Der Todestango
Das alte zweigeschossige Gebäude an der Klepariwska trug noch die Gerüche aus der Zwischenkriegszeit in sich, sie hatten sich auf ewig in den abgeblätterten Putz, in die ramponierten Fensterbretter und Rahmen eingefressen, die Treppen ächzten bei jedem Schritt melancholisch, die hatten bestimmt einiges erlebt bei ihrem Alter – deutsche Soldaten, die die Treppen rauf und runter trampelten und Juden suchten, Tschekisten, die die Treppen rauf und runter trampelten und Widerständler suchten, und die einen wie die andern führten jemanden mit vorgehaltenen Maschinenpistolen zur Hinrichtung ab, und die Treppe seufzte mitleidig und ächzte und stöhnte, und lange noch spiegelten sich die verschwundenen Menschen verschwommen in den Fenstern, ihre entsetzten Gesichter, ihre verängstigten Augen, all die Verzweiflung und Angst, doch auch Wut, Feindschaft, und an den Wänden blühten noch lange die Abdrücke ihrer Hände.
Jarosch stieg ins obere Stockwerk, den zweiten Stock, auf dem sich zwei Wohnungseingänge befanden und an der Decke eine Metallklappe zum Dachboden. Die Wohnungstüren hatten breite Schlitze mit Messingschildern, auf denen „Listy” stand. Zeitungen und Briefe wurden einfach hindurchgeworfen, so dass sie auf den Fußboden purzelten. Doch nur an einer Tür befand sich rechts oben am Rahmen ein schräg angebrachter fingergroßer Kupferbehälter, die Mesusa, die kalligraphische Verszeilen der Thora aufbewahrte, auf einem Stückchen Pergament niedergeschrieben und zusammengerollt, und jeder gottesfürchtige Jude, der das Haus verließ oder nach Hause kam, führte zwei Finger erst zum Mund und dann zu jener Mesusa. Auf Augenhöhe war ein rundes Guckloch sichtbar und darunter ein rechteckiger Rahmen für das Namensschild des Bewohners, das hier allerdings fehlte. Die massive Türklingel mit dem Klingelknopf am Rahmen erinnerte an eine weibliche Brust, die den Zeigefinger geradezu herausforderte. Jarosch läutete und ein gedämpftes Bimmeln erklang, darauf folgte ein gemächliches Pantoffelschlurfen, das Guckloch verdunkelte sich und der Gast wurde aufmerksam in Augenschein genommen. Dann fragte eine heisere Stimme: „Wer da?” – „Jarosch. Wir haben telefoniert.” – „Ach so, jaja …” Schlüsselquietschen, Kettenrasseln, die Tür ging auf und im Halbdunkel erschien eine bucklige, magere, doch hoch gewachsene Gestalt.
„Kommen Sie bitte herein, kommen Sie … lassen Sie die Schuhe ruhig an, draußen ist’s nicht mehr so batzig …”
Die Stimme hatte etwas vom Knarren einer Tür, es war die typisch galizische Aussprache mit stark rollendem R, die Worte donnerten wie Laute eines Urzeitwesens, was nicht zu überraschen braucht, denn ein alter galizischer Jude ist ungefähr ein ebensolches Wunder wie ein Dinosaurier: Es gibt sie nicht mehr auf Erden, man kann sie höchstens ausgraben. Jaroschs Ausgrabung war von Erfolg gekrönt gewesen, es war ihm gelungen, den alten Josip Milkner aus dem Nichtsein zu holen – durch eine Telefonnummer, die ihm Danka besorgt hatte.
„Bitte, kommen Sie doch …” Der Alte führte ihn durch einen langen Korridor in ein geräumiges, helles Arbeitszimmer, das bis oben hin vollgestellt war mit Bücherregalen, denen der Hausherr nicht erlaubte, in angenehmen Dämmer zu verfallen, denn die Bücher wurden benutzt, es wurde darin herumgeblättert und so wanderten sie von einem Platz zum andern. Jaroschs Blick schweifte über die Buchrücken und nahm jiddische, hebräische, deutsche, polnische und ukrainische Aufschriften wahr. Zahlreiche Bücher trugen stolz kleine weiße Schilder mit Signaturen wie in Bibliotheken: Wir werden gelesen und gebraucht! Und da war noch etwas, das den Gast in Erstaunen versetzte – all die Töpfe mit Mohnblumen. Es war zum ersten Mal, dass er eine solche Vielfalt von Mohnblumen in einer Wohnung sah, und noch dazu waren sie ungewöhnlich, denn es gab nicht nur rote in unterschiedlichen Schattierungen, sondern auch weiße, rosafarbene, gelbe, rote in verschiedenen Schattierungen, und zudem waren sie um einiges höher als jene auf Feldern oder im Garten, einige waren mannshoch oder reichten bis zur Decke, manche waren bereits verblüht, während andere gerade aufblühten.
Der Alte wies auf einen bequemen Sessel und setzte sich selbst gegenüber hin; die trockene faltige Rechte legte er auf das magere Knie, während anstelle der Linken nur ein leerer Hemdsärmel baumelte, mit einem Riemen zusammengebunden.
„Ich habe eine Schwäche für Mohnblumen,” lächelte der Alte. „Ich beschäftige mich schon lange damit, sie zu kreuzen.”
„Solch hohen Mohn mit so großen Blüten habe ich noch nie gesehen.”
„Mohn ist sehr empfindlich. Ich spreche mit den Blumen, stelle ihnen Musik an, lese ihnen laut vor … naja, Sie wissen schon, vereinsamte Männer können wunderlich werden. Immerhin hat meine Wunderlichkeit auch Früchte getragen. Aber was interessiert Sie denn nun am Janowska-KZ?”
„Der Todes-Tango. Musik, Text, wer ihn komponiert hat. Soweit ich weiß, waren Sie einer der Musiker.”
„Ja. Ich hab die Geige gespielt. Seltsam, dass das noch jemanden interessiert …”
„Alle anderen sind umgekommen?”
„So könnte man es nennen.”
„Was meinen Sie damit?”
„Tod bedeutet nicht immer gleich tot. Manchmal ist es nur eine wundersame Inszenierung, eine Performance. Der Todes-Tango ist auf den ersten Blick melancholisch, eine richtig nostalgische Melodie. Scheinbar nichts Besonderes. Haben Sie ihn schon mal gehört?”
„Sicher. Es ist die gleiche Melodie wie beim Tango Mejonga.”
„Etwas Vergleichbares, ja, aber tatsächlich ähnelt er viel eher dem Tango fatale, zu dessen Melodie sich unglücklich Verliebte erschossen haben. Die jungen verzweifelten Kerle sind in ein Tanzlokal gegangen, haben das Orchester bezahlt, damit es diesen Tango spielt, und haben sich dann, nachdem sie einige Gläser geleert hatten, vor aller Augen erschossen. Deshalb nannte man ihn dann auch ‚Tango fatale’, obwohl er eigentlich ganz harmlos ‘Der letzte Sonntag’ heißt. Allerdings möchte ich hinzufügen, dass nur ein Laie hier eine Ähnlichkeit heraushört, sie ist ganz an der Oberfläche. Ein Musiker wird sogleich den Unterschied bemerken. Die Partitur der Melodie habe ich gemeinsam mit dem Professor des Konservatoriums Schtriks und dem Dirigenten der Lemberger Oper Jakub Mund geschrieben. Vor dem Krieg habe ich mit Schtriks im Restaurant Bristol gespielt, in dem er das Orchester leitete. Als wir ins Ghetto kamen, zeigte ich ihnen diese merkwürdigen Noten … Genauer gesagt, zwölf Noten, die aus einem alten Manuskript stammen … Herausgegeben hat es der Lemberger Apotheker Johann Kalkbrenner … Im Jahr 1640 brachte er aus Krakau, von wo er geflohen war, die lateinische Übersetzung einer alten Handschrift mit, die in einer bis dahin unbekannten Sprache verfasst worden war …”
„ Arkanisch?”
„Ja, genau.“ Die Augen des Hausherrn blitzten auf. „Wie sind Sie darauf gekommen? Was wissen Sie über Arkanien?”
„Am besten hätte ich es Ihnen gleich sagen sollen. Ich beschäftige mich schon lange mit der Kultur des Nahen Ostens und besonders mit Arkanien. Ich habe sogar ein Lehrbuch des Arkanischen geschrieben, auch ein Wörterbuch zusammengestellt, und gegenwärtig arbeite ich an der Übersetzung literarischer Werke.” Und er erzählte weiter vom Arkanischen Totenbuch und dem Todestanz dan-go-mrah.
„Das ist außerordentlich interessant.” Herr Josip nickte nachdenklich. „Dann wird Sie bestimmt auch folgendes interessieren: Die lateinische Übersetzung der arkanischen Handschrift fertigte Anfang des 16. Jahrhunderts der Krakauer Rabbiner Nathan Schpiro an, ein Kabbalist und hervorragender Kenner des Talmuds. Der Apotheker hat dann ein Buch zusammengestellt, dessen Teile nicht vollständig erhalten geblieben sind. Einen Teil dieses Buches bildeten Übersetzungen uralter Texte, vor allem auch die Übersetzung von Nathan Schpiro, und das Übrige waren Kommentare. Als wir noch Jungen waren, fand mein Freund mehrere Seiten dieses Manuskripts im damaligen Ossolineum, der Lemberger Bibliothek. Als wir es zu lesen begannen, entdeckten wir eine sonderbare Theorie: Nachdem die menschliche Seele den sterblichen Körper verlassen hat, wird sie nach einer gewissen Zeit – das kann ein Jahr sein, aber ebenso zwölf oder vierzig Jahre – in einem neuen Körper wiedergeboren, wobei sie sich jedoch an ihr vorangegangenes Leben nicht mehr erinnert. Zwei unsterblich ineinander verliebte Menschen begegnen sich in einem neuen Leben wieder, unzertrennliche Freunde schließen im neuen Leben erneut wie zufällig Freundschaft, die bis zum Tode hält, Eltern treffen wieder mit ihren Kindern zusammen … doch kein Einziger von ihnen erinnert sich, ja, er ahnt nicht einmal, dass es etwas zu erinnern gäbe … Sicher, es kommt vor, dass solch ein schlummerndes Wissen in einer Stresssituation geweckt wird und jemand beispielsweise in einer ihm bis dahin unbekannten Sprache zu sprechen beginnt oder in allen Einzelheiten von Dingen berichtet, die vor langer Zeit geschehen sind.
Sie können sich jedenfalls vorstellen, um wie viel leichter man sterben würde, wenn man wüsste, dass sich die Seele in einer anderen Person wiederverkörpert und dabei nichts von ihrem früheren Wissen und Fühlen einbüßt. Selbst wenn wir uns an nichts erinnern. Doch entdeckte der Apotheker in jener Handschrift ein weiteres Geheimnis, mit dessen Hilfe sich jenes Unbewusste hervorholen lässt und man sozusagen sein früheres Leben weiterleben kann. Dazu bedarf es vor dem Tod jedoch einer besonderen Melodie …”
„Einer besonderen Melodie?”, hakte Jarosch nach.