Biolumineszenz. So nennt man die Fähigkeit einiger Lebewesen, selbst Licht zu erzeugen. Für mich ist dieses Wort jedoch vor allem Sinnbild für alles, was gute Kinder- und Jugendliteratur kann. Dazu gibt es eine private Geschichte, die sich um ein beliebtes Wissensspiel dreht. Wir lernten es bei Freunden kennen. Mein Kind war damals Dreizehn. Eine Frage lautete: „Wie nennt man die Fähigkeit …“. Allgemeines Stöhnen. „Das weiß doch kein Mensch!“ „Bin ich etwa Biologe?“ Mein Kind aber sagte ruhig und gelassen, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt: „Biolumineszenz.“ Sonst nichts. Der Erste lachte laut los. „Ha, ha, ha“, fiel der Rest der Anwesenden ein. „Guter Versuch!“. Das Kind aber sagte nur: „Doch, doch. Biolumineszenz.“ Es war natürlich richtig. Doch woher wusste ein Dreizehnjähriger davon? Ganz einfach: Das Phänomen kam in einer der Kinderbuchreihen vor, die meine gar nicht mehr so kleine Leseratte bis zu diesem Spieleabend schon mehrmals verschlungen hatte. Ich gebe zu, ich kannte bis dahin weder den Begriff, noch hatte ich das betreffende Buch selbst gelesen. Ich wusste lediglich anhand der Frequenz unserer Buchbestellungen, dass es eine richtig gute Reihe sein musste. Ich kam einfach nicht hinterher. Denn eigentlich las ich die Bücher, die für das jeweilige Alter meines Kindes gerade aktuell waren, gerne mit. Anfangs war ich noch Vorleserin, zwischendurch genehmigten wir uns immer mal wieder auch ein Hörspiel und dann lasen wir parallel oder nacheinander, vor allem, wenn wir Ferien hatten. Aber im Arbeitsalltag hängte mein Kind mich irgendwann ab und überraschte mich regelmäßig mit Kenntnissen und Einsichten, die in unserem Familienleben gar nicht oder nur am Rande Thema waren.
Nicht nur deshalb bin ich ein absoluter Fan von Kinder- und Jugendbüchern und denke, dass sie von vielen unterschätzt werden. Allein der Unterhaltungswert ist phänomenal. Was haben wir nicht gelacht, mitgefiebert, angefeuert oder auch gewarnt und Schrecksekunden erlebt! Die Heldinnen und Helden gehören irgendwie zu unserer Familie dazu und sind in manchen Situationen wahnsinnig präsent. Wir kommentieren Situationen mit Zitaten. Es gibt diverse Codes zwischen uns, die auf Geschichten zurückgehen. Es gibt Geschichten, von denen wir fast glauben, wir wären dabei gewesen. Was mich richtig fasziniert, ist die Art und Weise, wie es guten Autor*innen gelingt, ihr Publikum die Welt in all ihren schönen und unschönen Facetten entdecken zu lassen und zum Denken anzuregen, ohne dass es aufdringlich oder lehrmeisterhaft wirkt. Dieser schmale Grat zwischen Ansprache auf Augenhöhe und pädagogischem Betütern ist hohe Kunst. Ich warte immer noch darauf, dass mal eine Kinderbuchautorin oder ein Kinderbuchautor den Literaturnobelpreis erhält. Das wäre nicht nur eine Anerkennung für diejenige Person oder diesen Bereich der Literatur. Es wäre auch eine Wertschätzung für die jungen Menschen, die durchaus kompetente und anspruchsvolle Leser*innen sind und letztendlich die Zukunft gestalten werden.
In der Ukraine war ich anfangs gar nicht so begeistert vom Markt für Kinder- und Jugendliteratur. Für die Kleineren gibt es zwar unschlagbar tolle Illustrationen und sprachspielerische Poetik. Man denke nur an die aufwendig gestalteten Bücher des Kyjiwer Verlags a-ba-ba-ha-la-ma-ha oder vom Lwiwer Verlag Staroho Lewa (Old Lion´s). Dank des Programms vivavostok der Robert Bosch Stiftung und der Kinder- und Jugendliteraturbibliothek München begeisterten schon mehrere ukrainische Autor*innen und Illustrator*innen das junge Publikum auf Lesefesten in Deutschland. TRANSLIT stellte einige Bücher im Projekt Der blaue Frosch vor. Lesen Sie sich gerne ein! Es lohnt sich. Was ich vermisste, war aber eine gewisse Masse an guten längeren Geschichten, Romanen, dickeren Büchern, in die ein lesewütiges Kind (und seine Eltern) auch mal für eine Zeit lang abtauchen konnte. Ich meine solche, die von Ukrainer*innen geschrieben wurden und etwas mit dem Leben in der Ukraine zu tun haben. Übersetzungen aus anderen Literaturen gibt es mittlerweile mehr als genug. Nicht immer sind sie gut, weil sie allzu oft mit kleinem Budget und unter Zeitdruck entstanden sind. Aber das ist ein anderes Thema. Zurück zu den originären ukrainischen Kinder- und Jugendromanen, die ich vermisste. Ich bin mir nicht sicher, ob sie tatsächlich nicht da waren oder ob es sie nur dort, wo wir wohnten, nicht gab. Jedenfalls erschien mir jedes Buch, das wir dann doch dank hilfreicher Tipps von Freunden, von Bekannten oder auch vom Buchhändler unseres Vertrauens fanden, wie ein kleiner Schatz.
Einer dieser Schätze heißt Таємниця козацької шаблi (Der geheimnisvolle Kosakensäbel). Auf Ukrainisch ist das ein unheimlich klangvoller Titel. Schon allein dafür liebten wir dieses Buch. Ich glaube, am Ende der fünften Klasse hatte jedes ukrainische Kind in unserem Umfeld dieses Buch von uns zum Geburtstag bekommen. Wir waren wahrscheinlich die besten Kunden in dem kleinen Laden, wo wir die Bücher immer bestellten. Mittlerweile gehört Таємниця козацької шаблi zum ukrainischen Kanon schulischer Lesebildung. Damit haben wir aber nichts zu tun. Es passt einfach. Ein familiärer Roadtrip durch die Ukraine mit kleinen Abenteuern, die im echten Leben mit Kindern unterwegs so passieren können, auf der Suche nach einer altertümlichen Relique, die in den falschen Händen zu einer großen Gefahr werden könnte. Ein Quäntchen magischer Realismus verwoben mit historischen und gegenwärtigen Realien sowie aktuellen Debatten zur sozio-kulturellen Selbstverortung und ihren kollektiven Ausdrucksformen. Aufbereitet für ein junges Publikum, das nach der ukrainischen Unabhängigkeit 1991 geboren wurde und im Alltag sowohl mit den Debatten als auch mit den ritualisierten bzw. institutionalisierten Ausdrucksformen konfrontiert ist, ohne tatsächlich immer die kollektiven Beweggründe in ihren historischen und lebensweltlichen Dimensionen erfassen zu können. Spätestens seit dem 24. Februar 2022 werden diese Dimensionen allerdings auf fürchterlichste und brutalste Weise aktualisiert und auch in das Gedächtnis der jüngeren und jüngsten Bevölkerung der Ukraine eingebrannt. Таємниця козацької шаблi war das absolute Gegenprogramm, in gewisser Weise auch ein Hoffnungsschimmer. Ich bin mir gerade ziemlich sicher, dass wir kaum solche Bücher in der Ukraine finden konnten, weil Unsicherheit, politisch wie wirtschaftlich, und die periodische Traumatisierung der Gesellschaft weder bei Autor*innen noch bei Leser*innen genügend Raum für lange Geschichten ließen, in denen mit Freude am Fabulieren, einer gewissen Selbstironie und viel Einfühlungsvermögen für die Zielgruppe eben all jene schwierigen Themen behandelt werden. Dass sich nun jemand da heranwagte, sich noch kaum kinder- und jugendliterarisch aufgearbeitetem Stoff zuwandte und sich einer Menge von Fallstricken stellte, das auch durfte und dafür gefeiert wurde, war – bei allen Baustellen, die es nach wie vor gibt – für mich eine Begleiterscheinung allgemeiner positiver Entwicklungen in der Ukraine.
Таємниця козацької шаблi war nicht meine erste Begegnung mit Zirka Menzatjuk, denn TRANSLIT hatte im Blauen Frosch bereits ihr Buch Зварю тобі борщик (Ich koche dir einen Borschtsch) vorgestellt. Auch das eine oder andere Kunstmärchen von ihr hatten wir schon gelesen. Als Autorin von Jugendromanen war sie mir bis dahin eher nicht bekannt. Ich war sogar ein bisschen skeptisch, denn die Kinderbücher von Zirka Menzatjuk sprühen sozusagen vor ukrainischem Nationalkolorit und die Autorin tritt häufig in ukrainischen Trachten öffentlich in Erscheinung. Ich war mir nicht sicher, ob und wie der Bogen zwischen dieser Attitüde und den Bedürfnissen jugendlicher Leser*innen gelingen könnte. Ich hatte vor dem ersten Lesen sogar ein bisschen Angst, dass der Roman bemüht oder schwerfällig daher kommen könnte. Aber nein! Er funktioniert und zwar ziemlich gut. Zirka Menzatjuk holt ihre Leser*innen in ihrer eigenen Lebenswirklichkeit ab, ermöglicht eigene, neue Entdeckungen und nimmt der dennoch präsenten ukrainischen Symbolik und Thematik an Gewicht, ohne ihre Bedeutung oder ihren Wertehorizont zu minimieren. Vielmehr gewinnt beides durch die Beiläufigkeit, mit der es in die Erzählung eingewoben ist, an Normalität. So ist die patriotische Einstellung eines Geistes ebenso selbstverständlich wie die bestickte Bluse als Kleidungsstück zu festlichen Anlässen. Damit stärkt Zirka Menzatjuk einerseits einen Diskurs. Andererseits wird der Diskurs über ihre Texte auch sichtbar und – Sprachkenntnisse oder Übersetzung vorausgesetzt – auch von außen lesbar und nachvollziehbar. Gerade jetzt, da Russland die Ukraine vernichten will und jegliche Äußerung von Ukrainertum als Faschismus oder Nazismus diffamiert, was durchaus auch im deutschsprachigen Raum verfängt, ist es um so wichtiger, sich mit Texten und Diskursen differenziert auseinanderzusetzen. Kinder- und Jugendliteratur kann hier durchaus auch für erwachsene Leser*innen und die kulturtheoretische Forschung interessant sein, ohne ihre Funktionen als Wissens- und Erfahrungsquelle sowie als Unterhaltungsmedium für ein junges Publikum zu verlieren. Auch wenn der deutschsprachige Kinder- und Jugendliteraturmarkt gut gefüllt ist, sollte Büchern aus anderen Ländern, auch aus den sogenannten kleinen Sprachen, viel mehr Präsenz eingeräumt werden. Sie vermitteln auf authentische Weise Weltwissen – ich erinnere an die Biolumineszenz – und haben immenses Potential, Dialog und Völkerverständigung zu fördern. Dies gilt auch für Bücher aus der Ukraine. Qualität natürlich vorausgesetzt.
Dass ich für dieses Projekt den Auszug aus einem anderen Buch von Zirka Menzatjuk – nämlich Як я руйнувала імперію (Wie ich ein Imperium zu Fall brachte) – gewählt habe, hängt mit der Wirkmächtigkeit, die das Kapitel, und eigentlich das ganze Buch, für mich persönlich hat, zusammen. Ich weiß nicht, ob es auch daran liegt, dass die Hauptfigur und Ich-Erzählerin Jaryna genauso alt ist, wie ich in der Wendezeit war, oder ob es tatsächlich allein daran liegt, dass Zirka Menzatjuk die passenden Bilder gefunden und den richtigen Ton getroffen hat: Ich kann mir das Erzählte und all die Stimmungen so gut vorstellen und fühle mich in meinem Wissen und meinen Erfahrungen durch diesen Blick auf die damaligen Ereignisse so bereichert, dass ich das Buch nicht mehr missen möchte. Allein die Geschichte von der seltsamen Haarausfallkrankheit bei Kindern, die 1988/1989 in Tscherniwzi grassierte, sagt so viel über den Umgang der Sowjetmacht mit den Menschen und mit Katastrophen aus! Man fragt sich unwillkürlich, wie viele Dinge geschehen sind, ohne dass sie je an die Öffentlichkeit gerieten oder geraten werden? Wie viele und was für Dinge passieren heutzutage in Russland und vor allem in den von Russland okkupierten Teilen der Ukraine, von denen nur wenig nach außen dringt, weil die Kommunikationskanäle massiv und gezielt blockiert werden? Ich habe Kolleginnen und Kollegen aus Tscherniwzi gefragt, ob es diese Alopecia tatsächlich gab. Alle, die zu jener Zeit dort lebten, können sich erinnern. Später Zugezogene wissen in der Regel nichts davon. Auch die im Auszug demonstrierte Kunst, Informationen zwischen den Zeilen zu verpacken bzw. herauszulesen, ist erhellend. Und welcher junge Mensch weiß von der Singenden Revolution im Baltikum? All dies sind Bausteine eines historischen Weltwissens, das heute vielfach fehlt, um die Reaktionen und Positionen sowohl der Ukraine als auch der anderen osteuropäischen Staaten jenseits von Russland und Belarus einordnen zu können.
Aber es sind nicht nur jene politischen Ereignisse und die Praktiken der Macht, der Konformität oder des Widerstands, die das Buch vermittelt. Es macht die Lebenswirklichkeit in der Ukraine in jenen Umbruchsjahren aber auch bis in die heutige Zeit erfahrbar und füllt die abstrakten Vorstellungen mit konkreten Scenes. Das macht gute Literatur und erst recht gute Kinder- und Jugendliteratur aus. Hoffentlich findet es noch viele, viele Leser*innen.