Von Jenny Alwart
Als Jurij Andruchowytsch hörte, dass ich zu Schewtschenko in der ukrainischen Gegenwartskultur forschte, fragte er mich lachend: „Um welchen Schewtschenko geht es denn? Um Taras oder Andrij!?“ Er spielte mit der Frage, welcher der beiden Schewtschenkos – der Dichter und Maler oder der Fußballspieler – in Deutschland bekannter ist.
Als ich mich vor ein paar Jahren dazu entschied, zeitgenössische Vorstellungen über Taras Schewtschenko zu untersuchen, wusste ich nicht, worauf ich mich eingelassen hatte. Und dass ich einen Glücksgriff getan hatte! Nicht nur, dass ich in fast jeder Stadt, in die ich kam, einem Schewtschenko-Denkmal, einer Schewtschenko-Straße, einem Schewtschenko-Park oder ähnlichem begegnete und so immer wieder auf die eine oder andere Art mit meinem selbstgewählten Haupthelden zusammenstieß. Auch die Ukrainer, die ich um Unterstützung für mein Forschungsvorhaben bat, schauten mich stets erfreut an, als ich von meinem Thema berichtete. „Sie suchen Literatur über Schewtschenko?“, fragte eine Bibliothekarin in der Vernadskyj-Nationalbibliothek in Kyjiw. „Hier, bitte schön“ – und sie zog zwei Holzschubladen des alphabetischen Zettelkatalogs hervor. „Und nutzen Sie auch unseren elektronischen Katalog! Computer finden Sie im Lesesaal.“
Ich kam auf meinen Recherchereisen an ungewöhnliche Orte. So stieß ich eines Tages in Lwiw auf das Schewtschenko-Zimmermuseum im Kunstpalast der Stadt, dessen Wände in barock anmutender Hängung mit Porträts von Schewtschenko übersät sind (Foto 4). Demgegenüber erstaunte mich die Leere in der neuen Ausstellung des Schewtschenko-Museums in Kaniw kurz nach der Wiedereröffnung im Jahr 2010. Es waren viele großflächige Reproduktionen von Schewtschenkos Werken und historischen Fotografien zu sehen, aber kaum originale Exponate (Fotos 5 und 6) – sie waren in die Museumslager verbannt worden. Als ich eines Tages im Kurort-Park in Myrhorod auf ein Schewtschenko-Porträt aus Pflanzen stieß (Foto 7), hatte ich plötzlich genug. „Das geht zu weit!“, dachte ich. „Du musst aufpassen, dass du am Wegesrand nicht nur noch Schewtschenko siehst!“ Ich beendete das Projekt und setzte einen Punkt an das Ende meines Buches.
„Warum Schewtschenko?“ Weil wir im Land der Dichter und Denker über diese Schlüsselfigur in der Erinnerungskultur der Ukraine kaum etwas wissen – wohingegen man Schewtschenko dort auf Schritt und Tritt und in allen Spielformen begegnet. Diese Diskrepanz war eine wissenschaftliche Verlockung, und sie ist eine Herausforderung für die gegenseitige Wahrnehmung.