Ein Hauch von Grauen und verborgene Hoffnung
Die Ukraine, am Rande Europas, ist für viele noch ein unbekanntes
Land. Ihre Literatur ist ein Wegweiser zu einem besseren Verständnis
ihrer Geschichte und Gegenwart. Ukraine – das heißt übersetzt: »Land an
den Grenzen«. Dessen Reichtum lag auch im oft friedlichen Miteinander
verschiedener Ethnien, an der Lage zwischen Osten und Westen. Diese
brachte viele fruchtbare, aber auch furchtbare Begegnungen mit den
Nachbarn mit sich. Wie sehr das Land im Ersten Weltkrieg aus »Feldern
und Schlachtfeldern« bestand, ist im »Westen« wenig bekannt. Es gab aber
ukrainische Autoren, die zu Augenzeugen jener Jahre zwischen »Grauen
und verborgener Hoffnung« wurden. Das Grauen, das war der Krieg. Die
Hoffnung, das war 1919 die kurze Aussicht auf eine unabhängige Ukraine.
Diesen Traum machte die sowjetischen Besetzung zunichte. Darüber zu
lesen ist bei Mykola Chwylovyj, wo der Wahnsinn zum Muttermord führt;
bei Jurij Janowskyj gipfelt der apokalyptische Ritt durch die Steppe in
einem Massaker. Walerijan Pidmohylnyj erzählt von der
Anarchistenrevolution um Nestor Machno. Wasyl Stefanyk und Jurij Lypa
nehmen uns mit ins Hinterland zu Kleinstädtern, Bauern, Kindern, mit all
ihren Hoffnungen. Den beklemmenden Eindruck von Wirren und Chaos
vermittelt die expressionistische Lyrik von Leonid Zymnyj, Iwan
Kruschelnyzkyj und Mychajlo Lebedynez; Maik Johansens Gedichte zeigen
Gewalt und Visionen einer nachrevolutionären Zukunft, die von Mychajlo
Semenko spiegeln Fronterlebnisse in Wladiwostok. Was viele dieser
Autoren unter sowjetischer Herrschaft erwartete, ist nicht minder
tragisch. Die meisten von ihnen wurden auch ihrer Sprache wegen zum
Schweigen gebracht oder unter Stalin ermordet. So ist dieses Buch
Vermächtnis und Dokument einer gewaltsam um ihre volle Entfaltung
gebrachten Moderne, die ihren Platz in einem gesamteuropäischen
Zusammenhang beansprucht. Und gleichzeitig mögen manche der aktuellen
Erfahrungen der Ukraine wie ein déja-vu erscheinen angesichts der
bitteren Lektionen ihrer Geschichte. Abermals muß das Land seine
Unabhängigkeit und sein Territorium in einem Krieg verteidigen. Es sind
heutige ukrainische Autoren und Autorinnen, die in ihren Büchern auf
diese Bedrohung reagieren, in diesem Sinne sind sie Nachfolger der hier
versammelten Schriftsteller.