Vom Spiel nationaler Stereotypen während der Fußball-Europameisterschaft 2012
Sie ist nicht zu übersehen: die „deutsche“ Matrjoschka im ukrainischen Charkiw. Es ist Juni 2012, Fußball-Europameisterschaft. Drei Vorrundenspiele finden in Charkiw statt. Und jedes Gastland wird mit einer Riesen-Matrjoschka am Eingang der Fan-Zone begrüßt – Trachten, Blumen und Nationalfarben stehen symbolisch für Dänemark, Deutschland, die Niederlande und Portugal. In den Matrjoschkas stecken Vorstellungen des Gastgebers über die Gastländer: Die „Portugiesin“ trägt große goldene Ohrringe, die „Niederländerin“ hält Tulpen in der Hand, und die „Deutsche“ hat blonde Zöpfe.
Aber nicht nur der Eingangsbereich der Charkiwer Fan-Zone wartet mit Vorstellungen über andere Nationen auf. Auch die Zeitungsberichte zum Thema Fußball sind Spielfeld nationaler Stereotypen. Einen Tag vor Beginn der EM, am 7. Juni, ließ die auflagenstarke Komsomol’skaja pravda v Ukraine ihre Leser im Charkiw-Teil wissen, worauf sie sich in den folgenden Tagen einzustellen hätten. Die „Niederländer“ seien „durchaus harmlose“ Gäste – nicht aggressiv, aber laut und sehr auffällig. Die „Dänen“, so erklärte die Komsomolka, seien „wie alle Skandinavier ruhig und emotional zurückhaltend“ – und würden stets dienstbeflissen lächeln. Die „Portugiesen“ seien kommunikativ und neugierig, würden eher still mit ihrer Nationalelf mitfiebern – wenngleich sie emotionaler als die Dänen seien. Die „Deutschen“ würden „maßlos Bier trinken“, und von ihnen sei alles zu erwarten: von aggressivem Verhalten bis hin zu richtigem Rowdytum.1
Einen Tag nach dem Spiel Niederlande-Deutschland änderte sich das Bild über die Gäste schlagartig. Eine Charkiwer Zeitung zitierte den Direktor des städtischen Departements für Fragen der Vorbereitung der Fußball-EM 2012 mit den Worten: „Der Unterschied zwischen holländischen und deutschen Fans besteht für mich nur in der Farbe der Kleidung. Die Deutschen breiten sich genauso aus, sie unterstützen ihr Team auf eine emotionale Weise, dabei verhalten sie sich angemessen, sind fröhliche Leute, und die Charkiwer haben von ihnen keine Unannehmlichkeiten zu befürchten.“2
Verhalten und Aussehen der Besucher waren aber nur ein Thema. Ein anderes Thema, das immer wieder „aus der Tiefe des Raumes“ kam, war „Europa“. „Wie wir die Fans aus Europa aufnehmen und unterstützen, wirkt sich auf das Image aus, das sich für viele Jahre über unser Land festsetzen kann“, stellte ein Journalist fest.3 Aus Charkiw wurde erleichtert gemeldet: „Zugegebenermaßen haben wir mit den Gästen aus Europa Glück gehabt: Sie sind – auch wenn sie alkoholisiert sind – gutherzig, lustig und völlig friedfertig.“4 Nach der Halbzeit der EM hieß es selbstsicher: „Dank der ‚Euro 2012‘ haben die Europäer ein komfortables und freundliches Land an ihrer Seite entdeckt.“5 Kurz vor dem Finale ist ein einer weiteren Tageszeitung zu lesen: „schlussendlich haben schon einige zehntausend ausländische Touristen die Ukraine besucht, das heißt Europa selbst ist zu jenen Ukrainern gekommen, die niemals die finanziellen Möglichkeiten haben werden, dorthin zu fahren.“6
Die meisten der ukrainischen Berichterstatter verstehen Europa als etwas „Anderes“, das sich „irgendwo dort“ befindet. Dabei ist die Ukraine ein Teil Europas. Auch in Deutschland wird diese Tatsache manchmal vergessen. Zum Beispiel dann, wenn mit Blick auf die Ukraine von „Nicht-Europa“ gesprochen wird, aber eigentlich die Nicht-Zugehörigkeit zur Europäischen Union gemeint ist. Durch diese sprachliche Ungenauigkeit gerät die Ukraine im Europa unseres Bewusstseins ins Abseits.
Und die nationalen Stereotypen? Nur auf den ersten Blick sind sie eindeutig. Dann folgen die Fragen: Welche für unser Land „typische“ Blumen hält eigentlich die deutsche Matrjoschka in der Hand? Und warum wurden gerade Matrjoschkas, die zur russischen und nicht zur ukrainischen Kultur zählen, als Stellvertreterinnen für westeuropäischen Gastländer gewählt? Übrigens: nach Meinung der Ausrichter der Fan-Zone haben wir es hier nicht mit Matrjoschkas zu tun, sondern mit „Fan-Puppen“.7 Wie auch immer. Die deutsche Matrjoschka, auf einem kleinen grünen Kunstrasen mit weißer Netz-Umzäunung thronend, hat sich jedenfalls im Charkiwer Spiel Deutschlands gegen die Niederlande als Glücksbringer entpuppt.
Text und Fotos: Jenny Alwart
1 Irina Zozulja, Jurij Zinenko: Bolel’ščiki-inostrancy v Char’kove ustrojat marš po Sumskoj i spojut v transporte. In: Komsomol’skaja pravda v Ukraine, Nr. 121, 7.6.2012, S. 10.
2 Nemcy v vostorge ot ukrainskogo gostepriimstva, a gollandcy udivleny cenam na žilë. In: Večernyj Char’kov, Nr. 63, 14.6.2012, S. 1 und 3, hier S. 1.
3 Imidž: Sejčas politiki uže ne v sčet. In: Segodnja, Nr. 125, 8.6.2012, S. 2.
4 Jurij Zinenko: Tysjači vypitych litrov piva i ni odnoj draki. In: Komsomol’skaja pravda v Ukraine, Nr. 125, 12.6.2012, S. 5.
5 Irina Solomko: Otkrytie Ukrainy. In: Korrespondent, Nr. 24, 22.6.2012, S. 20-23, hier S. 21.
6 Serhij Hrabovs’kyj: Čy zdobude ukraïns’ka nacija spravžnju jednist’ na grunti futbolu? In: Den’, Nr. 110-111, 27.-28.6.2012, S. 4.
7 Elena Pavlenko: V fan-Zone – gigantskie matreški i mjagkie divany. In: Komsomol’skaja pravda v Ukraine, Nr. 119, 5.6.2012, S. 6.