Die Silberspinne
(Anfang)
Im Frühling 1938 lief die Unruhe Streife in Czernowitz wie ein eifriger rumänischer Gendarm, der jederzeit und überall sein will, um auch in den entlegendsten Ecken dieser „seit eh und je rumänischen“ und doch ziemlich unsicheren Stadt, präsent zu sein und die Feinde Großrumäniens abzuschrecken, ganz besonders die Bolschewikulen und dieser anderen, wie hießen sich doch mal? Ukrainulen.
Im Februar hatte König Karol II. eine Verfassung unterzeichnet, nach der das rumänische Reich beginnen sollte, europäischen Idealen nachzueifern – und zwar den italienischen, spaniolischen und insbesondere den großdeutschen. Auf diese Weise erfuhr jeder königliche Untertan etwas mehr über den vanitas vanitatum et omnia vanitas, die Eitelkeit der Eitelkeiten. Je lauter die offizielle Propaganda über die Vorteile der neuen Ordnung erschallte, desto schwerfälliger wurden die Czernowitzer, desto weniger investierten sie in Geschäfte und desto mehr Geld floss in den täglichen Konsum. Sie aßen, tranken und amüsierten sich in den besten Czernowitzer Restaurants wie Lucullus und Palace, sie saßen ebenso in den etwas weniger edlen Gasthäusern und sie ließen auch die Bierkneipen und Weinstuben nicht aus. Wer in Paris gewesen war, besuchte die Kaffeehäuser Astoria und Belle Vue, die Bohème traf sich im Europa. In dieses Café kehrte auch der jüdische Jüngling Paul Leo Antschel an seinem 17. Geburtstag, dem 23. November 1937, mit seinem Freund Alfred Gong auf einen Kaffee ein, und ausgerechnet hier schrieb er die Gedichtzeile: „Ein rauschendes Wasser stürzt aus den Höhlen der Himmel“. Damals wusste noch niemand, dass dies der Anfang der berühmten „Nachtmusik“ von Paul Celan werden würde…
Karol Štefančuk und Helmut Hartl, Detektive des Kriminalkommissariats der Czernowitzer Polizeiquästur, machten da keine Ausnahme. Auch sie saßen im Restaurant des Hotels Pajura neagra, d.h. im Schwarzen Adler auf dem Unirii-Platz, der unter seiner kaiserlichen Majestät noch Ringplatz genannt worden war. Sie tranken Kaffee mit Cognac, aber nur zur Tarnung, denn in Wirklichkeit lauerten diese hervorragenden, wenn auch noch sehr jungen Detektive dem gefährlichsten Verbrecher von Czernowitz auf – Dumitru Cantemir. Dieser Schurke! Nicht genug damit, dass der Gauner vor ein paar Monaten um ein Haar die Polizeibeamten erschossen hätte, die ihn in seiner geheimen Wohnung am Boulevard Regele Carol festnehmen wollten. Er führte auch noch den gleichen Namen wie eine hochgeehrte Persönlichkeit: wie der Czernowitzer Bürgermeister Oberst Ion Cantemir.
„Schon allein deshalb sollte man ihn erhängen, meine Herren Offiziere“, hatte der Chef der Kriminalabteilung Viktor Popescu erst gestern Štefančuk und Hartl erklärt. Auf die Frage „wen?“ war er explodiert wie das nur hohe rumänischen Offiziere können: „Dumitru, Dumitru, heiliges Kreuz, Dumitru, wen habt ihr denn gemeint?“
„Den haben wir auch gemeint,“ antwortete teutonisch kaltblütig Detektiv Hartl. Und jetzt saßen sie hier auf der Lauer. In bequemen Wiener Sesseln, an einem weiß gedeckten Tisch, auf dem Zitronenscheiben, Kaviarcanapees, Kaffee und – zu Konspirationszwecken – Gläser mit Martell standen. „Vielleicht taucht Cantemir eher im Bristol auf und Goj, dieser Schuft, hat uns falsch informiert?“ fragte Helmut – gemeint war der Geheimagent Gojscha. „Ich glaube nicht,“ Karol nahm einen Schluck, „er hat ganz deutlich gesagt: Zum Schwarzen Adler. Hier arbeitet seine Lieblings-Serviertochter. Ich würde gerne wissen, welche es ist.“ Karols Kennerblick glitt über die hübsche Figur des Mädchens, das gerade am Tisch vorbeikam. „Schließlich zahlt der Staat, weil wir hier im Dienst sind und nicht zu unserem Vergnügen.“ „Genau das beunruhigt mich,“ antwortete Helmut scheinbar besorgt, „ich fürchte um das Budget des Ministeriums.“ Mit tief betrübtem Gesichtsausdruck bestellte Detektiv Hartl weitere zwei Gläser Martell und einen Schinkenteller. Karol und Helmut unterhielten sich im reinen Czernowitzer Idiom, einer ausgewogenen Mischung aus Deutsch, Ukrainisch und Rumänisch, die reichlich mit polnischen und jüdischen Wörtern und Wendungen gewürzt war. Es war noch früh am Morgen und ratsam, sich mit dem Martell noch etwas zurückzuhalten, umso mehr, als eine Begegnung mit Cantemir kaum ohne Schießerei ausgehen würde. So griffen die Detektive erst einmal nach den Zeitungen .
„Hör mal zu, Karol“, Helmut raschelte mit der ukrainischen Час, der Zeit, „in Paris wurden Bücher und Autogramme bekannter Schriftsteller und Staatsmänner versteigert. Ein Autogramm von Adolf Hitler hat 18 Tausend Franken gebracht.“
„Seltsam,“ bemerkte Karol.
„Wieso seltsam? Es gibt viele Anhänger des ‚Führers’ in Frankreich.“
„Das meine ich nicht, ich lese auch gerade über ihn. Die Deutsche Tagespost schreibt, aus der Umgebung des Kanzlers sei zu vernehmen, dieser arbeite an seinem zweiten Buch: Es soll die Erfolge der nationalsozialistischen Bewegung der ersten fünf Jahre beschreiben. Man weiß aber noch nicht unter welchem Titel.“
„Und in den Vereinigten Staaten von Amerika haben Demonstranten die Hakenkreuz-Fahne am Deutschen Konsulat verbrannt.“
„Wer steckt dahinter?“
„Steht hier nicht, kann man aber leicht erraten.“
„Verstehen kann man sie. Glasul Bucovinei (Die Stimme der Bukowina) berichtet über Massenselbstmorde unter den Juden in Österreich. In Wien haben sich viele jüdische Intellektuelle das Leben genommen.“
Helmut seufzte und nahm eine andere Zeitung:
„Hör mal was in der Czernowitzer Allgemeinen Zeitung steht: In den USA wurde der bekannte Gangster Al Capone aus dem Zuchthaus Alcatraz in der Bucht von San Francisco ins Gefängnisspital überführt. Der Grund für die Verlegung wird nicht genannt, es heißt nur, dass Al Capone unter Beobachtung steht. Andere Quellen berichten, dass er an einer voranschreitenden Lähmung leidet.“
„Erstaunlich“, Karol lächelte.
„Was?“ Helmut sah mit weit aufgerissenen, grauen Augen hinter der Zeitung hervor.
„Hier steht etwas über Italien. Dort wurde eine Schwadron von fünf Dreimotor-Flugzeugen gebildet, die um die ganze Erde fliegen sollen.“
„Duce-e-e“, sprach Helmut gedehnt. „Apropos, hier in der Zeit Auszüge aus seiner Rede über den Anschluss: „Das was in Österreich stattgefunden hat, ist eine nationale Revolution, und wir Italiener, haben die meisten Gründe, um ihre historischen Forderungen und Methoden zu verstehen…“ Und so weiter.
„Alle sprechen jetzt darüber“, konstatierte Karol, „der japanische Ministerpräsident Prinz Konoe schickte Hitler ein Gratulation zum Anschluss von Österreich.“
„Nicht alle“, widersprach Helmut, „von Herrn Stalin gibt es keine Glückwünsche.“
„Hat wohl keine Zeit“ , Karol fuhr sich durch sorgfältig gewachste Frisur. „Ist damit beschäftigt, seine Komplizen zu ermorden. Suceava berichtet, dass der ehemalige sowjetische Botschafter in Polen erschossen wurde. Und auch Antonov-Ovsijenko, Trotzkis ehemaliger Sekretär – er wurde von KGB Agenten in Barcelona verhaftet.
„Karol, kannst Du eigentlich Russisch?“, fragte Helmut unvermittelt.
„Lesen kann ich es, wunderte sich Karol, „aber sprechen nicht.“
„Also droht weder Dir noch mir das Militärgericht“, atmete Helmut erleichtert auf, „wie es zwei Staatsbeamten in Cisinau passiert ist, weil sie die russischen Sprache im Dienst verwendet haben.“ „Und wurden sie erschossen?“, blinzelte Karol mit seinen dunklen Augen.
„Nein, sie müssen Fünftausend Lei Strafe zahlen, jeder.“
„Nicht schlecht“, wunderte sich Karol,„man hätte damit einen Monat lang mit einem Mädchen im Schwarzen Adler leben können. Und so… haben sie das Kapital schlecht angelegt.“
„Was erwartest Du anderes in Cisinau?“ Helmut verzog sein Gesicht, „ein großes bessarabisches Dorf.“
Sie blätterten noch eine Weile in den Zeitungen, danach begann Helmut den Körperbau der Serviertöchter zu studieren, und Karol schaute einfach aus dem Fenster. Nichts Interessantes geschah.
Nach einer Weile fiel ihm ein Fuhrwerk mit Heu auf, das von zwei Pferden gezogen wurde und vorsichtig die Brincoveanu-Straße zum Unirii Platz hinunter rollte. Ein Bauer hielt die Zügel – ein bukowinischer Onkel mittleren Alters im Keptar, Kutschma und Postolen. Ein Mittelständler, dachte Karol, denn die Pferde sind gut gefüttert, der Gürtel glänzt kupfern und die Peitsche ist mit einer roten Quaste aus Stickwolle verziert. Ein armer Bauer hätte stattdessen ein abmagerte Mähre gehabt, eine Peitsche aus Rohleder, und einen Gürtel aus Stoffresten. Und woher hätte ein armer Bauer im Frühling Heu zum Verkauf gehabt? Aber es war auch kein reicher Mann, weil ohne Knecht. Aber wohin wollte dieser Onkel mit seinem Heu? Zum Denkmal?
In der Mitte des Platzes stand das Unirii Monument, das von der rumänischen Macht anlässlich „der Befreiung der Bukowina und der Einbettung dieses Landesteils in den Schoß Großrumäniens für immer und ewig“ errichtet worden war. Früher stand hier eine Pieta – die Figur der Gottesmutter mit dem toten Jesus auf dem Arm. Das neue Denkmal war eine Komposition: Die zentrale Figur bildete ein moldawischer Stier, der mit seinen Hufen den zweiköpfigen österreichischen Adler trat. Die alten, noch österreichischen Czernowitzer rümpften die Nase über diese Geschmacklosigkeit: Wo hat man denn schon so was gesehen, dass eine Kuh so einen großen Vogel tritt? Patriotisch gestimmte Bürger, die sich noch als Untertanen der Donaumonarchie fühlten, waren höchst empört über die Verachtung, welche die neue Macht gegenüber dem zentralen Symbol des kaiserlichen Imperiums zeigte. Deshalb verübten deutschen und ukrainischen Studenten von Zeit zu Zeit, insbesondere nach Bierkommersen in ihren Burschenschaften, ihre Streiche an diesem peinlichen Stier.
War das auch jetzt der Fall? Am hellichten Tage? So war es! Der Bauer hielt neben dem Monument an, nahm seine Mistgabel und warf dem Stier das Heu schnell vors Maul. Dann fuhr er um das Denkmal herum, zog einen geflickten Sack heraus und schüttete an die Stelle, die vom Maul am weitesten entfernt lag, einen Haufen Pferdeäpfel. Danach bestieg er sein Fuhrwerk, knallte mit der Peitsche und klapperte dieselbe Straße hoch, die er herunter gekommen war. Er hielt hinter der Ecke der Primaria an, wo ein paar Studenten aus der Universität auf ihn zuliefen. Karol erkannte sofort Mitglieder der deutschen Burschenschaft „Arminia“ und der ukrainischen „Zaporože“, obwohl sie ohne ihre Couleurs, d.h. ohne ihre Mützen und Bänder waren. Die Burschen zählten dem Onkel das Geld für das Heu ab, er knallte zufrieden mit der Peitsche und fuhr los, die Studiosi hingegen kamen schadenfroh lachend um die Ecke und starrten „das Symbol der rumänischen Größe“ an, das sich so mit Heu vollgestopft hatte, dass es sich schließlich angeschissen hatte… Dieser Stier hatte in der Tat eine etwas problematische Defäkation, nicht zufällig nannten ihn die Deutschen statt Unirii – Urinii, vom Wort Urin abgeleitet…
Karol beobachtete die Burschenschafter und erinnerte sich an seine eigene studentische Jugend. Er berührte seine schöne, gerade, rosafarbene Narbe an der linken Wange und sah missmutig zu seinem Partner hinüber. Dieser schaute auch aus dem Fenster und erstickte beinahe vor Lachen, als er die Komik der Situation erkannte.
„Ein ganzes Fuhrwerk Heu, Karol“, Helmut wischte sich die nicht existierenden Tränen ab, „ein ganzes Fuhrwerk verfütterten die feindlichen Elemente an das Symbol des großrumänisches Ruhmes!“
„Einen ganzer Sack, ein ganzer Sack Exkremente, Helmut, hat er zurückgegeben“, lachte Karol schallend.
Inzwischen war auf dem Platz ein Gendarm aufgetaucht. Klein, schwarz und äußerst wütend. Die Studenten erblickten den Vertreter der Macht und machten sich, sehr geschäftig wirkend, die Principele Carol Straße entlang auf den Weg zur Uni. Der Gendarm beäugte sie misstrauisch und fing an zu brüllen. Er brüllte so lange, bis Jasio, der Chef der Straßenkehrer im Zentrum von Czernowitz, herbeigelaufen kam. Er hatte, wie immer, einen Hut mit herabgelassener Krempe auf und einen alten, geflickten Arbeitskittel und ein weißes Hemd mit einer modischen dünnen Krawatte an. Man bezeichnete ihn mit gutem Grund als Sauberkeitsfanatiker. Da er sehr in Eile war, hatte Jasio nur eine kleine Blechschaufel dabei und den Besen vergessen. Jetzt scharrte er mit den Händen das Heu auf die Schaufel, um es zum Müll zu bringen, doch der Gendarm fasste ihn wutentbrannt am Kragen und zeigte, mit Schaum vor dem Mund, auf die Pferdeexkremente. Jasio zuckte mit den Schultern und wollte gehen, offensichtlich, um den Besen zu holen, doch der Gendarm drehte ihn mit dem Gesicht zum Monument und stieß ihn in den Rücken. Jasio schaute sich um, zog seine Arbeitshandschuhe an und trat an die nächste Blumenrabatte. Dort wuchs zwischen den Rosen Trandafir – eine verwilderte Rosenart, die nicht beschnitten worden war. Der Straßenfeger riss ein Büschel Trandafir heraus, machte daraus einen Besen und begann hinter dem Bullen aufzuräumen.
„Siehst du, Helmut“, fragte Karol scheinbar tiefsinnig, „was dieser Straßenfeger, unser Herr Jasio, macht?“
„Na was denn?“ Helmut wischte diesmal echte Tränen weg, „er beseitigt den Urinii Schaden.“ „Und woraus hat er seinen Besen gemacht?“
„Aus Trafandir, scheint mir“
„In paar Jahrzehnten wird man eine Legende erzählen, dass Czernowitz so eine unglaubliche Stadt sei, so exotisch und romantisch, so stilvoll und künstlerisch geprägt, dass dort selbst die Straßenfeger das Trottoir mit Rosen fegen…“
Helmut schaute verwundert zu Carol und brummte: „Diese Dummheit habe ich schon mal gehört.“
Aus dem Ukrainischen von Sofia Onufriv und Irene Stratenwerth