Ein Essay von Claudia Dathe
Wenn ich die Übersetzung eines Textes beginne, beginne ich gleichzeitig einen Dialog mit dem Text und mit der Autorin. Ich mache mir Gedanken über das Gesagte und das Gemeinte, über das Umfeld, in dem der Text entstanden ist, ich entdecke gemeinsame Erfahrungen, spüre das Engagement, die Begeisterung, die Lust und auch den Schmerz, mit dem die Autorin den Text verfasst hat.
Ich begegne Haska Schyjan zum ersten Mal, als ich ihren Text „Nein“ bedeutet nicht „vielleicht doch“ für das Berliner Festival Metamorphosen im Dezember 2019 übersetze, in dem die Autorin im Kontext der #Metoo-Debatte über Weiblichkeit und Sexualität in der postsowjetischen Ukraine schreibt. Gleich zu Beginn ihres Aufsatzes plädiert sie für eine Berücksichtigung unterschiedlicher historischer und gesellschaftlicher Entwicklungen in den beteiligten Ländern und lässt eine differenzierte Analyse der historischen Entwicklungen in der Ukraine folgen, die von der Auseinandersetzung mit dem Mythos der sexuellen Freiheit nach der Oktoberrevolution über die Folgen des Zweiten Weltkriegs für Weiblichkeit und Emanzipation, die Veranschaulichung der sowjetischen Lebensverhältnisse der 1970er und 1980er bis hin zur Beschreibung von weiblicher Anziehungskraft als einer tauglichen Ware in der Wirtschaftskrise der 1990er reicht. Ich lese Haska Shyjan als eine Autorin, die mit ihrem Artikel Erkundungen anstellen und dem Leser vermitteln will, wie sich Weiblichkeit und Sexualität in der Ukraine in den letzten einhundert Jahren entwickelt haben, ich spüre ihr Interesse an dem Thema, ihre Neugier und den Wunsch, die Verhältnisse so differenziert wie möglich darzustellen, nicht zu werten und nicht in Stereotype zu verfallen. Der Artikel ist für das Festival Metamorphosen. Me too und Feminismus in Ost und West verfasst worden, in dem Autorinnen, Politikwissenschaftler, Aktivisten und Soziologinnen aus verschiedenen europäischen Ländern in einen Dialog treten, Haska Shyjan stellt die ukrainischen Entwicklungen nicht nur dar, sondern verflicht sie mit Entwicklungen in anderen europäischen Ländern, stellt die ukrainischen Besonderheiten heraus. Dieses komparatistische Herangehen ist ihre Methode des Schreibens und öffentlichen Agierens: Sie beobachtet gesellschaftliche Entwicklungen in verschiedenen Ländern und stellt sie dar, ohne zu werten, sodass der Leser sich selbst ein Bild machen und seine Schlüsse ziehen kann.
Erfahrungsraum: Postsowjetischer Überlebenskampf in den 1990ern
Haska Shyjan wurde 1980 in Lwiw geboren, und die Zeit ihres Erwachsenwerdens fiel zusammen mit dem Zerfall der Sowjetunion und den ersten Jahren der ukrainischen Unabhängigkeit, die geprägt waren von einem Verlust der bisherigen Lebensgrundlage, der Sicherheit und von großer Armut. Diese prägende Zeit der Unsicherheit und des materiellen Mangels bei gleichzeitiger totalen Entwertung der geistigen Arbeit, wie sie am Beispiel ihrer Eltern nach 1991 erleben musste, veranlassten sie dazu, sich auf die Schaffung eines stabilen Einkommens zu konzentrieren. Das tat sie, indem sie zunächst in einem Lehrbuchvertrieb arbeitete und später selbst mit HalinBook einen Laden eröffnete, der Fremdsprachenlehrbücher vertrieb. Sie sagt dazu in einem Interview: „Ich war so pragmatisch, weil ich gesehen hatte, wie schwer es meine intelligenten Eltern in den 1990ern hatten, und ich wollte nicht dieselben Erfahrungen machen wie sie, ich wollte finanziell unabhängig sein.“ Die Erfahrung der Instabilität, Desorientierung und des Mangels in den 1990er Jahren fließt an vielen Stellen in ihre Arbeit ein, so unter anderem im Roman Hinter dem Rücken, in dem die Protagonistin Marta sich mit einem gut dotierten Job als Personalmanagerin finanzielle Unabhängigkeit sichert und ihre Mutter als Pflegerin nach Neapel emigriert. Shyjan teilt diese Erfahrung mit anderen Autorinnen ihrer Generation. So greift etwa Tanja Maljartschuk, Jahrgang 1983, ähnliche Erfahrungen in der Erzählung Neunprozentiger Haushaltsessig auf.
In ihren Texten, aber auch in ihren Beiträgen in aktuellen gesellschaftlichen Debatten widmet sich Shyjan den verschiedensten Facetten von Weiblichkeit und den gesellschaftlichen Veränderungen, die sich aktuell in der Ukraine in Fragen der Geschlechtergerechtigkeit und Körperlichkeit vollziehen. Sie beschreibt postsowjetische Mannweiber, junge Mütter mit gut verdienenden Ehemännern, die in die Elternzeitfalle geraten und jegliche persönliche Ambitionen begraben, Arbeitsmigrantinnen, die in den 1990ern in ausweglosen materiellen Situationen die Ukraine verlassen und sich dauerhaft oder zeitweise in Italien, Spanien und Portugal niedergelassen haben. Sie zeigt Frauen, die ihren Körper pflegen, um bei Männern gut anzukommen und in einer wohlkalkulierten Partnerschaft materielle Vorteile durch körperliche Wohlgestalt zu erlangen. Und Shyjan spricht über die alltägliche Gewalt gegen Frauen, die in der Gesellschaft weiterhin tabuisiert ist. Ihre Schreib- und Diskussionshaltung ist dabei immer geprägt von Offenheit und Neugier, sie möchte ihr Gegenüber nicht belehren, sondern zum Nachdenken über die eigenen Positionen, zur Reflexion bewegen. Ausgangspunkt dieser Haltung ist ihr Credo der Freiheit, das Leben gemäß der eigenen Werte und Ansichten zu gestalten, eine Freiheit, die sie auch allen anderen zugesteht. Im Roman Im Rücken beklagt ihre Protagonistin Marta nicht von ungefähr die gegenwärtige Lage, die von diesem Idealzustand noch weit entfernt ist: „Befreiung aus der Leibeigenschaft und Liberalismus, die der einfachste Weg wären, damit jeder das Leben leben könnte, in dem er sich wohlfühlt, kommen noch nicht so bald in diese Seelen und Körper. Vielleicht kommen sie überhaupt nie.“
Roman Hinter dem Rücken
Im Jahr 2019 wurde Haska Shyjan für ihren Roman Im Rücken mit dem Europäischen Literaturpreis ausgezeichnet. Der Roman zeichnet ein Porträt der gegenwärtigen ukrainischen Gesellschaft, die noch immer im Prozess der postsowjetischen Transformation steckt und mit dem im Osten des Landes bereits seit 2014 andauernden Krieg und dessen Folgen konfrontiert ist. Im Zentrum des Romans steht Marta, eine junge Frau, gut verdienende Personalmanagerin in einem aufstrebenden IT-Unternehmen. Ihr Freund, mit dem sie zusammenlebt, meldet sich als Freiwilliger für die ukrainische Armee. Marta akzeptiert diese Entscheidung, zeigt allerdings keine rückhaltlose Unterstützung. Zwar engagiert sie sich ehrenamtlich in einem Verein, der den ukrainischen Soldaten Carepakete an die Front schickt, möchte aber ihre persönlichen Vorstellungen von einem glücklichen Leben nicht aufgeben und verweigert sich der bedingungslosen Hingabe ans Vaterland. Sie konstatiert: „Der Schweiß rinnt zwischen den Brüsten hinab, und wenn mein Herz schneller und lauter schlägt, pulsieren die Wunden stärker, die mir bewusst machen, dass menschliche Opfer in Revolutionen und Kriegen immer für umsonst sind. Jedes einzelne Opfer hätte noch weiterleben und andere Menschen mit seinem Dasein bereichern können.“ Shyjan reagierte mit ihrem Roman auf den russisch-ukrainischen Krieg in der Ostukraine, der unerwartet ausgebrochen war, als nach der Euromaidan-Revolution in einigen östlichen Landesteilen die staatlichen Strukturen kollabierten, der öffentlichen Kontrolle entglitten und der Konflikt zwischen Euromaidan-Anhängern und -Gegnern militärisch – mit aktiver russländischer Unterstützung – eskalierte. Shyjan beschreibt ihre Reaktion wie folgt: „Wenn so etwas mir dir passiert, siehst du die Dinge plötzlich ganz anders. Das ist kein Gemälde mehr oder eine Erinnerung an das, was zu Hause vom Krieg erzählt wurde, sondern es ist dein Leben. Und du begreifst auf einmal, dass du die Geschichte nicht romantisieren willst, sondern dass du am liebsten fliehen möchtest – das ist eine normale menschliche Reaktion. Es gibt innerlich starke, tapfere und mutige Menschen, die bereit sind zu kämpfen. Aber die meisten von uns sind anders, so ist es nun mal. Wir haben Angst. Und das ist auch ein Leitmotiv in meinem Roman Im Rücken.“
In ihrem Roman thematisiert Shyjan allerdings nicht nur den Krieg im Donbass, sondern lässt auch zahlreiche andere Beobachtungen über die ukrainische Gesellschaft in den Text einfließen. Zentral sind auch hier die Themen Freiheit, selbstbestimmtes Leben, häusliche Gewalt und das Rollenverständnis von Frauen. Die Protagonistin Marta verkörpert die Suche nach einem selbstbestimmten Leben und grenzt sich von Personen in ihrem Umfeld ab, die einem traditionellen Rollenverständnis verhaftet sind und dieses in ihren Ansprüchen und Erwartungen auf Marta übertragen. Als sie eine Freundin mit einer Schülergruppe zu einem Ferienaufenthalt nach Paris begleitet und der Enge ihrer unmittelbaren Umgebung entflohen ist, konstatiert sie: „Ich ertappe mich bei dem Gedanken, dass ich die Situation zu Hause endlich als Außenstehende, als Beobachterin wahrnehmen kann und jetzt den sozialen Druck los bin, mich immer patriotisch korrekt zu verhalten. Hier erwartet keiner von mir, dass ich einen Haarkranz trage, Poledance mache und Volkslieder singe.“ Immer wieder stellt die Protagonistin in ironischen Beobachtungen und Reflexionen ihre Umwelt bloß, die noch immer in traditionellen Vorstellungen von Weiblichkeit verhaftet ist und die unter anderem am 8. März, dem in der Ukraine traditionell ausgiebig begangenen Internationalen Frauentag, völlig unreflektiert verbreitet werden: „Die Gratulanten denken allen Ernstes, dass du als richtige Frau endlich erfahren willst, worin denn nun eigentlich dein wahres Glück besteht und du nur auf die üblichen Standardantworten gewartet hast. Die du alle in den üblichen Grußkarten nachlesen kannst, in denen sich Erfolg in der Arbeit, wunderschönes Wetter, leidenschaftliche Liebe tadellos reimen auf brave Kinder und auf Abstand gehaltene Schwiegermütter neben der Kurierung des schnarchenden Ehemanns durch dessen Versendung auf Dienstreise.“
Auf der besagten Ferienreise lernt Marta Xavier kennen und geht mit ihm eine Sommerbeziehung ein. Diese Verlagerung der Handlung nutzt Shyjan, um Erfahrungen und Sozialisierungen im (post)sowjetischen Raum denen im westlichen Europa gegenüberzustellen und somit die divergierenden Erfahrungsräume in Austausch zu bringen.
Beobachtungen
Haska Shyjan liebt nicht nur Schreiben und Diskutieren, sie reist auch gern und lässt ihre Leserinnen und Freunde mit Fotos und kurzen Texten auf Facebook an ihren Beobachtungen und Erlebnissen teilhaben. Man sieht sie mit Sonnenbrille, High Heels, Hut und bunt gemusterter Bluse im Café, auf einem Bürostuhl im Wald, auf einem Sofa vorm Haus oder einfach bei Telefonieren in der Küche. Ihre fotografischen Inszenierungen verraten Lebensfreude und Lust an der Provokation. Shyjans Haltung ist die der teilnehmenden Beobachtung, und in ihrer Lebens-, Reise- und Beobachtungslust erinnert sie an die ukrainische Autorin Sofia Yablonska. Yablonska wurde 1907 in der Nähe von Lwiw geboren, kam nach dem Zusammenbruch des Habsburger Reiches und den Bürgerkriegswirren zunächst mit ihrer Familie nach Russland und ging 1921 nach Lwiw, wo sie unter anderem einen Kurs für unternehmerische Tätigkeit absolvierte und zwei Kinos betrieb, um Geld für einen Paris-Aufenthalt zu verdienen. 1926 trat sie ihre geplante Reise nach Paris an, studierte, schauspielerte und schrieb, ehe sie zu Reisen nach Marokko, Asien und in den Pazifik aufbrach. Obwohl ihr Lebensmittelpunkt Paris blieb, schrieb sie ihre Reiseberichte auf Ukrainisch und veröffentlichte sie in Lwiw. In ihrem Travelogue Der Charme von Marokko beschreibt sie ihre Beobachtungen und Erlebnisse in Marrakesch und auf einer Tour in den zu jener Zeit nicht von Frankreich kontrollierten Gebiete Marokkos, die Reportage Im Land von Reis und Opium erzählt von ihren Reisen durch China, die Sammlung Weite Horizonte von weiteren Reisen in nichteuropäische Länder. Wie Shyjan konzentriert sich Yablonska in ihren Ausführungen auf die eigenen Beobachtungen und enthält sich weitestgehend der Wertungen. Ihre Texte eröffnen den Leserinnen in Lwiw Einblicke in die fremden Gesellschaften aus der weiblichen Perspektive, die gespeist ist von Neugier, Offenheit und Wertschätzung. Diese Haltung liegt auch den Texten von Haska Shyjan zugrunde. In ihrer Reisereportage Im Land von Reis und Opium beschreibt Yablonska die Schwierigkeiten, den chinesischen Alltag im Foto einzufangen, weil viele Menschen in der chinesischen Provinz zu Beginn der 1930er Jahre noch keine Bekanntschaft mit dem Medium Fotografie geschlossen haben, sowie ihre Freude über gelungene Aufnahmen aus dem alltäglichen Leben. Auch für Haska Shyjan ist die Fotografie ein wichtiges Mittel, um alltägliche Beobachtungen, insbesondere auf der Straße, einzufangen. Anders als Yablonska verfasst Shyjan allerdings keine Reisereportagen, sondern lässt die Beobachtungen aus den Reisen mit einem gewissen zeitlichen Abstand in ihre Arbeiten einfließen.
In anderen Sprachen schreiben
Haska Shyjan ist mit ihrem mobilen Leben in vielen Ländern, Sprachen und Kulturen zu Hause und hat auch schon einige Versuche unternommen, Skizzen auf Englisch zu verfassen. Den Schreibprozess in einer fremden Sprache beschreibt sie als eigenen kreativen Prozess, denn der Gegenstand des Schreibens, so Haska Shyjan, wandele sich während der Arbeit. Daran könne man erkennen, dass die Sprache unsere Persönlichkeit, unsere Stimme, unsere Intonation, den Klang unserer Stimme verändere und forme, ein beinahe magischer Prozess sei. Manchen Dinge, so Shyjan ließen sich in einer Sprache besser ausdrücken als in einer anderen.
Text und Foto
Haska Shyjan schreibt nicht nur, sie dokumentiert auch viele Beobachtungen mit Hilfe von Fotos. Dabei speist sich ihr Interesse an Texten und Fotos aus derselben Quelle, nämlich aus einer stark auf das Visuelle orientierten Wahrnehmung. In der professionellen Umsetzung ist für sie das Schreiben einfacher als das Fotografieren, da das Fotografieren einen höchst professionellen Umgang mit der Ausrüstung, verschiedenen Kameras und Objektiven erfordert, die obendrein auch immer mitgeführt werden müssen und in den seltensten Fällen unbemerkt aufgestellt werden können, was Shyjan gern tun würde, um die von ihr favorisierten Straßenszenen fotografisch festzuhalten.
Haska Shyjan übersetzen
Als Übersetzerin und Kulturvermittlerin ist es mir ein wichtiges Anliegen, Verständnis- und Dialogräume zu öffnen, in denen die Leserinnen der übersetzten Texte oder die Besucher von Literaturveranstaltungen in die Lage versetzt werden, ausgehend von ihren persönlichen Erfahrungen an die historischen und gegenwärtigen Erfahrungen von Menschen und gesellschaftlichen Gruppen in anderen Ländern und anderen Kulturen anzuknüpfen, sich fremden Wahrnehmungen zu nähern und sie mit den eigenen Erfahrungen zu kontrastieren. Diese vermittelnde, dialogische Haltung finde ich auch in den Texten von Haska Shyjan. Ihr Plädoyer für Freiheit, selbstbestimmtes Leben und emanzipierte Weiblichkeit vermittelt die Autorin oft mit Hilfe von Ironie. Wichtig ist es also im Übersetzungsprozess, die richtigen sprachlichen Mittel zu finden, um der Dringlichkeit Ausdruck zu verleihen und gleichzeitig den lockeren Ton von Shyjans Texten zu erhalten. Obwohl das nicht so kompliziert klingt, erweist es sich mit bestimmten sprachlichen Strukturen durchaus als kompliziert. Shyjan wählt oft lange Sätze, die einen umgangssprachlichen Plauderton imitieren. Im deutschen Satzbau stehen dem Häufig trennbare Verben und eingeschobene Nebensätze entgegen, die die Dynamik eines Satzes verlangsamen und den Text schwerfällig machen, sodass die Lockerheit verlorengeht. Hier ist es oft erforderlich, ausgehend vom Grundton und Grundgedanken des jeweiligen Satzes, ganz neue Strukturen zu finden, die die Lockerheit und Leichtigkeit des Gesamttextes betonen.
Shyjans Reisen und ihre umfangreichen Sprachkenntnisse finden in ihrem Texten nicht nur einen thematischen, sondern auch einen sprachlichen Niederschlag. Oft und gern verwendet sie Anglizismen, Gallizismen oder flicht ganze Repliken auf Englisch oder Französisch ein, wenn sie in die Gesamtstimmung einer Textpassage passen. Im Originaltext werden die Einsprengsel in Fußnoten übersetzt, in der deutschen Übersetzung lasse ich die fremdsprachigen Ausdrücke im Original stehen und füge keine Fußnote ein. Auch wenn brillante Englisch- und Französischkenntnisse längst nicht bei allen deutschsprachigen Lesern vorausgesetzt werden können, sind sie doch mit dieser Art Fremdheit vertraut und emanzipiert genug, gegebenenfalls eigenständig Nachschlagewerke zu Rate zu ziehen. Auf die Vertrautheit mit der anderen Sprache setzt Shyjan ihrerseits, wenn an Stellen, an denen Russisch sprechende Figuren auftreten, ins Russische wechselt. Im Roman Im Rücken thematisiert sie so unter anderem die ukrainische Binnenmigration, die in Folge des Krieges im Donbass und der russländischen Annexion der Krim dazu geführt hat, das hunderttausende Ukrainer die Krim und die Kriegsregion im Osten verlassen mussten und nun in der Westukraine ansässig sind. Anfangs sprachen sie zumeist schlecht oder gar nicht Ukrainisch, weswegen sie im Alltag häufig diskriminiert wurden. Da die deutschsprachigen Leser nicht in einer zweisprachigen Umgebung leben, die als analoger Erfahrungsraum dienen könnte, lässt sich der Sprachwechsel im Deutschen nur behelfsmäßig abbilden, indem er verbal markiert wird mit „sagte sie auf Russisch“ oder ähnlichem. Leider lassen sich die mit der Zweisprachigkeit einhergehenden gesellschaftlichen Befindlichkeiten und emotionalen Schattierungen, die vom Kampf gegen die aufgezwungene Russifizierung während der Sowjetzeit über die Instrumentalisierung der Sprachfrage in der unabhängigen Ukraine seit den 1990er Jahren bis hin zur Diskriminierung russischer Muttersprachler und dem Verdrängen russischsprachiger Publikationen in der Gegenwart reicht, in der Übersetzung in keiner Weise adäquat wiedergeben.
Haska Shyjan ist eine Autorin, die sich engagiert einsetzt für die Freiheit des Einzelnen, und mit ihrem Schreiben Debatten um eine moderne ukrainische Gesellschaft mit Selbstbestimmung, emanzipierter Weiblichkeit und ohne aufgezwungenen Patriotismus anstößt. Sie zu übersetzen, bedeutet für mich, Teil zu werden der aktuellen Diskussionen und Entwicklungen in der Ukraine und diese dem deutschsprachigen Publikum zugänglich zu machen.