Levels of Lviv
Als ich 2003 nach einer mehrjährigen Pause nach Lwiw kam, war die Stadt nicht wiederzuerkennen. Es gab eigentlich gar keine Stadt mehr. Der infernale Virus, ein Bote der Apokalypse, vor der Hollywood-Broschüren über endzeitliche Epidemien immer wieder warnen, war tatsächlich auf die Zivilisation niedergegangen. Er befiel jedoch keine Menschen (wie es die meisten Broschüren beschrieben), sondern tote Materie. Selbst ohne physikalisches oder chemisches Detailwissen war offensichtlich, dass der Virus die zementierenden Komponenten des Zements und die Strukturbausteine der meisten Ziegelarten zersetzt hatte. Die Epidemie war im November 2002 ausgebrochen und schon im März des Folgejahres war von Lwiw fast nichts mehr übrig. Niemand wusste, ob in anderen Städten etwas Ähnliches geschah, denn die Verwüstung der Gebäude hatte die Stadt von der Außenwelt abgeschnitten, Lwiw steckte in einem Informationsvakuum. Korrodierte Asphaltdecken, zersetzte Landebahnen, Schnellstraßen und Bahnschwellen verschärften die Lage zusätzlich. Man kam nur noch auf zwei, drei Schotterwegen in die Stadt. Verschont blieben lediglich einige Sorten Kopfsteinpflaster, die österreichischen Ziegel mit der k.u.k-Prägung und die Steinmonster, die die Marienstatue auf dem Prospekt Swobody trugen. Auch Bauteile aus bestimmten Marmorarten blieben nahezu unversehrt, außerdem die aus undefinierbarem Material gebauten Trennwände im Brygitka-Gefängnis in der Horodotska und überdies ein geschundener Gipsschwan am Springbrunnen im Stryjskyj-Park. Wie Zahnstummel im Mund eines gebisslosen Rentners ragten diese mit natürlichen Abwehrkräften gesegneten Konstruktionen aus den Ruinen Lwiws heraus.
Auf dem Marktplatz blieben lediglich zwei Gebäude erhalten: Die aus mauretanischem Sandstein gebaute Villa Vîlis (ein Geschenk von Marie-Antoinette an den damaligen Bürgermeister), und das Haus Kalkstein U.N.H. (die ehemalige Residenz der kanadischen Diaspora), das den Namen der kanadisch-ukrainischen Avantgarde-RockbandKalkstein unterm nackten Himmel trägt und dessen Gestein aus pyrenäischen Calciumvorkommen stammt. An das Quartett der ums Rathaus gruppierten römischen Figuren erinnerten lediglich Trümmer, die sich vom Rest weiß abhoben und aus denen grünliche Wasserrohre hervorragten. Während von der Dominikaner-Kathedrale nur noch eine instabile Pyramide aus Sand und Staub stand, waren die Gewölbe der Galerie Dzyga in der Wirmenska erhalten geblieben. Es lief das Gerücht um, die Epidemie habe die Steuerbehörde in der Stryjska nicht mal angekratzt, aber nachprüfen wollte ich das nicht, schließlich hatte ich weder Zeit noch Lust, mich über die Trümmerhaufen dorthin durchzuschlagen.
Am wenigsten hatten die Metallfiguren der Denkmäler gelitten. Obwohl zum Beispiel die Säule, auf der der grünliche Mickiewicz sein Leben lang gestanden hatte, langsam in sich zusammensank (genau wie einer der Tower des World Trade Centers), erlitt der Dichter selbst keinen Schaden. Auf den Flügeln des Bronzeengels glitt er leichthin in das von Trümmern übersäte Blumenbeet.
Der ukrainische Kollege von Mickiewicz, Taras Grygorowitsch Schewtschenko, hatte ebenfalls Glück. Die fürchterliche Bronzestele Schoß der Ukraine, die zur Rechten der Dichterfigur aufragte, hatte sich allerdings verbogen, neigte sich jetzt zur Erde und erinnerte so an einen eingestaubten Trauerkranz, den die Angehörigen in der Ecke vergessen hatten, als sie den Verstorbenen in aller Eile zum Friedhof und zu Grabe trugen.
Georg, der Drachentöter, der unweit der Stelle Wache hielt, an der einst die Franko-Universität gestanden hatte (der Dichter Iwan Franko selbst war mit dem Gesicht voran ins Veilchenbeet gefallen. Er erinnerte mitnichten mehr an einen Volkshelden sondern glich eher einem verrosteten Hochofen, den man aus dem Hüttenkombinat geschafft und verschrottet hatte), Georg, der Drachentöter, jedenfalls stürzte beim Versuch, von seinem protzigen, steil aufragenden Pylon zu gleiten, überschlug sich, versank bis zu den Ohren im Boden und schleuderte in amerikanischer Manier seine Sandalen in die Luft, während er den von der Lanze durchbohrten Drachen in die Höhe streckte. Er wehte nun im Wind, als wäre er ein Entwurf in Echtgröße, der am Wettbewerb um das beste Stadtwappen teilnimmt.
Kurzum, all das sah grotesk aus. Doch nicht einmal diese totale Vernichtung der Lebensgrundlagen konnte man mit Armageddon assoziieren. Wir alle waren weniger erschrocken als enttäuscht vom Ausmaß der Katastrophe. All das erinnerte an eine billige Pappmaché-Kulisse für ein Hauptstadt-Theaterstück, das ein künstlerisch ambitionierter Politoffizier a.D. an einem Provinztheater inszenierte.
Da ahnten wir noch nichts von den weiteren Gefahren, die auf uns zukamen.
Wir ahnten vieles nicht.
Wir waren ahnungslos!
Wie schlimm die Lage wirklich war, zeichnete sich ab, als der erste Regen nach dem Ausbruch der Epidemie fiel.
Die Ruinen der Stadt, die Trümmerhaufen und der postkatastrophale Müll bildeten eine unwirkliche, einigermaßen gleichmäßige, wenn auch hügelige Landschaft, sie sogen das Wasser auf und zerfielen, verflüssigten und zersetzten sich, brodelten und schäumten, kochten und warfen Gasblasen, die sich bei Luftkontakt entzündeten. Wie kosmisches essigsaures Gras züngelten alsbald blaue Flämmchen über den Boden, sie hatten ihn im Nu großflächig überzogen. Aus diesem schaumigen Gebräu krochen nach und nach Tentakel der allerklebrigsten Sorte hervor: Sie waren feucht wie Ton oder harzig wie Flüssiggummi und verschlangen alles. Diese Gummimasse blieb nicht lange flüssig, sondern versteinerte bald, sie zementierte auf der Stelle jeden ein, der mehr als knöcheltief in den zähen Brei eingesunken war. Die Öffnungen, aus denen heraus sich die blauen Feuerzünglein ihren Weg bahnten, verkohlten an den Rändern und bekamen Risse, das Feuer gewann an Kraft, wurde dichter und brach durch jeden Spalt und jede Ritze.
Eine Panik brach nicht aus. Nur Katastrophen, die kinematographischen Standards entsprechen, können eine Panik auslösen. Hier aber geschah zugleich etwas Wunderschönes und Mörderisches. Der Tod überraschte die meisten so plötzlich, dass es gar nicht erst zu massenhaftem Klagen und Schreien kam. Das Unheil verbreitete sich schnell und unvorhersehbar, die wenigen Überlebenden verdankten ihre Rettung eher dem mathematischen Zufall als der eigenen Geschicklichkeit oder dem Selbsterhaltungstrieb. Ich schwang mich auf die metallenen Arme von Taras Grygorowytsch Schewtschenko, nicht, weil ich Rettung suchte, sondern weil ich mich nach einer starken, väterlichen Umarmung sehnte, selbst wenn sie nur von einem Denkmal kam. Ich saß auf den Schultern des Dichters und verfolgte vollkommen unbewegt die Lwiwer Apokalypse. Mehr noch: Genauso unbewegt stieß ich mit meinen Füßen die anderen Anwärter auf Taras‘ Schultern weg. Nicht, dass ich mich im Überlebenskampf besonders angestrengt oder nebenbei im Kopf mögliche Rettungsvarianten durchgespielt hätte. Vor dem Hintergrund des planetaren Infernos – die Größe eines Planeten hängt von der Sichtweite des Einzelnen ab und weil ich intuitiv höher geklettert war als alle anderen, konnte ich auch weiter sehen, mir erschien der Planet größer und ich hatte einen besseren Überblick über die denkbaren Rettungsszenarien. Also, vor dem Hintergrund dieses planetaren Infernos verloren moralische Bedenken ihren Imperativ, so schnell wie ein Spinnengewebe aus dem Vorjahr in der Sonne aufflammt und verbrennt.
An einem Ende des Prospekt Swobody, dort, wo früher die Oper gestanden hatte, wurden die Flammen röter, breiteten sich aus und hoben sich als heller Schein vom blau leuchtenden Hintergrund ab. Das Holzgerüst des Theaters brannte. Erst durch die Epidemie erfuhren wir überhaupt von dem Gerüst: die Steinmauern waren zu Staub zerfallen und hatten ein architektonisches Skelett entblößt, aus Holz gezimmert und mit Salzen aus Solotwyno imprägniert. Das salzgetränkte Holz mit seiner Resonanzfähigkeit war also der Grund für die ziemlich gute Akustik der Oper gewesen. Wahrscheinlich bewirkte das Salz auch, dass über dem Theater kein schwarzer, sondern weißer Rauch aufstieg, als hätte man im Epizentrum des Feuers gerade den neuen postapokalyptischen Papst gewählt.
Plötzlich meinte ich in den Nebelschwaden eine unnatürliche Simultanität der Luftströme zu erkennen. Ich war beinahe überzeugt davon, dass diese kleine optische Täuschung eine Folge des durchlebten Schocks war, und doch zwang mich mein Misstrauen – vorerst klein und schwach –, über mein weiteres Vorgehen nachzudenken. Außerdem wurden unter mir Taras‘ Schultern immer heißer. Lange konnte ich hier nicht mehr herumsitzen. Ich trat auf dem Dichterkopf kurz von einem Fuß auf den anderen, stieß mich dann ab und sprang plump in die Richtung, in der man in den Flammen die glühende Bronzestele Schoß der Ukraine vermuten konnte. Der Sprung, obwohl scheinbarer Selbstmord, stellte sich als rettend heraus: Eine von der Glut gleichmäßig aufgeheizte Luftwelle trug ein Stück Werbebanner heran, das ich im Fall von der verbogenen Säule einfing und von dem ich mich wie ein professioneller Fallschirmspringer tragen ließ. Als sich die Auftriebskraft der Wärme erschöpfte, sah ich, dass die noch glühende Kruste ihre Substanz wiederum veränderte und sich in eine Schlammflut verwandelte. In deren Strömung bemerkte ich, genau wie in den Rauchschwaden über der Oper, eine verdächtige Simultanität, die mich in meinen Rettungsplänen nur bestärkte. Ebenso rätselhaft war das Verhalten der Stadtvögel: Krähen, Kolkraben und Tauben ließen sich wie Möwen vom Strom tragen und einfach in die brennende Höhle des Operngerüsts treiben. Anstatt weiter ins Epizentrum des Feuers zu fließen, verwandelte sich der Strom plötzlich in einen Strudel und bildete einen ziemlich stabilen Trichter mit einer alles absorbierenden Öffnung. Der Intuition der Vögel vertrauend landete ich gekonnt auf dem Kamm der nächsten Schlammlawine und ließ die Gesetze der Hydrodynamik für kurze Zeit zum entscheidenden Faktor meiner Existenz werden. Mit dem, was wir in der Schule an Gesetzen gelernt hatten, war das natürlich nicht annähernd zu vergleichen. Darauf wiesen nicht nur das Strömungsverhalten und der Charakter der Wellenbildung hin, sondern auch die offensichtliche Pixelung des erkennbaren Mikrokosmos. Als es mich in den Strudeltrichter zog, hätte ich schwören können, dass ich mich auch aus Pixeln zusammensetzte, wobei ich nicht besonders gewissenhaft digitalisiert worden war. Um einiges wirklichkeitsgetreuer und realistischer war die Darstellung der Tschajka, eines Kosaken-Segelbootes, das an einem seichten Ankerplatz an den Ufern eines unterirdischen Arms der Poltwa festgemacht war. Die Schlammflut verwandelte sich fast gänzlich in dunkles, undurchsichtiges Wasser, wobei man die trüben, miteinander vermengten Wasserläufe selbst mit einer der ersten Photoshop-Versionen hätte generieren können. Als ich also ohne besondere Anstrengung einige Meter weiter geflogen war (nun schon ohne die Hilfe äußerer, übernatürlicher Kräfte) und geschickt auf dem Deck der Tschajka landete, wunderte ich mich kein bisschen, als in einem peripheren Ausschnitt meines Sichtfeldes ein neonfarbiger Slogan aufleuchtete: „You’ve got bonus life“. Genauso wenig wunderte ich mich, als am virtuellen Himmel glitzernde Nordlichter aufblitzten, die sich bald zu einer gänzlich lesbaren phosphoreszierenden Nachricht fügten: “Congratulations! You won. Now you can enter the next level! Your choice is a new game “’Levels of Lviv!’“.
P.S.: So hörte für mich das Jahr 2003 in Lwiw auf. 2004 kam ich schon auf meiner eigenen, ehrlich verdienten Tschajka zurück. Die war zwar kein Boot von kosakischer Herkunft, in ihrer paradoxen Erscheinung eines sozialistischen Luxuswagens aber dennoch von historischem Wert.
Die Übersetzung entstand im Rahmen des EU-Projekts „TransStar Europa“, gefördert vom Programm für lebenslanges Lernen der Europäischen Union.