Der Nerd und sein Trainer

Die Geschichte passierte ein Jahr nach Ausbruch der weltweiten
Finanzkrise.
Mitte der Neunziger hatten in einer ukrainischen Kleinstadt
zwei abgebrühte Gangsterjungs ihre Verbrecherkarriere begonnen.
Für damalige Verhältnisse war daran nichts Ungewöhnliches.
Sie waren schon knapp über zwanzig, also eigentlich keine
Jungs mehr. Aber „Gangsterjunge“ war in den Neunzigern keine
Altersangabe, sondern eine Gesinnung. Kein gemeiner Spitz-
name, sondern ein Ausdruck von Anerkennung. Ein Adelstitel,
ein Ritterschlag, wie das „Sir“ für Paul McCartney. Ein Gangster-
junge kann sich noch zu einem echten Gangster entwickeln. Und
ein echter Gangster muss sein Geschäft im Griff haben. Ein echter
Gangster steht zu seinem Wort, selbst wenn es dem gesunden
Menschenverstand widerspricht. Er betrügt seine Partner nicht,
kennt keine Angst und zahlt geliehenes Geld immer zurück.
Andrij Starodubzew, genannt Dron, und Kostja Kuhut, ge-
nannt Kostyl, hatten dieselbe Schule besucht, waren aber nicht in
dieselbe Klasse gegangen. In ihren Klassen waren sie die heim-
lichen Bosse, vor denen die Streber zitterten und sie abschreiben
ließen. Dron schrieb die Hausaufgaben wenigstens noch ab. Kostyl
ließ das von seinem Freund und Waffenträger Wowa Dudka
erledigen. Der trug den – wenig überraschenden – Spitznamen
Sancho. Die Lehrer ahnten natürlich, woher die verschiedenen
Handschriften in Kostyls Heft stammten, kamen aber überein,
ihn gewähren zu lassen, um ihn möglichst schnell loszuwerden.
Kostja Kuhut machte der Schule nämlich noch mehr Ärger als
Andrij Starodubzew.
Wenn jede Klasse einen eigenen Boss hat, ist die Vorherrschaft
heiß umkämpft. Dron und Kostyl legten deshalb fest, dass sich
alle männlichen Mitschüler, auch die Streber, am Kampf um die
Vorherrschaft zu beteiligen hatten. Wenn nun ein Brillenheini
nicht bis zum letzten für seine Klasse einstehen wollte … Sparen
wir uns die Einzelheiten, aber das konnte nicht gut ausgehen.
Denn: Wer nicht für die Klasse war, war gegen sie. Und was mit
Abweichlern passiert, ist bekannt.
Als Dron und Kostyl zur Schule gingen, wurde Sport noch von
Männern unterrichtet. Ihr Sportlehrer war ein echter Pädagoge,
der außerdem in der Stadtauswahl Fußball spielte und unter Ken-
nern als erstklassiger Stürmer galt. Er kam auf die Idee, die Ener-
gie der Bosse der Klassen A und der B in nützliche Bahnen zu
lenken. Der Kampf um die Vorherrschaft sollte auf dem Fußball-
feld ausgetragen werden.
Und in der Tat: Bei der kleinsten Unstimmigkeit zwischen den
Klassen oder ihren Bossen wurde ein Fußballspiel angesetzt. So
ein Spiel wurde nicht lange aufgeschoben, meist einigte man sich
auf den nächsten Samstag. Über diese Art der Konfliktbewälti-
gung erschienen Artikel an der Wandzeitung, in der Stadtzeitung,
im Kreis- und Gebietsblatt und schließlich in der Kiewer Presse.
Korrespondenten der Pionerska Prawda und später der Komso-
molska Prawda berichteten. Aber niemand dachte daran, das
Ganze genauer zu hinterfragen. Denn eigentlich hätte man
schreiben müssen, dass der Lehrer einfach zwei tolle Fußball-
mannschaften für seine Schule aufgestellt hatte. In die Prawda,
das Organ der Kommunistischen Partei, schafften es unsere Hel-
den nicht. Sie gingen nach der achten Klasse an die Berufsschule,
dann zur Armee und wurden schließlich Schutzgeldeintreiber.

Seit der Schulzeit hatte sich im Leben von Dron und Kostyl
nicht viel geändert. Jeder hatte seine Familie. Wie früher in der
Schule steckten sie das Territorium ab und teilten es untereinan-
der auf. Anfangs griffen sie beim kleinsten Konflikt zu Schlagring
und Pistole. Dann aber erinnerten sie sich an die alte Schultra-
dition: Wozu die Leute zu Krüppeln schlagen und die Bullen auf-
scheuchen, wenn man alles unauffällig regeln konnte, aus seinen
Gangs Fußballmannschaften machen und alle Streitigkeiten auf
dem Spielfeld austragen konnte. Dron und Kostyl trafen eine
Abmachung, die halten sollte: Die Verlierermannschaft hatte alle
Forderungen dessen zu erfüllen, der die siegreiche Mannschaft
anführte. Und zwar ohne, wie die Politiker sagen, Annexionen
und Kontributionen. Auch wenn derjenige gewinnen sollte, der
völlig im Unrecht war. Der Verlierer konnte ja Revanche fordern,
seinen Anspruch ein weiteres Mal erheben und mit seinen Leuten
erneut antreten.
Eine Bedingung behielten Dron und Kostyl bei: Die Mann-
schaften durften nicht aus fremden Spielern bestehen. Dann hätte
man ja Blochin, Rebrow, Platini oder sonstwen engagieren und
ganz leicht gewinnen können. Auch Spieler durften nicht getauscht
werden. Nur Mitglieder der Familie durften aufgestellt werden. Es
war streng verboten, vor einem bereits angesetzten Spiel jeman-
den Neues aufzunehmen. Das widersprach dem Ehrenkodex.
Dron und Kostyl waren echte Bosse: Diese Abmachung
konnte niemand aufheben, weder Gesetz noch Gericht, höchs-
tens sie selbst. Aber sie standen zu ihrem Wort, und die Abma-
chung war ihnen heilig.
Später ging Andrij Starodubzew hinter Gitter, weil er so ein
südkaukasisches Arschloch umgelegt hatte, das sich sein Revier
unter den Nagel reißen wollte und anfing, den Chef zu mimen.
Lebenslänglich bekam er nicht, weil die Bullen sich dieses Arsch-
loch eigentlich auch vom Hals schaffen wollten, aber mächtig in
der Klemme saßen, denn die Kaukasier hatten dem stellvertre-
tenden Polizeichef zum Geburtstag einen Westschlitten vor die
Tür gestellt. Die Sache mit dieser kriminellen ethnischen Grup-
pierung war heikel, aber Dron hatte das Problem aus der Welt
geschafft. Die Kaukasier versuchten danach, den Staatsanwalt
und den Richter zu bestechen, um den Mörder ihres Bruders in
ihre Finger zu bekommen. Aber man ließ sie abblitzen, Recht und
Ordnung gingen schließlich vor. Und so saß Dron nur zehn Jahre
und erarbeitete sich in dieser Zeit ein großes Ansehen. Sein An-
sehen war so groß, dass er nach seiner Entlassung gleich ein fettes
Geschäft aufzog und schnell zum Bankier aufstieg.
Kostja Kuhut ließ sich ungefähr zur gleichen Zeit für die Ver-
brechen eines anderen einbuchten. Als er wie versprochen begna-
digt wurde und rauskam, konnte er ein schönes Sümmchen kas-
sieren. Damit stieg er dann selbst groß ein. Womit er handelte,
war ihm völlig egal: Billig kaufen und teuer verkaufen konnte
man so ziemlich alles. Dron und er waren nun erwachsen, und
die Zeit der Ränkespiele war vorbei. Als Freundschaftsdienst gab
Dron Kuhut sogar zinslose Kredite, damit er sein Geschäft aus-
bauen konnte. Und Kuhut zahlte das geliehene Geld vielleicht
nicht immer pünktlich, aber immer zurück.
Kurz vor dem Ausbruch der weltweiten Finanzkrise, als die
Ukraine einen bis dahin ungekannten Konsumboom erlebte,
wollte Kuhut in seiner Heimatstadt eine Kette für importierte
Haushaltstechnik eröffnen. Er nahm bei Starodubzew einen Kre-
dit auf und kaufte im Ausland ohne Zwischenhändler für das
ganze Geld Elektrogeräte. Da sein Lager nicht ausreichte, mietete
sich Kuhut ein zusätzliches Lagerhaus, füllte es bis unter die Decke
mit Haushaltsgeräten, und mit Luftballons für die Kinder und
dem Auftritt von Jewgenij Kemerowskij, einem russischen
Schlagerstar, für die Erwachsenen eröffnete er seine Kette. Das
Geschäft lief gut an, die Leute rissen sich um die Westtechnik.
Aber dann kam ihm die Finanzkrise dazwischen …