Maklena Grassa

Mykola Kulisch

Maklena Grassa (1932)

AUSZÜGE

Aus dem Ukrainischen von Lydia Nagel

PERSONEN

GRASSA – Arbeitsloser

MAKLENA – seine Tochter

SBROSCHEK – Makler

FRAU SBROSCHEK – seine Frau

ANELJA – seine Tochter

WLADEK SAREMBSKYJ – Fabrikbesitzer

MUSIKANT

FEINER HERR

BETTLER

 

4. Szene

 

Maklena läuft zu ihrer Tür. Bleibt stehen. Sie hört die Stimme ihres Vaters – heiser, entkräftet, von bitterem Lachen entstellt.

 

GRASSA

Und wenn ich auf die Knie falle? Was sagt der Herr Verwalter dann?

SBROSCHEK

Bis morgen früh um sieben muss Grassa hier ausziehen, sagt der Herr Verwalter.

GRASSA

Dann versacke ich hier bis zu den Knien im Dreck, bis zum Gürtel – und kein Verwalter kriegt mich da raus.

SBROSCHEK

Vieh versackt auch …

GRASSA

(drohend) Dann bist du der Metzger? Ein Schlächter?

SBROSCHEK

(ruhig) Jeder Verwalter ist ein Schlächter und das Leben ein Gemetzel, Grassa.

GRASSA

Und was soll ich jetzt machen?

SBROSCHEK

(bemerkt, dass Grassa den Mut verliert) Die Miete zahlen, sagt der Verwalter. Und geht ohne ein weiteres Wort schnurstracks zum Herrn Polizeikommissar … Und wenn er vom Herrn Polizeikommissar zurückkommt, bittet er darum, um vier geweckt zu werden. Und wenn dann Grassas Kinder, vom Weinen erschöpft, tief und fest schlafen und sich auch über Grassas Wunde wie Spinnweben der Schlaf legt …

 

Maklena sieht durch den Türspalt, dass ihrem Vater der Kopf auf die Brust gesunken ist.

 

SBROSCHEK

Klopft plötzlich der Verwalter ans Fenster. (stürzt zum Fenster und klopft heftig) Aufstehen!

 

Grassa ist in sich zusammengesackt.

 

SBROSCHEK

Es ist so weit! Dieses Klopfen klingt für Grassa wie Kanonendonner, und wie ein Pflaster von einer taub gewordenen Wunde zieht er sich das Vergessen von der Seele. Um fünf klopft der Verwalter wieder. Um sechs kommen die Polizisten in den Hof …

GRASSA

(zu sich selbst) Und keine Klinge da …

SBROSCHEK

Klinge? Wozu brauchst du eine Klinge?

GRASSA

Heißt doch so: Wer stürzt, greift nach der Klinge …

SBROSCHEK

Das hab ich jetzt nicht erwartet, klingt aber auch nicht schlecht. Eine Klinge hilft da wohl eher als das Land. Aber erst mal soll Grassa hören, was der Makler dazu sagt. Der Makler geht auf Grassa zu (geht auf ihn zu und fragt ihn direkt): Sag, könntest du jetzt einen Menschen töten?

 

Grassa blickt Sbroschek an.

 

SBROSCHEK

Der Makler fragt das ganz ruhig und ernst.

GRASSA

(blickt Sbroschek aufmerksam an) Töten?

SBROSCHEK

Ja.

GRASSA

Einen Menschen?

SBROSCHEK

Nicht irgendeinen Menschen, sondern einen Unmenschen. Einen Unmenschen, der anderen Menschen viel Leid zugefügt hat. Vor allem, um es in eurer sozialistischen Sprache zu sagen, den Arbeitern, dem Proletariat. Um Gewinn zu machen, hat er sie mit verdorbener Wurst und verfaulten Konserven vergiftet, hat feuchtes Salz und sandigen Zucker verkauft. Und das nicht nur in einem Laden, alle kleinen Läden hat er damit beliefert, tonnenweise, und mit kilometerlangen Stoffbahnen, reinste Mangelware. Hat aus allem Kapital geschlagen, den Wohnungen, der Liebe, dem Wasser, sogar aus der Luft. Jetzt sag, würdest du so ein Scheusal umbringen?

GRASSA

Wollen Sie auf diese Weise der einzige Herr hier werden?

SBROSCHEK

Und ob. Ich will auf diese Weise der einzige Herr hier werden.

GRASSA

Wollen Sie, dass ich Sarembskyj umbringe?

SBROSCHEK

Nein.

GRASSA

Wen denn sonst?

SBROSCHEK

Mich!

GRASSA

Soll das ein Witz sein?

SBROSCHEK

Der Makler fragt ganz im Ernst, ob Grassa heute Herrn Sbroschek umbringen würde. Den Tyrannen! Den Ausbeuter! Und für Geld!

 

Grassa blickt Sbroschek an.

 

SBROSCHEK

Ich bin weder krank noch verrückt geworden. Es ist einfach so, dass es für Herrn Sbroschek momentan günstiger ist, zu sterben als zu leben. Also braucht er jemanden, der ihn umbringt. Ganz dringend. Und richtig umbringt. Das ist jetzt für ihn der einzige Ausweg aus der Krise, dahin (zeigt nach oben) auf den hochherrschaftlichen Balkon.

GRASSA

Herr Sbroschek will sich umbringen und kann es nicht?

SBROSCHEK

Herr Sbroschek muss sich umbringen und er kann das auch. Aber als alter Makler will er natürlich noch ein bisschen was an seinem Tod verdienen. Und dafür muss er umgebracht werden.

GRASSA

Ich versteh Sie nicht.

SBROSCHEK

Kann Grassa denn diese Kombination nicht verstehen? Das Leben des Herrn Sbroschek ist eine Rechenmaschine. Jede Minute hat er zu Geld gemacht und in die Rechenmaschine gesteckt. Dreiundzwanzig Jahre lang! Jede einzelne Kopeke hat Spuren in seiner Erinnerung und in seinem Herzen hinterlassen. Und dann kam die Krise, schnappte sich die Rechenmaschine und – zack! – war alles pfutsch. Die Bank, wo das ganze Geld lag, ging pleite, aber das hat Grassa ja bestimmt schon gehört. Um von vorne anzufangen, aus Minuten eine Leiter zum Balkon zu bauen, reichen die Jahre nicht mehr. Bleibt also nur noch, sich umzubringen, aber da kommt der Makler und sagt: Du bist doch gegen plötzlichen Tod versichert. Leg noch was drauf, bezahl für deinen Tod, aber verdien auch du was dran! Ein interessanter Tod, hm? Das sollte sich Grassa mal durch den Kopf gehen lassen, der Makler gibt ihm da einen kostenlosen Rat. So oder so stirbt ja auch Grassa bald, daran lässt sich auch noch was verdienen!

GRASSA

Der Herr bekommt … als Toter … Geld?

SBROSCHEK

Mein Name kommt auf den Balkon. Grassa ist naiv. Wer hat ihm bloß dieses Denken beigebracht? Die Priester oder die Sozialisten? Ein Toter, der Geld im Kopf hat, lebt noch lange. Und was ist ein Lebender ohne Geld? Na was? Ein Halbtoter. Der stinkt nach Krankheit, Hunger und Tod. Wie Grassa, zum Beispiel, wenn er sich nicht aufrafft, heute Herrn Sbroschek umzubringen!

GRASSA

Und wenn! Zu so was raff ich mich bestimmt nicht auf!

SBROSCHEK

Warum nicht? Hat Grassa Angst vor Strafe? Das ließe sich so einrichten, dass es erst mal niemand sieht.

GRASSA

Richten Sie’s lieber so ein, dass ich es nicht sehe.

SBROSCHEK

Dann sieht Grassa auch sich selbst nicht wieder. Aber so würde er jetzt Geld bekommen und morgen Sarembskyj die Miete zahlen.

GRASSA

Nein!

SBROSCHEK

Ich zahle fünfhundert Złoty für diese Arbeit! Obwohl ich ja eigentlich finde, dass ich einen kostenlosen Tod verdient hätte. Mich könnte man ruhig umsonst umbringen! Für meine Maklerei, den sandigen Zucker und die verfaulten Konserven! Letztendlich dafür, dass, egal wie, ich morgen Grassa umbringe, wenn er mich heute nicht umbringt, ganz bestimmt! Ich schmeiße ihn aus der Wohnung, übergebe ihn der Polizei … Soll sich mein Mieter Grassa doch wenigstens einmal an mir rächen!

GRASSA

Und wenn ich mich damit räche, dass ich Sie nicht umbringe?

SBROSCHEK

Ha! Dann finde ich einen anderen – was ist denn das für eine Rache? Für dieses Geld bringt mich sogar Sarembskyj persönlich um. Hoho! Da rächt sich Grassa ja an sich selber! Ohne Wohnung ist er ein toter Mann. Und eine andere Wohnung findet er jetzt nicht mal über einen Makler. Und Arbeit erst recht nicht. Grassa weiß doch selber, dass gerade ein Elefant leichter durch ein Nadelöhr kommt, als ein Armer durch irgendeine Tür. Auf dem Grund der Weichsel findet man leichter eine trockene Stelle als über der Weichsel Arbeit. Und Grassa hat kranke Beine, das Herz kann auch nicht mehr. Ich weiß das, weil ich ja selber Asthma habe. So oder so klopft bald, wenn nicht schon morgen, der Tod an unsere Tür und ruft: „Es ist so weit!“ Und wozu soll man überhaupt leben, wenn die Krise den Baum des Lebens ausgetrocknet hat, den Baum mit den goldenen Blättern. Keine Blätter mehr dran! Alle weggeflogen! Nur noch der trockene schwarze Stamm, an dem bald die Erde als Leiche hängen wird! … Die ganze Erde! Verdienen wir lieber beide an meinem Tod. Für die Kinder! Die Kinder! … Grassa will nicht?

GRASSA

Nein.

SBROSCHEK

Dann ab ins Grab, du Kreatur! Morgen früh um sieben gehst du zum Teufel! … Du Wurm! (ab)

GRASSA

Ich falle für meine Kinder auf die Knie, aber ich bring dich nicht für deine um. Wolltest vor deinem Untergang noch mal was an mir verdienen! Huhuhu! …

 

Aber Maklena hört die letzten Worte ihres Vaters nicht mehr. Sie rennt Sbroschek hinterher und versperrt ihm den Weg.

 

MAKLENA

Ich bring Sie um!

SBROSCHEK

(zuckt erschrocken zusammen, in der Dunkelheit hat er Maklena nicht erkannt) Wer da?

MAKLENA

Ich! … Ich bring Sie um!

SBROSCHEK

Du? … Bringst mich um? … (mustert sie)

MAKLENA

(entschlossen) Ja!

SBROSCHEK

Wofür?

MAKLENA

Für das alles!

SBROSCHEK

Wofür denn, Kindchen?

MAKLENA

Für alles, was Sie getan haben und tun. Was Sie meinem Vater gerade gesagt … und vorgeschlagen haben. Ich bring Sie um!

SBROSCHEK

Welchem Vater? Was hab ich gesagt?

MAKLENA

Ich hab alles gehört! Ihr ganzes Gespräch mit meinem Vater! Auch, dass er auf die Knie fallen wollte, auch, dass Sie ihm fünfhundert angeboten haben, wenn er Sie umbringt. Ich bring Sie um!

SBROSCHEK

Du hast wohl Fieber, Kindchen, was du da faselst. (berührt ihre Stirn, sie schlägt seine Hand weg) Allerdings! (hat sie berührt, wollte eigentlich herausfinden, ob sie etwas in der Hand hat) Du hast Hungerfieber. Du musst ins Krankenhaus.

MAKLENA

Und wenn ich zur Polizei gehe?

SBROSCHEK

Wieso das?

MAKLENA

Und alles erzähle? Dem Herrn Polizeikommissar?

SBROSCHEK

Dann sagt der Herr Polizeikommissar: „Du hast Hungerfieber, Kindchen.“ Und schickt dich ins Krankenhaus.

MAKLENA

Und wenn ich’s dem Arzt sage? Auf der Straße rausschreie?

SBROSCHEK

Dann kommst du ins Irrenhaus.

MAKLENA

Was seid ihr bloß für Tyrannen! (wankt, wie von Zahnschmerzen geplagt) Drachen! Nein! … Drachen gibt’s nur im Märchen, die haben drei oder sechs Köpfe. Aber ihr habt alle bloß einen, so einen winzig kleinen wie ein Wurm. Riesengroße Würmer seid ihr! Wenn man euch doch bloß alle zerquetschen könnte! Alle zerquetschen! …

SBROSCHEK

Hungerhalluzinationen. Und dass Sie dort (deutet auf den Keller) irgendein Gespräch gehört haben – das waren auch Halluzinationen. Nichts war da! … (geht weg, bleibt stehen – nach einer Pause) Wie alt bist du?

MAKLENA

Dreizehn.

SBROSCHEK

Da hattest du ja wahrscheinlich noch nie eine Waffe in der Hand?

MAKLENA

Ich? … Ich war mit denen vom Jugendverband schießen üben. Ich treffe schon das weiteste Ziel …

SBROSCHEK

Und wie steht’s mit der Vernunft?

MAKLENA

Bin heute Nacht zur Vernunft gekommen.

SBROSCHEK

Wie?

MAKLENA

Was wollen Sie damit sagen?

SBROSCHEK

Was? Wenn Sie schießen können, dann befürchte ich ja schon, dass ich heute erschossen werde, wenn ich wegen eurer Wohnungsräumung zur Polizei gehe. Und ich gehe sehr früh. Um fünf. Hm?

MAKLENA

Da müssen Sie nichts befürchten. Ich habe keine Waffe.

SBROSCHEK

Ich fürchte mich nicht. Ich habe …

MAKLENA

Ich habe Sie verstanden.

SBROSCHEK

(geht, dreht sich noch einmal um) Aber das sind alles Halluzinationen. Hörst du? Hungerhalluzinationen.

VORHANG

 

III. AKT

1. Szene

 

Auch frühmorgens hatte der Regen noch nicht aufgehört. Um fünf stand Maklena ohne Eile auf. Auf Zehenspitzen ging sie zu ihrem Vater.

 

MAKLENA

Schläft! (Sie macht die Nachtlampe an, stellt sie auf den Ofen. Leise weckt sie Chrystynka.) Chrystynka! Steh auf – mach die Tür hinter mir zu. Hak sie ein. Damit sie der Wind nicht aufmacht. Sonst wird es kalt hier … Ich gehe … zur Arbeit. Vielleicht bin ich bald zurück, vielleicht auch nicht. Wenn Papa aufwacht, sag ihm, ich bin zur Arbeit gegangen, ich bin bald zurück, vielleicht auch nicht. Und wenn er wieder anfängt, am Fenster zu lauschen, dann sag ihm, er soll ruhig schlafen, sag, heute wird niemand ans Fenster klopfen, höchstens der Wind. Da klopft niemand, höchstens der Wind. Und dann sagst du Vater, wenn ich ganz lange wegbleibe, dass ich mit Herrn Sbroschek einig geworden bin, dass ich das mache, wozu er Vater überreden wollte. Merkst du dir das? Wozu er Vater überreden wollte, das sagst du, wenn ich ganz lange wegbleibe. Na dann! … Du bist mir doch jetzt schon eine Hilfe, du bist doch schon ein großes Mädchen. Aber du bist immer so ruhig! Jetzt auch. Wenn du nur was sagen würdest, mein Mädchen, wenigstens ein einziges Wort. Die Nacht ist so groß, so dunkel, ohne Fenster, und du schläfst und schläfst, Chrystynka. Hm, Chrystynka? Na, da schläfst du schon wieder! Warum schläfst du denn immerzu? Sag doch mal! … Hm? Was flüsterst du denn da vor dich hin? … (lauscht, was Chrystyna murmelt) Ach so, wenn du nicht schläfst, hast du so großen Hunger … Na ja … Ich gehe jetzt, und du schläfst wieder ein. Ich geh gleich, Chrystynka! Ich gucke nur noch mal, ob alles in Ordnung ist, ein allerletztes Mal gucke ich (blickt sich um), dann gehe ich. Jetzt gehe ich auch schon, Chrystynka! Wenn ich lange, lange wegbleibe, dann weißt du, dass … das Salz in dem Töpfchen in der Ofennische ist und in dem Bündelchen sind noch Graupen … Die kochst du dann für Vater und für dich. (geht, dreht sich noch einmal um) Lass das Salz auf dem Ofen stehen, damit es trocken bleibt, und wenn du welches brauchst, nimm so eine kleine Prise (zeigt ihr, wie viel). Nimm ein sauberes Tuch und zerreib es mit der Flasche auf dem Tisch, mit der Flasche. Aber pass auf, dass du die nicht zerbrichst! Mit der hat doch noch Mama gerieben … (blickt auf die Flasche und geht)

 

2. Szene

 

Um fünf Uhr steht auch Herr Sbroschek auf. Auch er hat nicht geschlafen. Neben seinem Bett liegt das Rechenbrett. Eine Kerze brennt. Daneben eine Weinflasche. Er trinkt ein Glas und schenkt sich noch eines ein. Halbbetrunken stellt er Überlegungen und Berechnungen an.

 

SBROSCHEK

Nur auf dem Weg. Genau! Auf dem Weg! … Als wäre ich rausgekommen … Aber in Wirklichkeit stehe ich so da … (zeigt wie), und sie schießt von hinten, in den Hals. Nur in den Hals! Das ist leichter für mich und einfacher für sie und auch glaubwürdiger … Was? Ein Schuss von hinten … (er trinkt einen Schluck Wein, plant weiter) Ich habe die eine Hand um die Uhr geklammert. Ein interessantes Detail, unverständlich für die Ermittler und das Mädchen wird sie nicht nehmen. Das Geld in der Tasche, ein Teil auf der Erde verstreut … (Hier flüstert der Makler, dass man etwas weglassen könnte.) Es ist dunkel, sie wird’s nicht merken. Was? Auf dem Weg. Mhm, nur auf dem Weg … Also … (er rechnet nach, aus Gewohnheit mit dem Rechenbrett) Prämie abgerechnet, Pistole gekauft, überlegt, wo und wie … (blickt auf die Uhr) Bleibt nur noch das Vermächtnis, Makler … (Zieht sich an. Nimmt die Kerze und geht zu seiner Tochter.)

 

3. Szene

 

Er weckt seine Tochter. Hebt die Kerze und beginnt, sein Vermächtnis vorzutragen.

 

SBROSCHEK Ich gehe. Aus dem Haus. Schließ bitte die Tür hinter mir.
ANELJA Und Mama?
SBROSCHEK Davor habe ich noch etwas zu sagen. Aber ich fürchte, Mama wird das für einen Traum halten. Wie du weißt, hält sie ja allgemein gerade die Wirklichkeit für einen Traum und umgekehrt …
ANELJA (blickt auf die Uhr) So früh?
SBROSCHEK Morgenstund hat Gold im Mund.
ANELJA Aber es ist doch noch ganz dunkel.
SBROSCHEK Ohne Geld ist es auch bei Sonnenlicht dunkel. So dunkel, dass nicht einmal Freier zu sehen sind. Und sie finden den Weg nicht, obwohl sie die Dunkelheit lieben. Was denkst du: Wenn wir auf einmal wieder Geld hätten, würde Herr Wladek dann zu dir zurückkehren?
ANELJA Erinnern Sie mich nicht an ihn. Bitte nicht!
SBROSCHEK Er hat dich verschmäht. Und wie er dich gekränkt hat! Wie ein Bettelweib, eine Landstreicherin, in eine Reihe mit den Bettlern gestellt. Sagt, dass du ihn fast um Liebe angefleht hättest …
ANELJA Nein! Nein! Ich habe ihn um nichts gebeten. Ich habe nur gefragt, ob er wenigstens irgendwelche Gefühle für mich hat, wenigstens ein Fünkchen Gewissen? Nach seiner Erklärung …
SBROSCHEK Gewissen hat er. Jeder Mensch hat sein eigenes Gewissen. Aber jeder offenbart sein Gewissen dann, wenn es ihm von Nutzen ist. Gewissen, wie alles auf der Welt, kostet Geld. Wenn wir wieder Geld haben, dann erwacht in Herrn Wladek auch wieder das Gewissen. Ob es ihn herführt oder ob er es mitbringt, aber er kommt zu dir zurück. Eilt zu dir zurück!
ANELJA Ich verschließe vor ihm die Tür.
SBROSCHEK Dann klettert er durchs Fenster.
ANELJA Ich verschließe mein Herz!
SBROSCHEK Dann klopft er an. Beginnt, vor deinen Augen herumzulaufen, wie ein armer Alter vor dem Fenster, und zu flehen. Seine Gefühle und sein Gewissen werden ihn quälen. Ho-ho-ho! Bei Regen und bei Frost, im Schneegestöber, die ganze Nacht, er wird da rumlaufen. In aller Frühe klopft er an: „Wer ist da?“, fragst du noch schlaftrunken. „Die Liebe!“ Ja, er schleicht sich im Schlaf an dich heran, bohrt sich durch deinen blauen Mädchentraum, legt sich dir zu Füßen, wird anhänglich und umweht dich mit dürstender Liebe.
ANELJA Das wird nicht passieren! Niemals wird das passieren! Ich habe doch … Wir haben doch kein Geld.
SBROSCHEK Und wenn wir welches hätten? Morgen? Sogar heute schon? Und das dein Geld wäre? Wird es dann passieren oder nicht?
ANELJA Wird es nicht …
SBROSCHEK Und was wird dann passieren?
ANELJA Ich … Ich weiß es nicht.
SBROSCHEK Aber ich weiß es. Er wird sich wieder in dein Herz drängen. Nicht er, sondern ein anderer, genauso einer. Und jetzt sage ich dir, das muss ich dir heute, bevor du die Tür hinter mir schließt, sagen, wenn er sich in dein Herz schleicht, dann ist das noch kein Unglück. Aber ein Unglück, Elend mit Prozenten, wird es sein, wenn er sich durch dein Herz weißt du wohin schleicht? In deine Tasche! Was ist das Herz, was ist unser Herz, wenn des Menschen Allerheiligstes jetzt was ist – seine Tasche, wenn sie nicht leer ist, natürlich! Die Tasche! Sobald er seiner Geliebten die Tasche geleert hat, wird jeder Liebhaber sie ansehen wie durch ein vereistes Fenster. Und wie sehr du ihn auch wärmst, er wird schon kalt sein. Und aus deinem Herzen fliehen wie ein Häftling aus dem Gefängnis. Zu einer anderen, natürlich. Daher mein väterliches Vermächtnis: Willst du eine lange und glückliche Liebe, mach aus deinem Herzen ein Vorzimmer zu deiner Tasche und in die Tasche lass niemanden hinein. Dann werden sie in deinem Herzen sitzen, solange du sie nicht selbst fortjagst.
ANELJA Wenn in der Tasche Geld ist. Und wenn da kein Geld ist?
SBROSCHEK Da wird Geld sein. Ich gehe jetzt Geld holen. Heute bekomme ich Geld.
ANELJA Und wenn nicht?
SBROSCHEK Unbedingt! Unter allen Umständen! Hörst du? Selbst wenn ich plötzlich sterben sollte oder umgebracht werde … Was guckst du mich denn so an? Jeder von uns kann heutzutage umgebracht werden. So sind die Zeiten. Entweder wir sie oder sie uns, wie die Kommunisten schreiben – wer wen.
 

Anelja – Bewegung und Entsetzen. Eine stumme Frage.

 

SBROSCHEK Du guckst mich ja schon an wie die Ziege den Schlachter? Ich sage nur: Selbst wenn. Selbst wenn ich umgebracht werden sollte, bekomme ich Geld. Ich habe doch eine Versicherung gegen den Tod. Ich bin jetzt, sozusagen, unsterblich. Bei der ersten Versicherungsgesellschaft – für dreißigtausend Dollar, beim „Goldenen Anker“ für dreißig. Bei der dritten für vierzig, bei der Transportversicherung für zwanzig. Also selbst wenn ich umgebracht werden sollte, bekommen Mama und du davon eine Prämie von insgesamt hundertzwanzigtausend. Für so eine Summe heute zu sterben ist doch sogar besser als morgen für gar nichts, hm? Dafür kann man Sarembskyjs ganze Fabrik kaufen und dieses ganze Haus dazu. Das müsst ihr unbedingt machen, um das Geld vor der Krise zu retten. Und falls ich sie kaufe, dann gebe ich dir mein väterliches Ehrenwort: Ich werde in den Dokumenten und auf dem Fabrikschild mit großen goldenen Buchstaben schreiben: „Fabrik Sbroschek und T“, also Tochter. Dann wirst du mal sehen, wie der angelaufen kommt, wie dich der hochmoralische Herr Wladek auf einmal liebt. Ho-ho! Aber Gott bewahre, ihm das alles als Mitgift zurückzugeben. Vor allem die Fabrik. Selbst wenn ich auf den Himmelsbalkon gehen sollte, behalt sie in der Tasche. Und lass da niemanden ran! Unter keinen Umständen! „Fabrik Sbroschek und T“. Mit goldenen Buchstaben. Die bringt dir Gold und Liebe. „Fabrik Sbroschek und T“. Nun gut, ich gehe. Ich gehe die Fabrik Sbroschek und T erwerben. Mit goldenen Buchstaben.
 

Anelja möchte ihn küssen.

 

SBROSCHEK Na, na … (dreht sich weg) Mach die Tür hinter mir zu! Und dann warte. (blickt auf seine Uhr) Ich habe noch siebzehn Minuten. (geht) Der Makler hat noch siebzehn Minuten zu leben und dort – ist Sbroschek der Herr Fabrikant. (niedergeschlagen) Und da trinkt der Makler zum letzten Mal Wein. (trinkt den Wein aus) Löscht die Kerze. (löscht sie) Was für eine Dramaturgie!

 

6. Szene

 

Und früh morgens, als alle fest schliefen, traf Maklena Herrn Sbroschek. Auf dem Weg von seinem Haus zum Tor. Sie liefen aufeinander zu. Schweigend.

 

SBROSCHEK (dumpf, aber ironisch) Wer von uns beiden sagt zuerst „Guten Morgen“?
MAKLENA (klingt wie die Antwort auf einen Gruß) Sie haben doch schon „Guten Morgen“ gesagt.
SBROSCHEK Ich finde ja, der Lohnarbeiter sollte zuerst grüßen.
MAKLENA Ich habe Ihnen schon geantwortet.
SBROSCHEK Sie antworten, als wären Sie zu einem Duell gekommen.
MAKLENA Was ist ein Duell?
SBROSCHEK Früher, wenn jemand wen beleidigt hat, da haben sie das ausgefochten oder geschossen. Bloß nicht für Geld, sondern als Gleiche unter Gleichen.
MAKLENA Aber dafür bekommen Sie mehr, als Sie mir zahlen. Tausende, oder?
SBROSCHEK Ha … (mustert Maklena) Wie alt sind Sie denn nun wirklich?
MAKLENA Dreizehn. Habe ich gestern schon gesagt.
SBROSCHEK Da werden Sie’s noch weit bringen.
MAKLENA Und ob. Ich gehe zu den Revolutionären.
SBROSCHEK Für mein Geld?
MAKLENA Nein, nein!
SBROSCHEK Wie denn – nein. Natürlich für mein Geld! (zynisch) Na ja, ich habe dafür sogar eine Pistole mitgebracht.
MAKLENA Geben Sie her!
SBROSCHEK Sie ist schon geladen. Nur zielen und dann hier auf den Abzug drücken. Sie haben gesagt, Sie können’s.
MAKLENA Ja. (nimmt den Revolver)
SBROSCHEK (hastig) Na dann … Ich stelle mich jetzt hier auf den Weg, und Sie (blickt sich um und flüstert fast) … schießen. Aber in den Hals. Und danach ab zu den Revolutionären! (holt unbemerkt seine Uhr und das Geld heraus und drückt die Hand fest zu, weil sie zittert) Unbedingt in den Hals! Na? … Jetzt. (schließt die Augen) Los! Schnell!
MAKLENA (geht um ihn herum und stellt sich vor ihn hin) Und das Geld?
SBROSCHEK Danach … wenn du geschossen hast … in der Tasche.
MAKLENA Nein! Geben Sie’s mir lieber gleich.
SBROSCHEK (tritt zurück) Und wenn Sie’s nehmen und dann weglaufen (spöttisch) – zu den Revolutionären?
MAKLENA Dann legen Sie’s hier auf die Erde!
SBROSCHEK Auf die Erde? Von mir aus … Zum Teufel – Mein Gott! Die wird’s wirklich noch weit bringen.
MAKLENA Und zählen Sie’s mir vor.
SBROSCHEK Schnell. Uns sieht noch jemand!
MAKLENA Sollen sie doch!
SBROSCHEK (zählt hastig das Geld) Also, da … Hundert, zweihundertfünfzig … Hier noch die kleinen Scheine …
MAKLENA Wie viel ist das?
SBROSCHEK Ich seh’s ja selber nicht. Ist zu dunkel. Sollte aber stimmen.
MAKLENA Dann warten wir wohl besser, bis es hell genug ist.
 

Sbroschek zählt tricksend vor.

 

MAKLENA (geht hin und blickt auf das Geld, überprüft es mit den Augen) Da fehlen wohl noch hundert.
SBROSCHEK (murmelt) Nur hundert. Da hat mich der Makler auch betrogen. Aber … aber die Pistole, sagt er, die ist ja auch was wert … Mehr als hundert. Viel mehr sogar! Eine Pistole!
MAKLENA (nimmt das Geld) Ich bin erwachsen! Erwachsen! Gucken Sie mal! Da haben Sie Ihr Geld! Gucken Sie her und zählen Sie ruhig mit! (zählt) Hundert … (zerfetzt die Scheine und wirft sie weg) Zweihundertfünfzig. (zerfetzt die Scheine und wirft sie weg) Und hier noch die kleinen Scheine. (zerfetzt die Scheine und wirft sie weg)
SBROSCHEK (wild geworden) Für die Wohnung? Die Miete?
MAKLENA Noch fünfzig? Hundert? … Aber die Pistole, hat er gesagt, kostet ja (hebt den Revolver) mehr als hundert. Vater wird das alles erzählen, und dann werden die auch auf der Bank Ihr Geld zerreißen. (zielt)
SBROSCHEK (hält sich die Hand vor die Augen) Nein, nicht! Bitte nicht!
 

Aber Maklena steht schon direkt vor ihm, er läuft weg. Maklena schießt. Sbroschek fällt zu Boden. Maklena wirft den Revolver weg. Bleibt reglos stehen, bis vom Balkon ein Pfiff zu hören ist. Ein Pfiff, der die Polizei alarmiert. Da rennt sie zum Tor. Aber dann dreht sie um und holt die Pistole. Als sie hört, dass jemand zum Tor hereinkommt, rennt sie an der Wand entlang zu Kundas Hütte. Aus der Hütte kommt der Musikant.

 

MAKLENA Haben Sie das gesehen? Gehört? Erzählen Sie alles der Polizei. Oder meinem Vater und Chrystyna. Und sagen Sie ihnen …
 

Irgendwo von der Seite gellt ein Pfiff. Maklena klettert über die Mauer. Noch einmal taucht ihr Kopf auf. Sie ruft laut, winkt.

 

Sagen Sie ihnen, dass ich zurückkomme! Auf jeden Fall! (verschwindet)