Kontext

Andrej Kurkow: Zur Entstehung des Romans „Die Schlüssel Marijas“

Wenn zwei Personen einen Roman schreiben, ist das ein bewusstes Wagnis. Es ist vor allem deshalb ein Wagnis, weil das Resultat einer solchen Arbeit unvorhersehbar ist und es ist ebenso unkalkulierbar, ob die Arbeit überhaupt abgeschlossen werden kann. Die ganze Arbeit zu zweit ist schließlich in mehrfacher Hinsicht eine Herausforderung: Ein Härtetest für Toleranz und für das Zusammenspiel der Gedanken und ihrer Flexibilität, und es ist eine Probe für die Freundschaft und beinhaltet zudem weitere kleine Prüfungen.

Wir hatten uns über zehn Jahre auf die Arbeit an diesem Roman vorbereitet. Der künftige Verleger des Romans, Oleksander Krasovyckyj träumte davon, dieses Projekt zu verwirklichen. Er unterstütze unsere gelegentlichen Treffen, bei denen wir die Romanhandlung und andere Details besprachen, auf jedwede Art. Er organisierte und bezahlte unsere meist einwöchigen Treffen auf der Krym oder in den Karpaten, wo wir uns zurückziehen und auf den Roman konzentrieren konnten und es möglich war, für den Moment alles andere zu vergessen. Die Zusammenkünfte waren auch deshalb unumgänglich, da Jurko Vynnyčuk in Vynnyky bei Lviv und ich in Kyjiv lebe.

In Laufe der Jahre entstand in unseren Köpfen ein und derselbe Roman, aber im Grunde genommen waren es zwei Romane, aus denen wir einen Roman mit zwei Autoren machen mussten.

Eine unvergessliche und sehr produktive Reise führte uns ins „Sanatorium Levada“ auf der Krym, wo wir umgeben von sowjetischer Nomenklatura-Barock durch die noch immer zaristische Parkanlage spazierten und über die Krym und Istanbul als Handlungsorte unseres Romans nachdachten.

Zu Beginn hatten wir die Idee gehabt, eine originelle Parodie auf den „Da Vinci Code“ zu schreiben mit zwei parallel verlaufenden Handlungsebenen, die eine im 12. Jahrhundert angesiedelt, die andere in der Gegenwart. Damit sollten sich die Routen auf der biblischen Landkarte mit den heutigen Routen auf der touristischen Landkarte der Region überschneiden – womit die geheimnisumwitterte Vergangenheit die Gegenwart einholt und sie weniger vorhersehbar gestaltet.

Übrigens waren wir im Oktober 2013 auf der Krym, einen Monat bevor die Majdan-Revolution begann und ein Viertel Jahr vor der Annexion der Krym durch Russland. Nach dieser Annexion verging uns die Lust, das Krym-Motiv in unserem Roman einzubauen. Die Krym findet sich immerhin in der Erinnerung einer der Hauptpersonen des Romans.

Bevor sich dann jeder von uns an seinen Computer setzte, stimmten wir den Verlauf des Sujets in groben Zügen ab, oder genauer gesagt, Sujets und Nebensujets. Und wir teilten die Romanwelt unter uns auf: Jurko übernahm das 12. Jahrhundert mit Jerusalem, Syrien und anderen biblischen Orten, außerdem Polen zu Beginn und während des Zweiten Weltkriegs. Mir fiel die Arbeit an der Gegenwart zu. Entsprechend konzipierte auch jeder von uns seine eigenen Haupt- und Nebenfiguren. Und dann machten wir uns mit angehaltenem Atem an das Verfassen der ersten Kapitel. Jeder von uns schrieb drei Kapitel, die wir dann, wie in der Planung des Romans vorgesehen, zusammenfügten und in denen sich die Gegenwart mit der Vergangenheit kreuzt. Wir lasen sie und diskutierten die vielen neu entstandenen Fragen. Diese betrafen Rhythmus, Melodie und Intonation, die Ereignisdichte einzelner Kapitel und anderes mehr. Wir begannen an den Texten des anderen zu feilen, sodass aus der doppelten Autorschaft eine wirklich gemeinsame wurde. Das war letztendlich auch das Ziel unserer Bemühungen.

Wir arbeiteten sehr intensiv an dem Roman, praktisch an einem Stück, dabei telefonierten und schrieben wir uns ständig. Irgendwann als der Roman etwa zur Hälfte fertig war, fuhr ich wegen weiterer Absprachen für einige Tage nach Lviv zu Jurko Vynnyčuk. Vor unseren Diskussionen tranken wir in bester Absicht quasi prophylaktisch Wein, um allen strittigen Punkten tolerant zu begegnen. Zu dem Zeitpunkt hatten wir beide eine Reihe von Vorschlägen für den anderen. Wir begannen uns bei unserem Mit-Autor in die Handlungsstränge einzumischen, was überaus produktiv war. Wir bügelten Widersprüche in der Handlungsführung aus und wählten sorgfältig Stellen, an denen sich unsere Handlungsstränge verknüpfen konnten, ihr Zusammenhang und die Verflechtungen deutlich wurden.

Als die erste Fassung des Romans so weit fertig und frei gegeben war, las ich noch mindestens zweimal, was Jurko Vynnyčuk geschrieben hatte; er und seine Frau Myroslava lasen meinen Teil. Danach tauschten wir abermals Kommentare und Vorschläge für Änderungen aus.

An dieser Stelle sei angemerkt, dass Jurko Vynnyčuk seinen Teil des Romans Ukrainisch schrieb, aber nicht einfach Ukrainisch, sondern im Lemberger Stadtdialekt, während ich meinen Russisch schrieb. Im Weiteren übersetzte ich meinen Teil selbst ins Ukrainische und ließ die Übersetzung Jurko und seine Frau Myroslava redigieren. Jurkos Teil übersetze ich wiederum ins Russische. Die Arbeit an der Übersetzung zog mich so in ihren Bann, dass ich erst nach ihrer Fertigstellung bemerkte, dass meine russische Variante von Jurkos Texts in stilistischer Hinsicht meinen eigenen Text in den Schatten stellte! Nach einigen Stunden wie in Trance, setzte ich mich abermals an meinen Text und begann ihn zu verfeinern. Lektorat und Bearbeitung des Romans zog sich noch einige Monate hin. Schließlich las auf meine Bitte hin der namhafte ukrainische Schriftsteller und Diplomat Jurko Lysenko (Pozajak) den Roman „Die Schlüssel Marias“ aufmerksam durch und konstatierte, der Roman vermittle den Eindruck, er sei nur von einem Autor verfasst worden. Genau das war unser Ziel gewesen. Nachdem auch unser Verleger Oleksander Krasyckyj sowie einige ausgewählte Leser diesen Eindruck bestätigt hatten, gaben wir grünes Licht für die Veröffentlichung.