Der Pöbelapostel
[…]
„Es gibt nur ein Ereignis, das sich mir für immer ins Gedächtnis und in meine Seele eingebrannt hat. Und zwar war das mit meiner Großmutter …“ So begannen die Aufzeichnungen des alten Uhrmachers für seinen Sohn. „Ich war damals noch klein, zählte nicht mehr als zehn oder elf Jahre. Mit meiner Großmutter war das, denn meine Mutter habe ich nie gekannt. Sie hat meine Geburt mit ihrem jungen Leben bezahlt. Meine Großmutter, das ist deine Urgroßmutter, die du zweifellos in guter Erinnerung hast, weil sie dich nicht nur einmal vor deines Vaters strengem Gemüt in Schutz nahm, und die schon in jungen Jahren die Frau eines älteren Militärs, nämlich eines Obersts, unter dem später auch mein Vater diente, geworden war, sie brachte also uns beide, meine einzige, damals fünfzehnjährige Schwester (eben die Tante Rybko, in den Bergen) und mich zum Begräbnis unseres Vaters. Er war aufgebahrt im Hause von Alfons Albinskij, einem damals noch jungen aber schon hochgestellten Bergbauverwalters in den bukowinischen Karpaten, der war angestellt bei den Eisenerzminen, die in Besitz der Gebrüder von Hanigheim waren, von denen du schon einiges gehört hast und sicher noch einiges hören wirst, insofern es uns Ukrainer betrifft.
Wie gesagt.
Wir fuhren zum Begräbnis meines Vaters, der Hand an sich gelegt hatte, infolge eines unglückseligen Hazardspiels im Palast eben derer von Hanigheim am Kartentisch.
Man hatte meine Großmutter telegraphisch benachrichtigt, woraufhin sie sich, ausgestattet mit einer größeren Summe Geld, mit uns beiden auf den Weg machte.
Wie, was? fragst du, mein Sohn?“
An dieser Stelle brach die Schrift ab, so als schaute der alte Uhrmacher seinen Leser mit grimmigem Blick an.
„Du weißt, einmal im Jahr ist Musterung.
Einmal im Jahr, zu einer bestimmten Zeit, fährt eine Kommission an die vorher festgelegten Orte. Die Kommission besteht aus einigen wenigen Militärangehörigen. In erster Linie ist das der Stabsarzt und dann noch ein paar Ehrenmänner von höherem und niederem militärischen Rang. Zu jener Zeit gehörte auch kein geringerer als mein Vater Julian Zesarewytsch dazu. Damals – von heute will ich gar nicht sprechen – gab es Ärzte, die bei der Musterung heimlich die Hand aufhielten. Es heißt, dass sei mal mehr, mal weniger offensichtlich gewesen, aber schwer zu beweisen, denn wer kannte sich schon damit aus und wer hätte es kontrolliert? Auf einer ihrer Reisen kam die Kommission auch in die Ortschaft M. in den Bergen, von wo es nur noch zwei Stunden bis zum Wohnsitz derer von Hanigheim, den Betreibern der Eisenerzminen, war.
Das kleine Örtchen I., wo sich der Wohnsitz der Hanigheims befand, lag ebenfalls in den Bergen. Hier herrschten der Lärm der Montanindustrie und das Tosen des Bergflusses, oberhalb dessen sich eine Eisenhütte und ein kolossales Hammerwerk befanden, aus denen Tag und Nacht Funkenwolken sprühten, begleitet von den lauten Rufen der Montanarbeiter, so dass immer geschäftiges Treiben und Leben in dem Ort waren.
Mein Vater war mit der Ortschaft I. gut vertraut und kam nicht das erste Mal in die Verlegenheit, bei den Herren von Hanigheim zu Gast zu sein, denn sie mochten und schätzten ihn für seine sympathische Gesellschaft und seine aufrichtigen Offizierstugenden. Er freute sich über den Aufenthalt, denn er fühlte sich dort immer wohl. Unsere schöne und stolze Großmutter, Witwe eines hochrangigen Offiziers, erfreute sich bei den Hanigheims gar einer solchen Beliebtheit, dass ihr das Privileg zukam, auf Einladung der Herrschaften den Sommer über mit uns Kindern in deren Hause zu logieren. Das soll hier am Rande erwähnt sein, damit du das, was ich im folgenden skizzieren werde, richtig einordnen kannst.
*
Unmittelbar nach unserer Ankunft im Hause des Verwalters Albinskyj, der ihr telgraphiert hatte, sprach meine Großmutter unter vier Augen mit dem Lehrer Rybka. Dann betraten wir die Halle, in der mein Vater, umrandet von großen Blumen, aufgebahrt war. Er wirkte auf mich, als würde er einfach schlafen.
In der Halle waren der Hausherr und seine Frau zugegen, zudem die Leute von der Musterungskommission, angeführt vom Stabsarzt und einem Major, ein paar Leute aus der Bergbaudirektion, Vertreter der örtlichen Intelligenzja und ein paar Arbeiter.
Ich schaute meine Großmutter, die uns beide an der Hand führte, von der Seite an. Mein Sohn, ich bin alt, aber ich habe nie mehr im Leben so viel majestätische Würde und Entschlossenheit im Antlitz einer Frau gesehen, wie damals bei meiner Großmutter, die mir heute so seltsam fremd ist.
Sie selbst, scheint mir, achtete auf niemanden. Blass wie der Tod schritt sie langsam und gleichmäßig, mit gesenkten Augen, im schwarzen Kleid, dessen Falten schwer nach unten fielen und ihre Schuhspitzen bedeckten. So blieb sie mit uns beim Katafalk, wo der Vater aufgebahrt lag, stehen.
Im Raum, der schwarz abgehängt war, herrschte eine Stille, als hätten mit unserem Eintreten alle den Atem angehalten. Alle Blicke waren auf uns gerichtet. Zuerst schob meine Großmutter meine Schwester zum Vater hin: „Verabschiede dich von ihm“, sagte sie halb flüsternd, aus scheinbar abgestorbenen Lippen, und wartete. Meine Schwester, die ebenso wie die Großmutter Trauer trug, taumelte mehr als dass sie zum Katafalk trat, und warf sich auf den Toten: „Warum hast du uns verlassen, liebster Vater?“, schluchzte sie auf. „Was für Schuld haben wir auf uns geladen, was für Schuld, Vater?“ Lag es an ihrer Stimme oder an ihren Worten, ich weiß es nicht mehr, jedenfalls schluchzten auch die Anwesenden, insbesondere die Frauen, laut auf, und dieses Schluchzen füllte für eine Weile den Raum aus. Meine Großmutter erwachte aus ihrer Starre und zog mit einer liebevollen aber entschiedenen Bewegung die Weinende vom Totenbett weg. Meine Schwester klammerte sich fest, beugte ihr Gesicht über ihn und küsste ein ums andere Mal seine auf der Brust zusammengefalteten Hände.
„Wecke ihn nicht auf, mein Kind … Er hat seinen Frieden gefunden, nur wir …“, sagte sie und brach ab. Meine Schwester trat widerwillig vom Toten zurück und machte meiner Großmutter Platz, die, ohne meine Hand loszulassen, jetzt an den Katafalk herantrat, mich hochhob und sagte: „Küsse ein letztes Mal deinen Vater, mein Junge. Wir werden ihn nicht wiedersehen. Er ist von uns gegangen“. Erschrocken und aufgewühlt, kaum bewusst, was ich tat, machte ich, was sie gesagt hatte. Aber flüsternd, damit niemand es hörte, flehte ich: „Papa, steh auf,“ und legte, wie meine Schwester, meinen Kopf auf seine Brust, wo ich noch einmal flehte „Steh auf!“ Die Großmutter stellte sich hinter mich, zog mich herunter, nahm mich wieder an die Hand und sagte: „Und jetzt hör genau zu und wiederhole meine Worte!“
Ich schaute ihr in die Augen. Sie war bleich, ihr Gesicht war wie aus Stein, und sie sagte: „Als dein einziger Sohn, Vater, schwöre ich dir, dass ich, egal was ohne dich im Leben aus mir wird, ein Arbeiter oder ein dekorierter Herr, ich werde dabei ehrlich sein, von ganzem Herzen und aus tiefster Seele gegen Sklaverei und Ausbeutung kämpfen und meinem Volk treu sein bis zum Ende meines Lebens. So Gott mir helfe, Amen“. Ich wiederholte alles Wort für Wort. Dann schwieg ich und sie trat von mir weg. Einen Moment war es still und alle warteten. Dann beugte sie sich über den Toten als wollte sie beten, berührte mit ihrer Stirn seine Hände, flüsterte etwas, bekreuzigte sich, hob den Kopf und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen.
Ich schaute in ihr Gesicht. Und obwohl ich noch sehr klein und ein Kind war, kannte ich ihre Mimik doch gut genug um zu wissen, dass ihr in diesem Moment nichts Gutes durch den Kopf ging. Jemand im Raum seufzte laut auf, alle Augen richteten sich wieder auf uns.
Meine Großmutter achtete nicht darauf. Sie machte einen Schritt auf den Hausherrn zu, der sich von den Trauergästen abhob mit seiner aufrechten, fast herausfordernden Haltung, mit den nach hinten gekämmten, nackenlangen Haaren und der Paradeuniform der Bergleute. Sie fokussierte ihre schwarzen Augen auf ihn, hob die Hand und rief: „Und jetzt hörst du gut zu!“
Der Minenverwalter merkte auf, in seinen grauen Augen funkelte es, aber er bewegte sich nicht von der Stelle. „Jetzt hörst du gut zu“, wiederholte meine Großmutter. „Ich verfluche dich für dieses unschuldige Waisenkind, dich und deine ganze Familie, wie groß deine Kinderschar auch sein mag, keines von ihnen soll mit einer Glückssträhne beschieden sein, durch dein Zutun und Werk aber sollen sie in der Pfütze des Lebens untergehen, gerade wenn sie sich ans Ufer gerettet haben.
Ich verfluche dich, dein Jüngstes soll sich in eine Medusa verwandeln, du selbst aber sollst ewig und in Einsamkeit leben und nicht sterben, wenn aber doch, dann soll sich keine Hand finden, deine Augen zu schließen, dass sie zur Abschreckung aller für immer offen bleiben … dass du…“ an dieser Stelle wurde sie unterbrochen. Ein Schreckensschrei hallte durch den Raum und jemand sank zu Boden. Alle drehten sich nach der Person um.
Es war die Hausherrin, die Frau des Minenverwalters Alfons Albinskij. „Sie ist bewusstlos“, rief jemand der Anwesenden. „Der Schlag hat sie getroffen. Sie ist bewusstlos.“
In der Tat war sie nur bewusstlos. Man brachte sie hinaus und einer der Herren, ich glaube einer der Militärs, trat auf meine Großmutter zu und bot ihr seinen Arm an.
Der Minenverwalter aber zeigte auf sie und sagte: „Schaut sie euch an! Sie ist vor Kummer wahnsinnig geworden.“ Meine Großmutter schob den angebotenen Arm weg, schaute in die Richtung, von wo sie die Stimme des Verwalters gehört hatte, traf aber nur auf erschrockene Gesichter. Wie ein Schatten huschte ein flüchtiges Lächeln über ihr Gesicht, sie beließ es aber dabei.
„Nach der Beerdigung komme ich nochmal zurück und bezahle die Schulden“. Mehr sagte sie nicht. Sie verbeugte sich tief vor dem Toten und schlug ein Kreuz, so als würde sie ihn segnen, bevor er ins Grab kam. Dann nahm sie uns wieder an die Hand. Der Priester trat ein und begann mit der Zeremonie. Das spare ich hier aber aus, denn es gibt nichts Peinlicheres für mich als zu sehen, wie ein Sarg geschlossen wird.
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Als wir hinter dem Sarg aus der Halle traten, fielen mir zwei junge Frauen auf, an denen wir vorbei mussten. Sie sprachen laut miteinander und die eine zeigte auf mich: „Dieses arme verwaiste Geschöpf ist seinem unglücklichen Vater ja wie aus dem Gesicht geschnitten“. Sie hatte rotblondes Haar und ich fand sie unheimlich schön. Wie sich später herausstellte, war sie eine verarmte Verwandte des Hausherrn, also auch eine „Albinskij“. Sie lebte bei ihrem Onkel und half im Haushalt sowie bei der Erziehung der nicht kleinen Kinderschar. Die Frau neben ihr, eine Brünette mit schwarzen Augen und wulstigen Brauen, wirkte außerordentlich abstoßend auf mich. Sie verfolgte mich mit einem so vernichtenden Blick, dass ich mich schützend wegdrehte, bis wir aus der Tür heraus waren.
Sie war die einzige Schwester des Hausherrn und, obwohl zu diesem Zeitpunkt noch jung, bereits verwitwet.“
Julian hob den Kopf für einen Moment und sagte dem Vater, an welcher Stelle er gerade war. Er wollte wissen, ob die junge Witwe vielleicht Frau Orelezka war.
„Ja, ihr Mann, ein germanisierter Ukrainer, wie das in jener Zeit nicht selten war, war Postmeister aber auch ziemlich wohlhabend. Er lebte eben in I., war Postvorsteher und betrieb die Postkutsche.“
„Damals gab es die Eisenbahn noch nicht?“
Der Vater schüttelte den Kopf. „In jener Gegend noch nicht“, war seine Antwort. „Die Eisenbahnstrecke war schon geplant, die Gebrüder von Hanigheim unterstützten das Projekt auch sehr, aber es wurde erst ein paar Jahre später umgesetzt. Das war ein Grund mit für den Untergang ihres Unternehmens. Die fehlende Eisenbahnstrecke kostete sie bei der Ausfuhr des Eisenschwamms unheimlich viel Zeit. Daneben war es aber auch die viel zu lässige Aufsicht über die Bergbaudirektion, die Gutgläubigkeit gegenüber den Herren Räten, Schatzmeistern, Geschäftemachern, und vor allem gegenüber den Verwaltern, wie Alfons Albinskij einer war, die nicht nur schamlos das Vertrauen der Deutschen ausnutzten, sondern in ihren Diebereien immer maßloser wurden, während sie alles schönredeten und sich anbiederten, bis es kam, wie es unter solchen Umständen immer kommt.“
„Aber lies weiter“.
„Es gab in der Gegend wohl schon Leute, die in einem anderen Bereich arbeiteten, in keinerlei Verhältnis zu den Herrschaften standen aber von den Machenschaften der Herren Verwalter wussten. Sie konnten jedoch faktisch nichts beweisen, ohne den Unwillen der Administration oder gar der Herrschaften auf sich zu ziehen.
Vielleicht empfindest du jetzt, mein Sohn, Bedauern darüber, dass der wundervolle Besitz und das Unternehmen nicht gerettet werden konnten. Vielleicht fragst du auch, ob es wirklich keine Seele gab, die den Besitzern hätte zuflüstern können, worauf sie den Finger legen sollten. Und auch ich frage mich, hat es wirklich niemanden gegeben? Denn es gab wohl schon den einen oder anderen. Aber das hat alles nichts genützt. Da war zum Beispiel Herr Orelezkyj, ich hatte ihn schon erwähnt, er war gut situiert und der Postmeister, und er war der Mann von Frau Orelezka. Durch seine Hände gingen von Zeit zu Zeit dicke Geldsendungen, die der Minenverwalter Albinskij an die Sparkasse L.C. u. W. schickte, nie und nimmer konnten diese Beträge aus dem monatlichen Gehalt des Bergbauverwalters stammen, der ohnehin über seine Verhältnisse lebte und zu diesem Zeitpunkt bereits mehrere Kinder hatte. Woher also kam dieses Geld? Und waren die anderen etwa besser? Ganz und gar nicht. Sie schickten nur keine Geldbeträge an irgendwelche Banken. Sie stellten das alles so geschickt an, dass es schier unmöglich war, schwarz auf weiß zu beweisen, wohin die Gewinne der von Hannigheims verschwanden. Der Postmeister Orelezkyj, der sich dank seines Vermögens mit niemandem gut stellen musste, verstarb jedoch jung und unerwartet und es gab niemanden mehr, der das Unrecht hätte bezeugen können.“ Julian las und konnte sich nicht losreißen. „Ein anderer Ehrenmann, der nicht weniger Einblick in die Montanwirtschaft hatte, war ein Volksschullehrer, ebenfalls ein Ukrainer, eine ehrliche Seele und auch nicht germanisiert, aber was konnte er in seiner niederen Stellung gegen die aufgeblasenen Herren Verwalter ausrichten? Sich an die Leitung zu wenden, wo der schlaue, wendige und gebildete Alfons Albinskij eine führende Position innehatte und sich zudem großer Beliebtheit bei den Besitzern erfreute, wäre mutig aber zugleich lächerlich gewesen.
Was war ein Volksschullehrer schon für die Herren Hanigheim?
Trotzdem will ich mich etwas länger bei diesem Lehrer aufhalten.
Er hieß Rybka und war Lehrer für Deutsch und einige andere Disziplinen (unsere ukrainische Sprache war zu dieser Zeit noch nicht zugelassen an den öffentlichen Schulen und er erteilte lediglich in einigen wenigen Häusern privat Ukrainischunterricht. So auch im Hause des Minenverwalters Albinskij).
Albinskijs Frau, stolze Tochter einer ehrwürdigen ukrainischen Persönlichkeit, die sich mit ihren literarischen Werken verdient gemacht hat, genoß bei ihrem Mann, einem Polen, so viel Autorität, dass er, das zu sagen habe ich die Ehre, sich auf den Wunsch seiner Frau hin, ihre Kinder möchten auch ihre Muttersprache beherrschen, nicht chauvinistischen Allüren hingab, sondern zustimmte. In dieser Gegend gab es, das muss man sagen, bis auf einen kleinen Prozentsatz unter den Huzulen, kaum ukrainische Intelligenzja. Vielmehr war das deutsche Element stark verbreitet. Merke dir, Sohn: Der Erfolg einer Nation hängt entschieden davon ab, wie stark die Kultur ihrer Gegner oder aber ihrer Nachbarn entwickelt ist.
Also, dieser Lehrer, mein Sohn, stammte vom Dorf und war noch sehr jung. Aufgrund seiner bescheidenen Art und seinem sympathischen Auftreten war er bei den Wohlhabenden und bei der Intelligenzja so beliebt, dass er schließlich zu der Ehre kam, die Kinder des Minenverwalters Albinskij unterrichten zu dürfen.
Mit Charisma und Gesang weckte er bei den Kindern neben der Sprache ihres Vaters auch die Liebe zur Sprache ihrer Mutter, was dazu führte, dass sie, jung wie sie sein mochten, im Spiel mit anderen Kindern unbewusst für das Ukrainische warben, indem sie den Unterricht nachspielten und damit auch bei den anderen Interesse und Lust an der Sprache weckten, dass es für die schwarzhaarige Frau Albinska die reinste Freude war, während sich die Stirn des Vaters in Falten legte oder sich sein Mund zu einem spöttischen Lächeln verzog. Einmal fuhr er den guten Rybka aber doch an, er solle mit den Kindern nicht so viel Zeit auf das Erlernen dieser Bauernsprache verschwenden, denn sie bräuchten diese, wenn überhaupt, ohnehin nur zur Verständigung mit den Dienstleuten.
Der Lehrer Rybka ließ diese Maßregelung ruhig über sich ergehen, änderte aber weder seine Einstellung, noch den Unterrichtsplan, sondern vermied einfach solche Momente, die die Aufmerksamkeit des Vaters und Polen auf entsprechende Äußerungen seiner Kinder hätte lenken können. Ansonsten vermittelte er die ukrainische Sprache genauso beflissen wie zuvor.
Der Unterricht und die freundschaftlichen Beziehungen zum gesamten Hause Albinskij, ebenso wie sein Ansehen in anderen Häusern, in denen er nicht nur als Lehrer, sondern als gern gesehener Gast verkehrte, brachten es mit sich, dass er, insbesondere dort wo junge Fräulein wohnten, auch zu dem einen oder anderen Fest geladen war, das je nach gesellschaftlichem Rang der Hausherren auf deren Anwesen stattfand.
So kam es, dass er das eine oder andere aufschnappte, das weniger den Unterricht oder das Amüsement betraf, sondern die Bewirtschaftung der Hanigheimschen Besitztümer, und er so zum Beobachter bzw. Zeugen wurde.
Ich halte mich nicht von ungefähr länger bei all diesen Ereignissen auf. Ich möchte dir zumindest ein flüchtiges Bild von dieser Vergangenheit der Bukowina geben, und dir auch zeigen, dass manchmal ein gesundes nationales Körnchen trotz allem nicht untergeht, unter was für widrigen Umständen und in welch feindlich gesonnenen Kreisen es sich auch befinden und bewegen mag.“
Hier brach die Schrift wieder ab, so als hätte der kränkliche Uhrmacher sich nach hinten gelehnt, die Augen gerieben und für einen Moment ausgeruht.
Julian stand auf und ging stumm im Zimmer auf und ab. Der Vater schwieg. Julian öffnete das Fenster, lehnte sich hinaus und schaute in die Ferne. Die Nacht war ruhig und atmete weißen Nebel, nur von ferne wehte das Klingeln von Schlittenglöckchen herüber. In seinem Kopf dreht sich alles. „Also so verhielt es sich mit seinem Großvater Zesarewytsch. Und mit der Großmutter Orelezka …“. Seine Gedankenflüge wurden unterbrochen von einem vorbeifahrenden Schlitten, in dem mehrere Männer, vermutlich ukrainische Intellektuelle, saßen, und andächtig ein ukrainisches Weihnachtslied sangen. Der Nachhall der Harmonien erfüllte die Luft.
Julian schaute dem Schlitten noch eine Weile nach, dann schloss er das Fenster und kehrte zu den Aufzeichnungen seines Vaters zurück.
„Ich lese weiter, Vater“, sagte er und rutschte mit seinem Stuhl näher an den Tisch mit der Lampe heran, dabei schaute er tief in die trüben Augen des Vaters. „Ich möchte so schnell wie möglich wissen, wie es mit Ihnen, mit Tante Sonja und allen anderen weiterging. Ich bin durcheinander, so als hätte es mich aus dem Sattel geworfen.“
„Tatsächlich?“, fragte der Vater bedächtig.
Bald sollte Julian mehr wissen.
Er las weiter.
„Dieser Abend, der sich für meinen unglücklichen Vater so katastrophal entwickeln sollte, war der Abschiedsabend der Hanigheims für ihren Schwager, der einige Zeit aus England zu Besuch zu seiner Schwester, der Angetrauten Joachim von Hanigheims, gekommen war, vielleicht aber auch, um, wie in einigen Häusern gemunkelt wurde, herauszufinden, wie es um den Besitz der Hanigheims stand, denn zumindest in V. war Joachim wegen seiner ausschweifenden Lebensart als „Kupferkönig“ bekannt.
Ich kann den Glanz und Luxus dieses Abends kaum mit Worten beschreiben; die Musik, die Gesangseinlagen für den fremden Engländer, der das allerdings eher verabscheute und sich viel mehr für den Erzabbau, für die Stollen, die Organisation und die Fortschrittlichkeit der Arbeit und Arbeitsbedingungen, die Höhe des Lohns etc. interessierte, als für Feste, die, wie an diesem Abend, zu seinen Ehren veranstaltet wurden.
Es versammelte sich an diesem Abend alles, was Rang und Namen hatte.Würdenträger mit goldenen Krägen und hohen Titeln, Herrschaften aus der Hauptstadt, Vertreter des Klerus, wie der Archimandrit des Suceaver Johannisklosters, Vertreter des Militärs, reiche, dunkelhäutige Bojaren aus der Moldau, der berühmte Musiker Nykolaj aus Suceava mit seiner Kapelle, Vater des später nicht weniger berühmten Geigenspielers Hryhorij, die Elite von Suceava. All jene Reichen und Schönen, die Auserwählten und Repräsentanten sowie ihre Garde von Bergbauverwaltern nebst Gattinnen, und die erwachsene Jugend beiden Geschlechts, war an diesem Abend zugegen.
Der „Palast“, wie die wohlhabende Gesellschaft das einstöckige, nicht allzu große, in einfachem Stil gehaltene Haus der Hanigheims nannte, schien an diesem Abend sozusagen in Licht zu baden. Große, runde Glasballons, die Fenster und die Glastüren, die auf den Balkon führten, alles reflektierte das Licht und erleuchtete den großen, mit weißem Kies ausgelegten Hof, die weißen Wirtschaftsgebäude sowie die Gebäude und Wege, die vom Haus wegführten, und alles erschien noch weißer und heller.
Der Minenverwalter Alfons Albinskij und die ganze Musterungskommission, die sich zu diesem Zeitpunkt in I. aufhielt, meinen Vater, ich hatte schon erwähnt, dass er mit den Hanigheims bekannt war, nicht ausgenommen, waren ebenfalls eingeladen. Mein Vater bewegte sich gerne in besseren Kreisen und war daran gewöhnt. Dieses Mal aber sagte er dem Verwalter Albinskij ab. Ihm war nicht danach. Er war schlecht gelaunt und, was wahrscheinlich noch eher zutraf, schlecht bei Kasse. Er war ja nur dienstlich hierher gekommen, und ihm war nicht danach, sich in so eine erlesene Gesellschaft zu begeben, ohne entsprechend ausgestattet zu sein. Auch der Stabsarzt wollte nicht teilnehmen, er sagte, dass er den freien Tag nutzen wolle, um die Kuranstalt in D., die Quellen und die Anlagen zu besichtigen. Also sagte er ab. Dann gab er aber doch nach. Der Verwalter Albinskij redete so lange auf ihn ein, und das konnte er gut, bis sich mein Vater einverstanden erklärte, wenigstens für eine Weile mitzugehen.
[…]