Ein Essay von Jutta Lindekugel
Durch Zufall fielen mir in der bekannten Buchhandlung „Je“ auf dem Chreschtschatyk, der zentralen Straße der ukrainischen Hauptstadt Kyjiw, vor einigen Jahren gleich zwei Buchtitel von Olena Sachartschenko auf. Die Umschlagtexte und Covergestaltung waren so überzeugend, dass ich beide kaufte. Zum Glück, denn eines der Bücher war im Verlag „Fakt“ erschienen! Kurioserweise existiert dieser Verlag, in dem drei ihrer frühen Romane erschienen sind, gar nicht mehr. Bei „Fakt“ waren renommierte Werke wie Oksana Sabuschkos „Museum der vergessenen Geheimnisse“ (Muzej Pokynutych Sekretiw) erschienen, doch gab es 2011 ein Konkursverfahren wegen Verschuldung, Manager versteckten sich vor Gläubigern und ein Miteigentümer wurde 2013 zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Sachartschenko selbst besitzt von dem Druckmanuskript keine elektronische Fassung. Daher werden die Bücher nicht einmal in der Ukraine neu aufgelegt.
Für mich war die Entdeckung der Autorin eine Offenbarung, denn jeder ihrer bisher sieben Romane bietet ganz neue Welten mit unterschiedlichen Plots und Themen, aus der ukrainischen Geschichte und Gegenwart, fantastischen Fabelwesen, heidnisch-pantheistischen Vorstellungen oder in einem Fall mit den sumerischen Göttern aus dem Gilgamesch-Epos. Immer ist ihre Verflechtung von Realität und Fantastik, von der komplexen Gegenwart und tragödienreichen Vergangenheit der Ukraine äußerst spannend. Dabei gelingt es Sachartschenko den Alltag besonders plastisch und authentisch zu schildern und ihn organisch mit der reichen ukrainischen Fabelwelt zu verbinden, die bereits mit dem „Waldlied“ (Lisowa pisnja) von Lesja Ukrajinka auf den Olymp der ukrainischen Literatur erhoben wurde. Gerade diese originale Kreation eines magischen Realismus fasziniert mich als Übersetzerin.
Wie viele deutsche Leser*innen haben eine Vorstellung vom ukrainischen Alltag? Den meisten dürften weder die Stationen der ukrainischen Geschichte noch die Gegenwart oder die Mythenwelt und der noch immer sehr verwurzelte Aberglaube ein Begriff sein und auch die Geografie der Ukraine ist vielen nicht gewärtig. Somit stellt eine Übertragung der Texte bzw. vielmehr der Kontexte eine Herausforderung für Übersetzer*innen dar.
Die schwierige Periode der Kolonisierung durch die Sowjetunion wie auch der anschließenden Übergangszeit präsentieren viele Autor*innen in ihren in der unabhängigen Ukraine erschienenen Veröffentlichungen düster und hoffnungslos oder geradezu pathetisch, auch was die Geschehnisse auf dem Majdan betrifft. Mir gefällt es, dass Sachartschenko dagegen Klischees vermeidet, Ironie einsetzt und einen optimistischen Ton anschlägt. Mit ihrer Darstellung kann sich auch ein westeuropäisches Publikum identifizieren. Dabei hilft es, dass die Autorin ihre Leser*innen stets miträtseln lässt und mosaikhafte Ausschnitte der Geschichten, die stets zwischen Vergangenheit und Gegenwart sowie verschiedenen Erzählern und Erzählebenen springen, wie in einem Puzzle zusammensetzen lässt. Die Leser*innen werden also gefordert. Sie müssen verworrene Erzählstränge, verflochtene Erzählebenen, Reales und Fantastisches, Vergangenes und Gegenwärtiges, Mythen und ukrainischen Alltag zu einem Bild zusammenfügen.
Immer spielen Sachartschenkos Romane also auf verschiedenen Ebenen.
So gehen die handelnden Figuren in die Schule, und werden dort ausgegrenzt, tanzen in der Disko, zelten oder reisen per Anhalter, fahren mit dem Zug zu einer Beerdigung oder treffen Obdachlose, finden und verlieren die Liebe, erfahren aus Familiengeschichten von der leidvollen Vergangenheit der Ukraine oder erleben selbst, wie 2013/2014 auf dem Majdan Geschichte gemacht wird. Gleichzeitig begegnen sie Hexen, Nixen, Werwölfen oder einer Schlangenkönigin.
Wie sie zu mythischen Themen kam, beschreibt die Autorin im Interview, das ich mit ihr geführt habe: „Meine Mutter konnte Tausende von Märchen in den Alltag einbinden. Die Königin der Ratten lebte in der Scheune eines alten Nachbarn. Nachts kamen Geistereulen. Im See wartete definitiv eine Nixe auf uns. Im Wald lebte der alte Waldschrat. Das alles lenkte von der Realität ab und diese Welt war viel interessanter und facettenreicher als die normale. Dann fand ich viel Literatur zur ukrainischen Dämonologie. Sie war anders, manchmal schlecht, manchmal wunderbar. Meine Favoriten waren die Wolken-Nixen, die in den Wolken leben und den Regen bringen…“
Stimuliert vom Bedürfnis der jungen Generation, gerade auch im Zusammenhang mit einem Anstieg patriotischer Gefühle nach 2014, zu den nationalen Wurzeln zurückzufinden und kulturell wie historisch umzudenken bzw. die nationale Identität zu konsolidieren, handelt es sich bei vielen aktuelleren Romanen in der Ukraine um Erzählungen mit mystischen oder folkloristischen Elementen, irrealer oder bizarrer Handlung oder mythologischen Wesen, erklärte Violetta Schewtschenko 2017 in einem Artikel über die Wiedergeburt der magischen Prosa im „Wisnyk Zaporizkoho nacionalnoho universytetu“. Bei Sachartschenko faszinieren schon die vor 2013 erschienenen Romane durch ihre von Fabelwesen bevölkerten jenseitigen, fantastischen Welten, die sich mit dem ukrainischen Alltag vermischen.
Ihre Heldinnen sind immer auf der Suche nach mystischen oder familiären Geheimnissen und begeben sich in Welten jenseits der Realität – etwa in eine Welt der Toten, der sumerischen Götter, eine Welt der Frauen oder ins unterirdische Kyjiw. Der Übergang zwischen den Ebenen gelingt durch Tore oder Rituale. Ihre Charaktere sind müssen dabei Rätsel lösen, Schwierigkeiten überwinden und aus einem unübersichtlichen Labyrinth herausfinden, das oft auch unter die Erde führt. Dabei bestehen sie Prüfungen und entwickeln sich weiter. Damit ähneln die Strukturen von Sachartschenkos Romanen den Quests von Computerspielen.
Außerdem erleben die Leser*innen Sachartschenkos Geschichten teilweise aus einzigartiger Perspektive. Beispielsweise beschreibt sie die Geschehnisse auf dem Majdan 2013/14 erstmals aus der Perspektive einer Frau und eines Kindes. Mit ungewöhnlichen Blickwinkeln und überraschenden Wendungen sorgt sie für große Spannung. Kennzeichnend sind für ihre Romane zudem starke Frauenfiguren, Authentizität und ein virtuoser Umgang mit der ukrainischen Sprache, gelegentlich angereichert mit Slang und Surschyk, der Mischsprache auf Basis des Ukrainischen und des Russischen.
Alla Paslawska vertritt in ihrem Nachwort zum Band „Lina Kostenko. I snovu Proloh – Lina Kostenko. Und wieder ein Prolog“ von 2020 die Meinung, dass die Wege der Übersetzung nicht immer logisch nachvollziehbar sind: „Übersetzer erhalten Aufträge und fertigen Übersetzungen an. Und nicht immer handelt es sich dabei um bedeutende Werke der nationalen Literatur. Manchmal spielt hier der Zufall mit, manchmal auch eine laute Mode.“ Diese Zufälle müssen meiner Meinung nach auch der Grund dafür sein, weshalb Sachartschenkos Romane noch nicht in Übersetzung vorliegen. Mir ist es ganz unverständlich, warum sie im Ausland noch nicht entdeckt wurde. Gleichzeitig zutiefst ukrainisch und doch europäisch sind die bisherigen Romane von Sachartschenko – jeder Einzelne anders als der vorangehende und doch immer extrem spannend.
Geboren 1977 im nordwestukrainischen Riwne, greift Sachartschenko die Stadt, in der sie aufwuchs, sowie die umgebende Landschaft, die regionale Kultur und Legenden immer wieder in ihren Romanen auf. Im Interview erklärt sie, wie sie zu gleich zwei Universitätsabschlüssen kam: Weil ihre Handschrift und Orthografie zu wünschen übrigließen, schien ihr ein Studiengang in ihrem Traumfach Journalismus aufgrund des Diktats in der Aufnahmeprüfung undenkbar. Dafür gewann sie die Schulolympiade der Informatik und wurde ohne Aufnahmeprüfung im Fach „Angewandte Mathematik“ aufgenommen. Neu in der Großstadt Kyjiw gelangte sie über die Praxis doch noch in den Journalismus und konnte das Fach sogar an der Universität abschließen.
Das Schreiben ist für sie eher ein Hobby. Auf ihrer Webseite „Krejda“ veröffentlichte sie Literatur und Artikel und führte so ihren Beruf als Programmiererin und ihre Berufung zur Autorin zusammen.
Gerade im IT-Bereich erlebte sie als Frau Diskriminierung, wie sie im Interview ausführt: „Ich sehe, wie ungleich die Rechte in der Ukraine verteilt sind, wie verzerrt es im Bereich der IT zugeht, die bei uns traditionell als männlich betrachtet wird. Während ich als Systemadministratorin gearbeitet und Computer repariert habe, sah ich mich ständig Stereotypen ausgesetzt, dass ‚ein Mädchen das nicht verstehen kann, schickt uns einen Mann‘. Die feministische Bewegung in der Ukraine ist jedoch nicht sehr gesund, sie weist ebenfalls bedeutende Stereotypen auf: ‚Feministinnen haben keine Kinder‘ oder ‚Feministinnen heiraten nicht‘. Und oft werden diese Stereotypen von den Mitgliedern dieser Bewegungen selbst unterstützt und verbreitet, so dass ich keine aktive ukrainische Feministin bin, obwohl ich manchmal bei ihren Projekten mitmache.“
Dabei gehört Sachartschenko zu der Generation, die den Eisernen Vorhang noch bewusst erlebt und die sich anschließend bietenden Chancen zu Reisen und Karrieremöglichkeiten genutzt hat. In ihrer Jugend fuhr sie per Anhalter durch ganz Europa. „Das war ein Protest und das war, als ob ich aus den Tiefen des Meeres auftauchen würde. Ich erinnere mich gut an die Tage des ‚Eisernen Vorhangs‘ und als die Welt sich öffnete, wollte ich alles sehen.“ Später lebte sie zeitweise in New York. „Amerika, das war ein Kindheitstraum, so einer, der niemals wahr werden wird.“
Geprägt hat sie die Erfahrung des Zusammenbruchs der Sowjetunion, mit dem das Weltbild und die Gewissheiten ihres bisherigen Lebens auf den Kopf gestellt wurden und nach dem viel Verschwiegenes endlich erzählt wurde. Und so erzählt auch sie immer wieder von der Vergangenheit ihrer erst 1991 unabhängig gewordenen Nation. „Wenn die ganze Welt zusammenstürzt, die bis zum Ende meines Lebens stabil sein sollte, ist das ein Schock. Und die, die das überlebt haben, wurden sicherlich eine starke Generation“, meint die Autorin. Solange sie denken könne, habe sich die offizielle Geschichtsschreibung stets verändert. Sie habe in der Schule etwa vom Aufstieg Moskaus und der Dynastie der Romanows gehört – und dass auf dem Territorium der Ukraine nichts passiert sei, außer einer Eroberung durch die Tataren. Auch die Haltung zur Unabhängigkeitsverkündung, zur Orangenen Revolution oder zur sogenannten Revolution der Würde von 2013/2014 habe sich bereits mehrfach verändert.
Um die Vielfalt und Besonderheit ihrer Romane zu verdeutlichen und um Sachartschenkos Themen, Besonderheiten und Identitätssuche zu ergründen, möchte ich ihre Romane im Folgenden kurz sowie die beiden jüngsten etwas ausführlicher vorstellen.
Bereits 1998 veröffentlichte Sachartschenko ein erstes Buch mit dem Titel „Die Menge“ (Jurba), das Novellen enthielt und mit dem Oles Hontschar gewidmeten Preis ausgezeichnet wurde. 2006 erschien Sachartschenkos erster Roman „Bestickte Kürbisse“ (Wyschywani harbuzi) und wurde für den BBC Book of the Year Award nominiert. Die Heldin Laska lebt in einer Welt der Frauen. Nixen und Hexen feiern hier ihre Feste und eine rätselhafte Weiße Frau taucht auf. Nach einem Ritual stellen Laska und die Leser*innen fest, dass die Frauen jener Welt bereits verstorben waren und dass sich auch Männer in diesem Jenseits aufhalten. Nach Stationen in einem Kloster und in einer viktorianischen Stadt, gelangt Laska schließlich durch ein brennendes Tor zurück in die Welt der Lebenden. Durch ihre Seelenreise geläutert, kehrt sie zu ihrem Mann zurück. Neben dem Spiel mit Geschlechteridentitäten gibt es zahlreiche Anspielungen auf die Unterwelt- und Liebesexperten Dante, Vergil, aber auch Jurij Andruchowytsch und Taras Schewtschenko. Die Leser*innen folgen Laska auf ihrer Wanderung durch eine jenseitige Welt, in der sie zahlreichen Fabelwesen begegnet, neben den Hexen und Nixen auch Hausgeistern und Waldwesen, einem Werwolf, einem Vampir, Trollen, Gnomen, sprechenden Pferden, mehrköpfigen Hunden oder einem Mädchen, das sich in eine Birke verwandelt. Der Roman gleicht einem virtuellen Spiel mit Raum und Zeit, in der antike und heidnisch-ukrainische Mythen fantastisch verwoben sind.
Bereits ein Jahr später veröffentlichte Sachartschenko „Bruder-und-Schwester“ (Brat-i-sestra, 2007), einen Roman, in dem ein Geschwisterpaar auf der Flucht die Wahrheit über seinen Vater herausfinden möchte. Von ihm sind magische Fähigkeiten und ein Fluch auf sie übergegangen. Einerseits wandern sie durch eine detailliert beschriebene Realität: Es gibt Kleinbusse und lange Wanderungen mit Übernachtungen im Zelt, missgünstige und freundliche Begegnungen, die Beschreibung ukrainischer Landschaften. Genau diese reale Landschaft Wolhyniens, aus der Sachartschenko selbst stammt, ist in der ukrainischen Kultur stark mythenbesetzt. Auch in „Bruder-und-Schwester“ durchdringt eine Welt der Geister, Zauberei und regionaler Legenden, beispielsweise über die Schlangenkönigin oder einen Werwolf, die reale Ebene. Zudem mischen sich in einigen Kapiteln Stimmen aus der Vergangenheit in die Gegenwart der Erzählung.
„Das Mädchen mit den Chimären“ (Divtschynka z chymeramy, 2010) ist das 15jährige Schulmädchen Olha Worobej, eine unkonventionelle Außenseiterin, die in einer ukrainischen Provinzstadt aufwächst. Ihre reale Freundin Ljubanja geht mit ihr in die Disko und interessiert sich für Alkohol, Zigaretten und Jungs. Gleichzeitig schreibt Olha einen Roman über die Zeit der Kyjiwer Rus, aus dem die imaginäre Figur der Marija stammt, die lebendig wird. Zudem taucht der Geist eines Mönchs aus dem Kyjiwer Höhlenkloster auf, der die Welt mit einer Art magischem Röntgenblick sieht. „Das Mädchen mit den Chimären“ ist also ein Roman über einen Roman. Der Schnittpunkt der beiden Welten wird erst am Ende klar. Darüber hinaus kommen wieder in der ukrainischen Kultur fest verankerte Fabelwesen vor, etwa Waldschrat, Waldgeist oder ein Mädchen, das in einer Pappel lebt. Olhas Leben spielt sich in einer Zeit ab, in der sich die Sowjetunion auflöst und die Ukraine als unabhängiger Staat entsteht. Gerade die mythischen Kreaturen aus Olhas Parallelwelt bilden den kulturellen Code der ukrainischen Nation, der geholfen hat, den Totalitarismus zu überstehen. So mischen sich Historie, Mythen, Riten und Realia. Die Leser*innen müssen die Ausschnitte wie in einem Puzzle oder Kaleidoskop zusammensetzen. Zerrissene Sätze und Jugendslang verleihen dem Geschehen Dynamik und Authentizität und stellen für Übersetzer*innen eine Herausforderung dar. Rezensent*innen weisen darauf hin, dass es zahlreiche Parallelen zu Sachartschenkos Biografie gibt. Die Autorin hat mit diesem Roman endgültig eine neue Art von Fantasy-Prosa in der ukrainischen Literatur etabliert. Das Buch wurde als Buch des Jahres 2010 von der BBC nominiert.
Da viele Leser*innen „Das Mädchen mit den Chimären“ gern in digitaler Form lesen wollten, erschien der Anschlussroman „Sieben Tore“ (Sim Worit, 2011) als erstes ukrainisches E-Book. Aufgrund einer Förderung durch den Fonds von Oligarch Rinat Achmetow ist es sogar kostenlos im Internet abrufbar. Die Autorin selbst nennt in einem Interview das Thema: Liebe und Erfahrung des Todes. Die Kyjiwer Studentin Marina Tschech reist mit dem Zug von Kyjiw nach Lwiw auf dem Weg zur Beerdigung eines tragisch verlorenen Freundes und passiert unterwegs sieben Übergänge in eine andere Welt. Sie durchwandert also sieben verschiedene Welten und begegnet unter anderem einem Obdachlosen, einer Basarverkäuferin oder einem Geschichtslehrer. Alle Hauptfiguren entpuppen sich als sumerische Götter. Marina etwa ist die Göttin Inanna und ein Obdachloser ihr Beschützer und Gott der Weisheit Enki. Jeder in der Erzählung könnte ein sumerischer Gott sein. Die Erzähler wechseln, der Ton ist archaisch, die Atmosphäre schwer und düster. Während Lwiw als mystischer Ort erscheint, ist Kyjiw mit vielen Details, etwa Schmutz und Gestank, als sehr realer Ort beschrieben. In schöner und gleichzeitig emotionaler Sprache, von der sich nur das Surschyk der Basarfrau abhebt, verschmelzen die irdischen und mythischen Details die im gesamten Text verstreut sind, auf wunderbare Weise.
Nach Erscheinen von „Sim worit“ warf die renommierte ukrainische Autorin Oksana Sabuschko auf Facebook Sachartschenko vor, ihren Roman „Museum der vergessenen Geheimnisse“ zu plagiieren und führte an, dass beispielsweise in beiden Romanen Verstorbene als Motor der Handlung dienten oder die Erzählstimmen wechselten. Kritikerin Jana Dubynjanska von „LitAkzent“ widerlegt die konkreten Vorwürfe Sabuschkos und kann keine Ähnlichkeiten feststellen, die über intertextuelle Anspielungen, die Verwendung gleicher Archetypen oder Äußerlichkeiten hinausgingen. Während es sich bei Sabuschkos „Museum“ eher um einen mehrstufigen Roman handele, der zu einem Wandel des Genres beitrage, sei Sachartschenkos Roman eher eine Art Kammermusik, ganz im Sinne des magischen Realismus.
Das von einer Kinderjury ausgezeichnete Kinderbuch „Der Weiler“ (Chutir, 2015) spielt erneut in den Übergangsjahren der 1990er, zur Zeit des Putschs in der Sowjetunion und des Kampfs um eine unabhängige Ukraine, und erinnert damit an die in unserem Translit-Projekt ebenfalls vorgestellte Autorin Sirka Mensatjuk und ihr Werk „Jak ja rujnuwala imperiju“. Die siebenjährige Chrystyna zieht zur Großmutter aufs Dorf, weil ihr Vater in der Sowjetunion für eine unabhängige Ukraine eintritt und seine Stelle an einer Universität verloren hat. Retrospektiv wird in den Gesprächen der Erwachsenen der sowjetische Alltag mit all seinen Absurditäten deutlich.
Gleichzeitig begegnet Chrystyna Waldfeen, -geistern und Nixen aus den wolhynischen Legenden und lernt die Tiere verstehen. Ihre Wahrnehmung der Natur ist besonders sensibel. Ein zentrales Thema des Romans ist also das Zusammenleben von Mensch und Natur. Durch die fragmentierte Wiedergabe von Realem, Historischem, Lokalem und Mystischem wird die Geschichte authentisch wie aus kindlicher Sicht dargestellt. Dennoch setzt sich schließlich ein Gesamtbild zusammen. Olena Sachartschenko kreiert spätestens mit diesem Roman aktiv den Riwne-Mythos in der ukrainischen Literatur.
Sachartschenkos Roman „Wertep. #RomanÜberDenMajdan“ (Wertep. #RomanProMajdan, 2016) spielt zur Zeit des Euromajdan, oder wie es in der Ukraine heißt, der Revolution der Würde von 2013/14, der weltweit in die Schlagzeilen gelangte, als auf dem zentralen Platz der Hauptstadt Kyjiw die Auseinandersetzungen zwischen Ordnungskräften und denen, die auf dem Majdan für das Assoziierungsabkommen mit Europa und gegen die Politik von Präsident Wiktor Janukowytsch protestierten, eskalierten.
Zur Eingangsszene des Romans gehört folgender Dialog:
„Wärst du heute mal zuhause geblieben!“, sagte Witka verärgert und gab mir ein Glas Wasser und eine Pille. „Trink das… Also, warum hast du ihn heute zur Schule gebracht?!“ Er, das ist mein Sohn. Seine Schule befindet sich an der Ecke Olhynska und Institutska. In der Nähe der Nationalbank. Genau dort bei der U-Bahn-Station, wo es heute die meisten Kämpfe und Toten gegeben hat. Schenja war losgezogen, um ihn zu suchen. „Wer konnte das denn ahnen?“, murmelte ich.
In „Wertep“ wollen sowohl die Heldin Katja als auch ihr achtjähriger Sohn Danylo bei den Geschehnissen von nationaler Bedeutung nicht tatenlos zusehen, obwohl sie große Angst umeinander haben. Gleichzeitig geraten Danylo – in der Nähe seiner Schule – und seine Mutter – auf dem Majdan – mitten in die gewalttätigen Auseinandersetzungen. Es folgt die verzweifelte Suche der Heldin nach ihrem Sohn. Während auf den Straßen und Plätzen von Kyjiws Zentrum die Gewalt eskaliert, schlägt sie sich durch ein unübersichtliches Labyrinth aus unterirdischen Tunneln, Kanälen, Bunkern und uralten Höhlen, durch das Protestierende fliehen, sich verlieren und wiederfinden, in dem sich aber auch Polizeikräfte sammeln und formieren. Danylo und sein Freund landen, nachdem sie von den Ordnungskräften beim Versuch, Helden zu spielen, erwischt wurden, in einem Keller, in dem Demonstrant*innen festgehalten werden. Gleichsam in einer Unterwelt erleben also Mutter und Sohn die Qualen der Ungewissheit. Werden sie sich wiederfinden? Werden sie unverletzt bleiben?
Wieder spielt die Handlung auf verschiedenen Ebenen.
Schon der Titel „Wertep“ bezieht sich auf das traditionelle barocke Puppenspiel, das auf zwei Ebenen spielte: einer sakral-religiösen und auf der Ebene des einfachen Volks. Bei Sachartschenko teilt sich die Handlung auf in ober- und unterirdisches Geschehen, einen inneren und einen äußeren Konflikt, pathetische Überhöhung und Alltag, die Perspektive einer Frau und die eines Kindes sowie dokumentarische und mystische Erzählstränge.
Ober- und unterirdische Ebene, innerer und äußerer Konflikt: Bei Sachartschenko irren die Heldin und ihre Freundin Witka hinter Führer Mark lange durch das unterirdische Kyjiw während über ihnen Kämpfe toben. Dabei geht es unter der Erde eher um einen inneren Konflikt, nämlich um die Sorgen der Individuen um ihre Liebsten, während oberirdisch heldenhaft für das Nationale gekämpft, also ein äußerer Konflikt ausgetragen wird. Somit entspricht die oberirdische Ebene dem Sakral-Religiösen des Puppenspiels, die unterirdische dem Alltäglichen.
Als Vorbereitung für „Wertep“ hat Sachartschenko selbst das unterirdische Kyjiw erforscht. Sie wusste zuvor nichts über den Untergrund, etwa dass dort Dutzende Flüsse in hohen, alten, mit gelben Ziegeln verklinkerten Tunneln fließen. „Einige Flüsse sind ziemlich tief – man kann nur in speziellen Schuhen hindurchgehen, andere sind flach. Die Flüsse haben ihre eigene Atmosphäre: Stille, plätscherndes Wasser, Dunkelheit. Es ist unglaublich, dass oben Autors fahren und der Lärm der Stadt zu hören ist.“ Neben dem Labyrinth des Abwassersystems gebe es Bunker und unterirdische Lager, „eines direkt unter dem Kindergarten, in den meine Kinder gingen“.
Perspektiven: Sehr speziell und einzigartig in der ukrainischen Literatur ist in „Wertep“ auch die Perspektive eines Kindes auf den Euromajdan. Einerseits trifft Danylo als er mit seiner Mutter den Majdan besucht, fröhliche und nette Menschen und hat positive Erlebnisse. Er spürt aber auch die zunehmende Nervosität der Erwachsenen und sieht das Schlachtfeld nach den Kämpfen. Zusammen mit seinem Freund Switozar hat er den Wunsch, den Helden der Nation zu helfen. Die Kinder imitieren die Erwachsenen, spielen Revolution und gründen eine „dytjatscha sotnja“, eine „kindliche Hundert“, angelehnt an die sogenannte „himmlische Hundert“, also die Toten der Revolution der Würde. Die Autorin hat während der Geschehnisse festgestellt, dass ihre eigenen Kinder sich sehr für die Proteste und ihre Held*innen interessierten. Andererseits spürte sie bei ihnen auch viel Unsicherheit und Angst angesichts der Kämpfe. Daher beschreibt sie eindringlich, wie Danylos Unsicherheit angesichts der Eskalation wächst. Sein Alltag, der Weg zur Schule, die eigene Wohnung scheinen kein geschützter Raum mehr zu sein. Er sehnt sich nach Normalität mit Malkurs und Spielplatz. Als er von Spezialkräften des Berkut aufgegriffen wird, ist seine größte Sorge, das Handy als Verbindung zur Mutter versteckt zu halten. Außerdem bespricht er wie seit der Kindheit seine Ängste mit einer imaginären Maus. Das Fantasiewesen hilft ihm, sich von den Ereignissen zu distanzieren und die traumatische Abwesenheit der Mutter zu überwinden. Danylos Perspektive ist von sinnlichen Wahrnehmungen geprägt. Er nimmt auf, ohne viel zu reflektieren. Die kindliche Wahrnehmung mit all ihren Widersprüchen wird so von Sachartschenko authentisch wiedergegeben.
Katjas Position als weibliches Gesicht der Revolution, als starke Alleinerziehende, ist ebenfalls sehr besonders. Der Roman beleuchtet das Verhältnis der Generationen zueinander und fragt, welche Werte Eltern ihren Kindern vermitteln. Katja versucht, während des Majdan einerseits, ihren Sohn zu schützen, dennoch macht sie Danylo mit dem Sinn der Proteste vertraut und zeigt ihm den Majdan.
Dokumentarische und mystische Erzählstränge: Von den Ereignissen der Gegenwart der Jahreswende 2013/14 wird daher teils im Stil einer Reportage berichtet, teils im Kontext der Gefühls- und Gedankenwelt der Hauptfiguren. Emotional mitreißend wird die Entwicklung des zunächst friedlichen, hoffnungsvollen Majdan zum Schlachtfeld erzählt – allerdings nicht linear:
„Der Automajdan ähnelte einer Hochzeit. Eine ganze Autokolonne mit Fahnen und Bändern, in einem Auto der Schriftsteller Jaworiwskyj und 217 die Box, aus der coole Musik wummerte. Die Leute auf den Straßen schauten sich um. Die entgegenkommenden Autos haben gehupt.
Beim Untersuchungsgefängnis wurden Feuerwerkskörper gezündet. Alle waren fröhlich und glücklich.
(…)
Und am Sonntag haben auf der Hruschewskyj die Kämpfe begonnen. Und alles, was dort losgegangen ist, ging dann überall los: Steine, Molotowcocktails, Schießereien, Granaten, Petarden, brennende Busse, erste brennende Reifen, neue Barrikaden wurden errichtet, erstmals ist ein Wasserwerfer eingesetzt worden…
Die Leute haben die Gehwege demontiert, um an Steine zu kommen – die Straße war aus ziemlich großen gebaut -, die Leute haben gesammelt, womit auf sie geschossen wurde – so eine Art Gummibälle. Die Leute haben sie in die Hände genommen, in ihren Taschen versteckt, nicht geglaubt, dass man damit auf sie schießen würden.
Auf sie schießen.
Auf der Straße.
Auf Menschen.“
Die differenzierte Darstellung bei Sachartschenko, die zur Vorbereitung des Romans weitere Teilnehmer*innen des Majdan befragt hat, unterscheidet sich von vielen anderen Werken der ukrainischen Literatur, die das Kampfgeschehen meist pathetisch darstellen.
Durch die Sicht einer Mutter und eines Kindes werden zahlreiche alltägliche Details sichtbar. Ereignisse von nationaler Bedeutung werden zu etwas, das die Menschen tatsächlich erlebt haben, für das jeder Einzelne eine Entscheidung getroffen hat. Wie beim titelgebenden Puppentheater Wertep gibt es neben dieser „niederen“, alltäglichen Handlungsebene bei Sachartschenko auch eine „höhere, sakrale“ mit Helden und Mythen. Dieser Erzählstrang spielt auf der Ebene der Vergangenheit. Eingeflochten in Erinnerungen von Katja an ihre Studienzeit sind einerseits eine spannende Kriminalgeschichte um den angeblichen Selbstmord ihres Freundes Askold und der im balladesken Stil erzählte Mythos einer Pauke, die schon im Kampf der Kosaken gegen Peter den Großen zum Einsatz kam und im ersten Weltkrieg verloren gegangen ist, aber in der Familie von Askold wieder auftaucht. Die Pauke symbolisiert nach Auflösung aller Rätsel die mystische Vereinigung von Vergangenheit und Gegenwart.
Im Interview erklärt Sachartschenko auf die Frage, was der Majdan in der Ukraine verändert hat: „Der Majdan bot eine Gelegenheit das zu besprechen und zu verstehen, was in der Ukraine längst hätte diskutiert werden müssen, zu begreifen, Linien und Grenzen zu ziehen. Leider hat der Majdan nicht die Schicht jener, die das Land führen, verändert, aber er hat Prozesse angestoßen in der Gesellschaft, die vielleicht eines Tages zu bedeutenden Veränderungen führen werden.“
Schon lange wollte Sachartschenko einen Roman über ihre Familie schreiben, die Öffnung der Archive war nur der letzte Auslöser. So stieß die Autorin auf Akten von Prozessen gegen Mitglieder ihrer Familie und zu deren Rehabilitation: Zunächst habe sie den Protokollen Glauben geschenkt, doch dann wurden nicht existierende Verwandte erwähnt oder Autofahrten zur Arbeit, wo doch der Großcousin immer das Fahrrad genommen hat. Erfundene Vorwürfe und erfundene Zeugen führten zu Unstimmigkeiten in den Protokollen. Nicht unterschriebene Vernehmungsunterlagen oder Widerrufe von Zeugen bestätigten Sachartschenkos Zweifel. Sie erklärt: „Ich fragte mich, welche Art Mensch so ein akkurates Protokoll schreibt, wie ein literarisches Stück, mit richtiggehenden Aussagen der handelnden Personen.“
Die Arbeit am Roman sei traumatisierend gewesen, teilweise sei es ihr schwergefallen, ihn zu schreiben und all die Ungerechtigkeiten darzustellen. Die Autorin weist darauf hin, dass auch viele, die im Unrechtssystem mitgemacht haben, die Zeugen beispielsweise, selbst unter Druck standen. Man könne sie daher heute nicht für ihre Taten verurteilen.
„Dritte Kabine – Los Angeles“ (Tretja Kabinka – Los-Andzheles) von 2018 basiert auf dieser Familiengeschichte, ist jedoch nicht dokumentarisch und handelt nicht von Sachartschenkos eigener Verwandtschaft. Nur auf dem Cover findet sich ein Foto ihrer eigenen Familie.
In „Dritte Kabine – Los Angeles“ geht es um mehrere Generationen der Familie Bulawsky, die von der Kollektivierung und dem Holodomor über den Zweiten Weltkrieg und Repressionen bis zur harten, aber auch befreienden Übergangsphase der 1990er Jahre entscheidende Perioden der Zeitgeschichte miterlebt.
Die Geschichte beginnt mit einer jungen Ukrainerin, die in Deutschland beim Trampen dem jungen Roman begegnet und in seinem Auto ein traditionell besticktes Hemd findet, allerdings mit dem einzigartigen Muster, das ihre Großtante Marta für ihren Bruder Maxim entworfen und einem Gefängniswärter übergeben hat, damit Maxim beizeiten darin begraben werde. In Kapiteln, die zwischen den Jahrzehnten und den Erzählern springen, entwirrt sich dem Publikum allmählich, wie das Hemd von Marta zu Roman gelangt ist und welche Personen, die auf einem Familienfoto zu sehen sind, wann, in welche Ereignisse und wohin geraten sind. Zahlreiche Seitenlinien verwirren zunächst: Etwa die Geschichten von Maxims Geschwistern Marta, Marusja und Iwan oder die von Chrystyna, die in den Wirren des zweiten Weltkriegs auf ihrer Flucht Richtung Westen bei Marta und Marusja Station macht und schließlich als Großmutter von Roman in Lwiw wieder auftaucht und wie sich herausstellt mit einem anderen Maxim, dem bereits erwähnten Gefängniswärter, verheiratet war.
Auf Wegen, nach denen keiner der Verwandten zu fragen wagt, ist Iwan, der schon früh erklärt hat, nicht in der Sowjetunion leben zu wollen und der für die umstrittene ukrainische Partisanenarmee UPA gekämpft hatte, während des Zweiten Weltkrieges nach Westen geraten, bis nach Amerika. „Die Familie fragte auch nicht viel nach, denn sie wusste: ‚ Je weniger du weiß umso besser schläfst du‘. Für Amerika und Los Angeles interessierte sie sich aber sehr.“
In den 1980er Jahren besucht Iwans Tochter Helen mit ihrer Freundin Michelle die ukrainischen Verwandten. Der Sohn von Marusja, Petro, verliebt sich in Michelle, schreibt ihr Briefe nach Amerika und ruft sie sogar an – eine Szene, die den Buchtitel erklärt: „Anrufen war damals schwierig. Vom eigenen Telefon nach Amerika anzurufen, war nicht möglich. Petro ging zur Telefonzentrale. Ein Saal. Große Fenster. In der Mitte Bänke, auf denen die Leute auf ihre Kabine warteten. An der Wand die Kassiererin, bei der man das Gespräch bestellte. Man sagte die Telefonnummer, die Stadt, zahlte im Voraus, erhielt einen Kupon und setzte sich auf die Bank, um zu warten. Nummerierte Kabinen an den Wänden, gläserne Türen mit Ziffern. In den Kabinen sprachen die Menschen. Worte waren nicht zu hören, das Glas der Türen war dick. Aber man konnte sehen, dass sie mit dem Kopf nickten, mit den Händen gestikulierten oder den schwarzen Hörer mit zwei Händen hielten. Währenddessen verkündete die Dame an der Kasse im ganzen Saal per Lautsprecher: ‚Kyjiw – acht‘. ‚Rokytne – 20‘. ‚Krasnoarmijsk – 10‘. ‚Lwiw – 6‘. ‚Moskau – 7‘, ‚Poltawa – 1‘. ‚Kusnezowsk – 18‘. ‚Dritte Kabine Los-Angeles. Dritte Kabine. Los. Angeles‘. Und alle im Saal unterbrachen das, was sie gerade taten. Die, die telefonierten, streckten ihre Köpfe aus den Kabinen, um zu sehen: Wer? Wer wird mit Los Angeles sprechen? Von hier, aus unserer grauen, provinziellen, kleinen, sowjetischen Stadt – mit Los Angeles! Gespräche wurden abgehört, Briefe gelesen, doch zunächst sah niemand ernsthafte Probleme kommen. Es ging doch bloß um das Interesse an einem anderen Leben, auch wenn das in der Sowjetunion generell verboten war. Wir wussten alle, dass wir nicht ohne Sünde waren. Na, und meine Verwandten ließen nicht mal den Gedanken an Liebe oder sogar tiefe Freundschaft zu, denn sie war ja aus Amerika. Sie war eine englischsprechende Amerikanerin und das war, als sei sie kein Mensch, sondern eine Außerirdische. Man konnte sie nur wie einen Tiger aus dem Zoo betrachten. Und niemand verliebt sich in einen Tiger und will ihn heiraten. “
Als Shelley und Helen den nächsten Besuch ankündigen, Petro als angehender Biologielehrer hat gerade sein Studium abgeschlossen, wird er vom KGB erpresst.
Olena Sachartschenko kümmert sich in diesem Roman um Halbtöne. Die Charaktere von „Dritte Kabine – Los Angeles“ sind nicht stereotyp. Es gibt keine idealisierten UPA-Kämpfer oder teuflischen Geheimdienstmitarbeiter.
Dieses Buch hat Olena Sachartschenko, wie sie selbst sagt, nicht in erster Linie für ein Publikum, sondern für sich selbst geschrieben. Auf die Frage, ob die Häufung von Tragödien wie Krieg, Holodomor oder Repressionen nicht übertrieben sei, erklärt die Autorin: „Die haben das wirklich erlebt.“
Wie ihr nächstes Buch heißen wird, weiß Sachartschenko noch nicht. Einer der Helden wird jedenfalls auf einem Feld mit trockenem Gras und rotem Mohn seinen Vater treffen, der im Krieg umgekommen ist. Es wird wieder ein mystisches Buch mit viel Magie und Fantastik und einer weiteren Dimension der realen Welt.
Sachartschenko selbst mag am liebsten jeweils das Buch, das sie als letztes geschrieben hat, da es ihr noch am nächsten steht. „Bei den älteren Büchern bedauert man schon, dass man sie nicht genau so geschrieben hat, wie man hätte sollen. Man möchte etwas hinzufügen, etwas korrigieren, weil man inzwischen mehr weiß“, erklärt sie.
Sachartschenko übersetzen: Die Herausforderungen
Bei der Übersetzung von Olena Sachartschenkos Romanen sind einerseits manche Passagen im Surschyk oder in einem bestimmten Slang verfasst sowie in einer dynamischen Mündlichkeit, die im Deutschen kenntlich zu machen sind. Ebenso wie die sprachliche Ebene stellen aber die vielfältigen Sub- und Kontexte eine Herausforderung dar. So werden bei Leser*innen wie Übersetzer*innen Kenntnisse der sumerischen Götter- und der ukrainischen Fabelwelt oder der ukrainischen Geschichte und Gegenwart vorausgesetzt.
In „Wertep“ beispielsweise spielen Kosakenzeit, erster Weltkrieg und Euromajdan eine Rolle. Zum speziellen Vokabular des Euromajdan gehören etwa der Berkut, die Tituschky oder Sachartschenkos Kreation der „dytjatscha sotnja“. Während ich dem Berkut bei der ersten Nennung im Text die Erklärung Spezialeinheit vorangestellt habe, erläutere ich den Begriff Tituschky in einer Fußnote, da der Hintergrund doch recht vielschichtig ist. Switozar und der Sohn der Heldin Danylo gründen außerdem eine „dytjatscha sotnja“, wörtlich übersetzt die kindliche Hundert oder Hundert der Kinder. Dies ist als Anlehnung an die himmlischen Hundert, wie die Toten des Majdan in der Ukraine genannt werden, zu verstehen, deren Mut die Kinder nacheifern wollen. Da deutsche Leser*innen jedoch die Anspielung eher nicht verstehen würden, habe ich hier überlegt, eine Erklärung in den Text einzufügen oder alternativ mit „Hundertschaft der Kinder“ zu übersetzen, als Anspielung auf die Situation, in die Polizeikräfte und Demonstrierende involviert waren.
Eine weitere Detailfrage, die mit dem speziellen Vokabular zum Euromajdan verbunden ist, wäre die nach Termini für die Orte, an denen Tituschky und Berkut sich organisieren. Wörtlich übersetzt ist die Rede vom Sitz der Tituschky und einem Ort hinter der Frontlinie, an dem sich der Berkut sammelt. Da die Tituschky jedoch keine offizielle Organisation besitzen, können sie auch keinen Sitz haben. Die Wahl fiel auf den Begriff Quartier, der auf weniger offizielle Weise einen Ort bezeichnet, an den sich die Provokateure zurückziehen und von dem aus sie sich organisieren konnten. Für den Berkut hat die Autorin einen militärisch besetzten Terminus gewählt. Gemeint hat sie damit eine Art Rückzugsort oder Bereitstellungsraum. Ich habe mich im Kontext der Polizeikräfte und der bürgerkriegsähnlichen Situation für den Begriff Stellung entschieden.
Auch die kindliche Perspektive, aus der einige Kapitel erzählt werden, bietet manche Herausforderung beim Übersetzen. So etwa der Begriff Myschets, die imaginäre Maus, mit der Junge Danylo sich unterhält, um schlimme Erlebnisse zu verarbeiten und Distanz zu gewinnen. In einer Erinnerung erzählt die Autorin aus Sicht des Jungen, wie er als kleines Kind einmal gemeint habe, im Bad eine Maus huschen zu sehen und aus Einsamkeit angefangen habe, sich mit einer imaginären Maus zu unterhalten. Die Maus – auf Ukrainisch Myscha – ist hier mit der Endung -ets versehen, die eine Zärtlichkeit dem imaginären Wesen gegenüber verrät und gleichzeitig häufig für Einwohner von oder Menschen aus einem bestimmten Land verwendet wird. So ist der Deutsche ein Nimets oder der Braslianer ein Brazilianets. Meine Überlegungen für ein deutsches Äquivalent führten von Herrn Maus und Mausländer über Mauser, Nager, Mausier, Mausaner und Mausese hin zu Myschets, als auch für das deutsche Publikum sicherlich erkennbare Koseform, die der Erzählung zusätzlich ukrainisches Kolorit verleiht.
Ein weiteres gutes Beispiel für eine Zwickmühle ist die Übersetzung des Buchtitels „Wertep“. Nur für Ukrainer*innen würde sich der gesamte Kontext eines historischen Marionettenspiels auf den zwei Ebenen – Sakral-Religiöses und Niedrig-Alltägliches – mit erschließen. Deutschen Leser*innen gingen mit der Übersetzung des Begriffs Wertep als Puppentheater viele Bedeutungsebenen verloren. Würde der Roman übersetzt, beließe ich das fremde Wort im Titel und ginge an passender Stelle erklärend darauf ein.
Schließlich spielt in „Wertep“ die Geografie der Stadt Kyjiw eine große Rolle. Einige Straßen und Gebäude auf und um den Majdan Nezaleschnosti herum sind namentlich erwähnt. Auch hier könnte die Übersetzung einige Angaben im deutschen Text um Verständnishilfen erweitern. Damit auch Leser*innen ohne Google-Eifer eine Vorstellung von den örtlichen Gegebenheiten bekommen, wäre für eine deutsche Übersetzung sicherlich ein spezieller Stadtplan zum Roman eine Bereicherung.
Für mich als Übersetzerin sind gerade die genannten Herausforderungen reizvoll.
Warum Sachartschenko übersetzen?
Während ich an Sachartschenkos Romanen besonders die Mischung aus anschaulichem Alltag, lebendiger Historie und fantastischen Elementen schätze, meint die Autorin: „Ich befinde mich irgendwo zwischen komplettem Realismus und skurriler Fiktion.“ Sie versuche, dabei ein Gleichgewicht zu finden. In ihren Büchern möchte sie alles sammeln, was die Ukraine ausmacht, um ihrem Publikum zu zeigen, wie interessant diese ist. So sind ihre Bücher eine Suche nach der ukrainischen Identität und der Versuch immer wieder all das aufzudecken, was zu Sowjetzeiten verschwiegen wurde. Auch die Fantastik mit den Fabelwesen aus der Folklore gehören zur ukrainischen DNA. Bei Sachartschenko werden diese Elemente jedoch nicht in einem populistischen Sinne, sondern spielerisch-postmodern eingesetzt im Sinne innovativer Rekombination, einer pluralistischen Weltsicht und Dekonstruktion.
Gleichzeitig kreiert die Autorin ein sehr besonderes Genre des magischen Realismus. Auch in der deutschen Literatur sind Fantasy und Reality gängige Genres, doch die organische Verbindung beider mit authentischem Alltag und tief in der Kultur verankerter Mystik, noch dazu in einem vielfältig aufgefächerten und spannenden Aufbau, der für das Publikum immer Unerwartetes und Überraschendes bereithält, ist einzigartig.
Die deutschen Leser*innen könnten aus den Romanen von Olena Sachartschenko auf unterhaltsame Weise viel über die Ukraine lernen.