Weiße Hemden, schwarze Hosen
05.00
Bleib, wo du bist, rühr dich nicht vom Fleck, wenn du noch einen
Schritt machst, kann ich für nichts garantieren, sagt sie. Ich weiß,
sage ich, du nimmst ja auch garantiert nur jedes zweite Mal den
Hörer ab, wenn du angerufen wirst. Was ist denn los, sage ich,
nun komm schon da runter. Nein, sagt sie, vergiss es, noch einen
Schritt, und ich springe. Immer ruhig, sage ich, mach bloß keine
Dummheiten, da unten ist ein Beet, überleg dir, wo du hin-
springst. Spar dir deine Überredungskünste, sagt sie, noch ein
Schritt, und weg bin ich. Gut, sage ich, dann spring doch, ist so-
wieso Erdgeschoss, also flieg, wohin du willst, ich hau jetzt ab.
Warte mal, ruft sie, kannst du mir erklären, was du früh um fünf
beim Fußball willst? EM-Qualifikation, mein Mäuschen, ant-
worte ich, EM-Qualifikation. Fünf Uhr morgens?, schreit sie, und
ihr schwarzes Haar sprüht förmlich Funken vor Zweifel und
Misstrauen. Warum ziehst du diese ätzenden Winterschuhe an?,
schreit sie. Wofür schmeißt du unser Geld raus? Wann suchst du
dir endlich Arbeit? Warum kommst du nach einem Spiel immer
sternhagelvoll nach Hause? Was ist denn das für ein Fußball?,
schreit sie und wippt auf dem Fensterbrett. Eh, sage ich, wer von
uns interessiert sich denn für Fußball? Was verstehst du denn
schon von der EM-Taktik? Kümmere dich um deine Sachen, mach
den Haushalt, kümmere dich um die Kinder! Aber wir haben
keine Kinder, schreit sie, wir haben keine! Wo sollen die auch
herkommen, wenn du die ganze Zeit auf dem Fensterbrett hängst,
antworte ich, gehe in den Flur und höre, wie sie das Fenster auf-
stößt, springt und fliegt, sie fliegt durch den kalten Oktober-
nebel und durchbricht mit ihrem leichten heißen Körper die Luft,
verfängt sich mit ihrem feuchten Haar in den herbstlichen Son-
nenstrahlen, fliegt, fliegt aus unserem Erdgeschoss, landet aber
nirgends.
06.00
Gut, denke ich, da lässt sich was machen, Arbeit kann man fin-
den, Kinder sollten auch kein Problem sein, das ist nur eine Frage
des guten Willens. Aber wie soll man diese Unruhe und Aufre-
gung beschreiben, die dich am frühen Morgen, ja schon Tage vor
einem Spiel befallen, da geht es noch gar nicht ums Spiel, da ist
noch nicht einmal klar, wer der Gegner ist, gegen wen gespielt
wird. Wie soll man diesen Kloß in der Kehle und das Zähneklap-
pern, die nervliche Anspannung und die Geräuschhalluzinatio-
nen beschreiben, wie kann man überhaupt etwas beschreiben,
was es nicht gibt – die Fußballerwartung, die große Wissenschaft
von der Vergebung aller Sünden, mit der man überleben kann
und nach dem nächsten Zusammenbruch wieder auf die Beine
kommt. Wie soll man das beschreiben?, frage ich die kaputten
Alkoholiker an der Haltestelle, die Beamten und Hausmeister, die
Schüler und Nutten und alle anderen Bewohner unserer Schlaf-
stadt, die sich am zweiten Oktober schon früh um sechs wegen
irgendeinem Mist auf die traurigen Straßen geschleppt haben.
Die Hände frierend in den Taschen vergraben, laufe ich durch die
Höfe, quetsche mich in eine überfüllte Straßenbahn und weiß
schon jetzt, dass heute ein großer Tag wird und eine schwere Jagd
nach der Sonne des Sieges vor uns liegt, am Ende steht womög-
lich etwas unglaublich und schrecklich Schönes, etwas, das alle
Unbilden, alle Enttäuschung und Verlorenheit, alle Sprünge aus
dem Fenster und alle Ertränkungsversuche in der eigenen Bade-
wanne vergessen macht. Denn Siege schweißen zusammen, ent-
zweit werden wir von den schrecklichen Zahlen der Saison.
07.00
Und dann kommt ein Kontrolleur auf mich zu, ein riesiger kalter
Klotz, ob männlich oder weiblich, kann ich morgens um sieben
nicht erkennen, Sie da, fährt er mich an, es wäre angebracht, dass
Sie einen Fahrschein erwerben. Wasja, antworte ich ihm versöhn-
lich, scher dich doch zum Teufel, schau mich an, schau uns an,
von welchen Fahrscheinen redest du eigentlich? Wir fahren alle
in dieselbe Richtung, haben alle denselben Weg, Wasja, sage ich,
was willst du überhaupt?, heute ist Fußball, Wasja, ich fahre zum
Fußball, und dass es gerade erst sieben ist, hat doch damit nichts
zu tun, das kann mich nicht aufhalten. Wir haben hier alle Frei-
fahrt, wir haben ein Recht auf einen Sitzplatz und auf eine freund-
schaftliche Hand, also steh auf und überlass mir deinen Platz,
Wasja, steh auf oder trag mich.
Aber er will davon nichts hören und keift gleich los wie eine Alte,
und dann merke ich, dass das gar nicht Wasja ist, dass alles viel
schlimmer ist und ich mit diesem Bus gar nicht zum Fußball
komme. Und alle Fahrgäste mustern mich kalt wie Ärzte einen
gerade verstorbenen Patienten, mit dem sie sich lange abgeplagt
haben. Und als ich aussteige, inmitten von Nebel und Dunkelheit,
lehnt sich Wasja aus der Tür und fragt in einem widerlichen Wei-
berton: Eh, Sie da, gegen wen spielen wir eigentlich?
Gegen die Türken, sage ich, gegen die Türken. Wie kann man
denn so wenig Ahnung vom Sport haben, Wasja?