um das historische Bild und ethnokulturelle Erbe der Region für die Nachwelt zu 
erhalten. Doch sei es schwierig, ausreichend große Räumlichkeiten zu bekommen.
Kostenkos Ziel ist es also, Artefakte wie Ikonen, traditionell bestickte Tücher, 
Haushaltsgegenstände – etwa 200 Jahre alte Truhen , Zeugnisse der Architektur, 
Gesänge und Sprichwörter oder Unterlagen wie Vernehmungsprotokolle und 
Rehabilitationsdokumente zu bewahren und damit soziale, historische, ethnologische, 
linguistische, archäologische und archivarische Aspekte nicht dem Vergessen zu 
überlassen, einem neuen Atlantis. Kostenko will Aufmerksamkeit für ihre Anliegen 
schaffen, denn das Erinnern sieht sie als Aufgabe von Journalist:innen und Autor:innen.

Roman
Tschornobyl bildet darüber hinaus einen roten Faden in Kostenkos erstem Prosawerk 
„Aufzeichnungen eines ukrainischen Verrückten (Zapysky ukrajinskoho 
samaschedschoho) von 2011. Kostenkos „Verrückter“ ist ein informationssüchtiger und 
hypochondrischer Intellektueller, der sich zum Chronisten seiner Zeit berufen fühlt und den
Weg der Ukraine von der Unabhängigkeit bis zur Jahrtausendwende zynisch kommentiert.
Die extensive Verwendung von Zitaten aus Zeitung, Fernsehen und Internet wurde der 
Autorin von einigen Kritikern als Ideenlosigkeit ausgelegt. Ivan Dziuba dagegen verteidigt 
das Werk als neues Genre: Ein publizistischer Roman, der die ukrainische Perspektive 
eines weltweiten Geschehens vermittle und Kostenkos Versuch, das eigene Land zu verstehen, ihre spürbare Enttäuschung über den souveränen Staat in einen Appell an die Ukrainer zu verwandeln, Verantwortung für ihre Zukunft zu übernehmen.
Mit dem Format eines inneren Tagebuchs, das Publizistisches, Philosophie und Poesie 
verflicht, sprengt Kostenko in der Tat den Rahmen eines traditionellen Romans. Die 
Collage verdichtet die kleinen und großen, angerissenen und ausführlich beschriebenen 
tagespolitischen Ereignisse in einem solchen Stakkato, dass die Leser:innen selbst 
erleben, wie der „Verrückte“ von der Informationsflut überfordert ist, die Orientierung 
verliert, ertrinkt. Das Mosaikhafte des Romans spiegelt eine moderne Zerrissenheit wider, 
auf die sich steigernde globale Schrecken ebenso einprasseln wie der familiäre Alltag, 
geprägt von Streit oder Nebensächlichkeiten. Kostenko versucht, auf diese Weise das 
Unfassbare der Gegenwart zu veranschaulichen.
Tschornobyl wird im Roman mehrfach als abgesperrte Zone erwähnt, aus der jedoch 
immer wieder etwa Weihnachtsbäume, Metall, Pilze oder Wild in den Rest des Landes 
gelangen, und als Ort, dessen Friedhöfe die Angehörigen regelmäßig besuchen.
Der „Verrückte“ zählt außerdem die Tage bis feierlich die offizielle Abschaltung des letzten 
Blocks aus dem AKW Tschornobyl im Dezember 2000 erfolgt und beschreibt ironisch, wie 
wenig es die Öffentlichkeit interessiert, dass dieser Reaktor zunächst extra wieder in 
Betrieb genommen werden muss, um dann offiziell abgeschaltet werden zu können oder 
dass er nach der pompösen Veranstaltung zwar abgeschaltet ist, aber viele weitere 
Arbeiten nötig seien, um ihn endgültig stilllegen zu können und die kontaminierten 
Hinterlassenschaften zu entsorgen. Außerdem befasst sich der „Verrückte mit der 
Schwierigkeit der Finanzierung des neuen Sarkophags.
An einer Stelle wird die Geschichte der Ukraine als eine Reihe von einschneidenden 
Ereignissen (Krieg, Revolution, Holodomor, Repression, Tschornobyl) beschrieben, deren 
vorläufiger Schlusspunkt die atomare Havarie bildet. Mit einer Reihe rhetorischer Fragen 
verdeutlicht der „Verrückte“ an anderer Stelle seine Zweifel, ob Russland sich je zu seiner 
Verantwortung bekennen, sich entschuldigen könnte für das Unrecht, das es am eigenen 
und anderen Völkern begangen hat, auch: „Für das Kernkraftwerk Tschernobyl, das unser 
Land und das unserer Nachbarn vergiftet hat.“

Gedichte
Geboren in Rschyschtschiw bewahrte Kostenko diese Landschaft und Kindheit am Dnipro 
als Idylle in ihrem Herzen und in ihrer Dichtung. In ihrer frühen Lyrik erinnert Kostenko mit 
animistischen Naturbeschreibungen an die paradiesische Zeit ihrer Kindheit am Dnipro. 
Diese Darstellungen von Natur und Emotionen sind eher unpolitische Poetisierungen des Alltags. Insbesondere der Topos vom Garten als Ort des Trostes, als Symbol von Sicherheit und Intaktheit.
Vergänglichkeit dagegen scheint für Kostenko etwas Bedrohliches. So reflektiert sie häufig
das Vergehen von Zeit, z. B. in Natur-Motiven wie Fluss oder Weg. In ihren Versromanen 
und späteren Gedichtbänden dagegen unterstützen Landschaftsbilder den Eindruck von 
Zerstörung, insbesondere der menschengemachten, wie Krieg oder 
Umweltverschmutzung. So stehen sich symbolisch Garten und Wüste, Paradies und 
Ruinen gegenüber ebenso wie die lebendige, harmonische, detailliert beschriebene Natur 
der bedrohlichen, aggressiven Menschheit.
Nach der Havarie appelliert Kostenko in ihren Gedichten an die Menschen, die Natur zu 
erhalten und frühere Fehler nicht zu wiederholen. Dabei geht es ihr um die 
Umweltzerstörung im Allgemeinen und um Tschornobyl, aber auch Fukushima im 
Besonderen. Sie will die Erinnerung an die Katastrophe wachhalten und weiterhin 
kollektives und individuelles Gedächtnis sein.
In den Bänden Gesammelte Werke (Vybrane 1989), Der Fluss des Heraklit" (Ritschka 
heraklita 2011), Die Madonna der Kreuzung“ (Madonna perechrest 2011) und dem 
Sammelband 300 Gedichte (Trysta Poezij 2012) beschreibt Kostenko die regionale Natur
mit der typischen Fauna und Flora sowohl vor als auch nach der Katastrophe. Mal wird die
Bedrohung durch eine kranke, stille Natur, mal durch ein Phantom, mal aber auch durch 
den Überfluss der sich selbst überlassenen Natur in der Zone beschrieben, die 
verlassenen Dörfer mit ihrer traditionellen Architektur, die Wälder als Sitz der heidnischen 
slawischen Götter.
Die Idylle der Natur kontrastiert mit der todbringenden Zivilisation. Gleichzeitig ist 
Tschornobyl bei Kostenko keine tote, sondern eine wiederbelebte Zone, eine Ukraine, die 
nicht unterzukriegen ist, eine Tragödie, die optimistisch endet.
Typisch für Kostenkos Dichtung sind reine, neoklassische Formen ohne formale 
Experimente. Hinter dem lakonischen Ton verbirgt sich eine deutliche Ironie. Die 
Intellektualität ihrer Lyrik spitzt sich in den für sie typischen Wortspielen und Aphorismen 
zu, die häufig Verseinheiten abschließen und so am Schluss Bedeutungen setzen. Die 
detailreichen und genauen Oberflächen bergen tiefe Subtexte. Rhythmen, Reime und 
iterative Strukturen verleihen den Gedichten große Musikalität. Ebenso wichtig ist der 
Dichterin das optische Element, das insbesondere durch Farbbezeichnungen und 
Kontraste hervortritt und ihrer Lyrik den oft bescheinigten plastischen, reliefartigen Charakter verleiht. Die ungewöhnlich hohe Zahl an Neologismen dient vor allem der Farbgebung und der Kreation origineller Reime. Ellipsen, unerwartete Wendungen, 
unausgesprochene Alternativen, unterbrochene Linien überraschen die Leser:innen.
Der Ton der Dichterin verschärft sich in ihren späteren Gedichtbänden, in denen sie sich 
auch mit Tschornobyl und den Folgen auseinandersetzt. Die Ironie erhält einen 
tragischeren Unterton. Die Form wird aphoristischer und prägnanter. Der Anspruch bleibt 
intellektuell bis philosophisch.

Kostenko übersetzen
Da Kostenko weder Slang noch Jargon verwendet, sondern einen hohen 
schriftsprachlichen Sprachstandard, stellt die reine Erfassung und Übertragung der Worte 
eine:n Übersetzer:in kaum vor Schwierigkeiten.
Die Herausforderung liegt vielmehr einerseits darin, dass Kostenko als virtuose Dichterin 
auf der Ebene von Phonetik, Reim oder Assoziationen vieles in künstlerischer Form 
ausdrückt, das über die reine Wortbedeutung weit hinausgeht und in einer anderen 
Sprache schwerlich Äquivalente findet. Das betrifft also die generelle Problematik des 
Übersetzens von Versen, bei der Übersetzer:innen stets zwischen technischer Übersetzung 
und freier Nachdichtung wählen müssen.
Im Roman Aufzeichnungen eines ukrainischen Verrückten sind der Gedankenstrom und 
die Emotionen (Verbitterung, Enttäuschung, Überdruß, Unverständnis) des Erzählers 
zudem in langen, verschachtelten Sätzen und zahlreichen Füllwörtern ausgedrückt, deren 
Mehrdeutigkeit und scharfe Ironie in der Übersetzung eingefangen und deren Dynamik im 
Deutschen wiedergegeben werden muss.
Andererseits müssen Übersetzer:innen beim Thema Tschornobyl davon ausgehen, dass ein:e 
Rezipient:in ein medial überformtes Bild im Kopf hat und wenig Vorwissen über die 
Realität der Region - eine Problematik, die mich oben zu längeren Ausführungen verleitet 
hat. Diese übersetzerische Herausforderung betrifft den Roman, das Drehbuch und die 
publizistischen Texte von Kostenko.
Gerade in den Aufzeichnungen eines ukrainischen Verrückten“ kommen neben 
Tschornobyl zahlreiche weitere Themen vor, die Kostenkos Verrückter nur anreißt. 
Anspielungen, die somit nur für zeitgenössische Landsleute verständlich sind, so dass 
den deutschsprachigen Rezipient:innen zahlreiche Assoziationen entgehen könnten, weil 
Hintergründe und Kontexte fehlen. Ein Beispiel dafür, das mehrmals im Roman Kostenkos 
unter den Schlagworten Gongadse, Kassettenskandal oder Leiche von Taraschtschan Erwähnung findet, ist die Ermordung des Journalisten Heorhij Gongadse im Jahr 2000 und der damit zusammenhängende Skandal um den damaligen ukrainischen Präsidenten.

Warum also Kostenko übersetzen?
Wie bei Hundorova wird in Kostenkos Werk und Engagement spürbar, dass die Havarie 
eine Grenze darstellt, hinter der die Endlichkeit beginnt: das Ende einer intakten Umwelt, 
einer ethnokulturellen und historischen Region, eines ideologischen Systems, das Ende 
der Fähigkeit zu verstehen und zu erzählen, aber gleichzeitig der Anfang von etwas, das in
der Ukraine in den späten 1980ern und frühen 1990ern begonnen hat, nämlich einer 
Explosion kultureller Diversität. Tschornobyl ist daher nicht nur ein geopolitisches und 
ökologisches Ereignis, sondern auch ein kulturelles, dessen Einfluss auf die ukrainische 
Kultur am besten durch die Augen von Kostenko und Hundorova zu sehen ist, wie Olga 
Kerziuk am 26. April 2016 in einem britischen Blog zu Hundorovas Post-Tschornobyl 
Bibliothek schrieb.
So mögen die ukrainischen Stimmen im medial überformten Bild der Katastrophe von 
Tschornobyl noch wenig gehört werden, doch sie sind da und die von Lina Kostenko 
äußert sich vielfältig in Dichtung, Prosa, Appellen und Sammeltätigkeit. Sie sollte auch im 
Ausland gehört werden.
Kostenkos Berufung, ihre Wahrheit zu verkünden, ihre Landsleute aufzurütteln, ist in ihrer 
Dichtung spürbar. Das erkennt auch der in den 1980ern berühmt gewordene postmoderne 
Autor Jurij Andruchowytsch an, der in einer Würdigung zu Kostenkos 90. Geburtstag in der
Zeitung Dscherelo“ schreibt: „Lina Wasyliwna ist eine Vertreterin der klassischen, 
romantischen Ausprägung des Dichters. Der Dichter im Kontext von Lina Kostenko ist ein 
Geschöpf, das dazu berufen ist, den Menschen etwas außergewöhnlich Wichtiges zu 
sagen. Und um dazu fähig zu sein, muss man über dem allem stehen.“ So gilt Kostenkos 
Werk Jurij Nykolyschyn als Gebet für die Ukraine". Ihre Tochter Oksana Pachlowska 
bezeichnete ihre Poesie als „Aufstand“. Und im Nachwort von „Lina Kostenko. Und wieder 
ein Prolog“ schreibt Alla Paslawska: „Die Bandbreite ihrer Leserschaft ist groß, von 
verliebten Teenagern bis zu ergrauten Liebhabern des lyrischen Worts. Deshalb kommt 
ihre Dichtung auch dem Gewissen des ukrainischen Volks gleich, das jeden anspricht; es 
ist die von Hungerkatastrophen, Kriegen und nuklearen Katastrophen gepeinigte und bis 
heute nicht ausgeheilte Seele der Nation, aber auch jene unbezwingbare skythische 
Frauengestalt, die alle Schreckensjahre überdauert hat und keine Kompromisse eingegangen ist. Um die Ukraine zu verstehen, sollte man die Texte von Lina Kostenko verstehen.“