Wie ich ein Imperium zerstörte

Gottes Sommer 7497

(das heißt Sommer 1989)

Kapitel 13
Die gefährliche Flagge

 

Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser …

Das mit dem Hirsch hatte Oma aus der Bibel. Mir ging es so ähnlich wie dem Hirsch. Ich fieberte dem Sommer entgegen. Ich lechzte nach ihm wie der Hirsch nach Wasser.

Das ganze Schuljahr über war ich kein einziges Mal im Dorf gewesen. Es gab Gerüchte, dass in Tscherniwzi etwas Unheimliches vor sich ging. Eine seltsame Krankheit, von der mehrere hundert Kinder betroffen seien. Hinter vorgehaltener Hand erzählten sich die Leute, die Schulen und Kindergärten in Tscherniwzi seien wie leergefegt. Aus Angst würden die Eltern versuchen, ihre Kinder so weit wie möglich aus der Stadt wegzubringen. Auch hieß es, dass die Studierenden in Tscherniwzi streikten und erst wieder zum Unterricht kommen wollten, wenn die Ursache für die seltsame Krankheit gefunden sei. Doch die Alopecia war und blieb ein Buch mit sieben Siegeln. Die Staatsmacht schwieg und die Zeitungen berichteten von den siegreichen Errungenschaften der sowjetischen Werktätigen. Den Menschen bei uns ging es wie immer am besten auf der ganzen Welt.

In den Briefen, die Piwonia mir schickte, musste ich die Wahrheit zwischen den Zeilen lesen:

Guten Tag oder eher Abend, liebe Jaryna!

Es geht uns allen gut. Fialka studiert fleißig und Kalynka lernt gerade, sich ihre Zöpfe selber zu flechten.

(Na Gott sei Dank: Die große Schwester wurde nach den Studentenstreiks nicht vom Studium ausgeschlossen und die kleine Schwester hatte keine Alopecia.)

In unserer Klasse ist alles gut, in der Schule sind – wie immer – noch alle Schornsteine auf dem Dach.

(Das war ein Spruch von Igrek. Also war trotz des Übels weiter ganz normal Unterricht.)

Viele Grüße von: Mykola, Stefka, Halja …

(Es folgte eine lange Aufzählung von Freunden und Gleichaltrigen.)

Von Nina kann ich dir nichts ausrichten. Sie ist wieder am Meer und kommt und kommt nicht zurück. Dass sie dort mal nicht in der Sonne verkohlt!

(Aha, der Schuldirektor hatte sein liebes Töchterchen also vor der Alopecia in Sicherheit gebracht.)

Bei Igrek ist alles beim Alten. Er geht mit keiner von den Mädels.

(Sie hatten ihn also nicht von den Pionieren ausgeschlossen, wenn bei ihm „alles beim Alten“ war.)

Es hatte sich an meiner Schule auch niemand über mich beschwert, so wie Nina gedroht hatte. Wahrscheinlich hatte die beflissene Pionierleiterin am Meer einfach ihre Pflichten vergessen.

Bei meinen Freunden und mir war also soweit alles wie immer. Aber im Land rumorte es. Igrek hatte Recht: Es zog etwas Neues herauf! Es brodelte und gärte wie in den Weinkübeln, die mein Großvater jeden Sommer ansetzte.

Im Baltikum gab es große Versammlungen, auf denen die Menschen aus Protest gegen die Sowjetmacht alte Lieder auf Litauisch, Estnisch und Lettisch sangen. Das war ziemlich mutig, denn in der Sowjetunion sollten alle Menschen Russisch sprechen und nur eine gemeinsame Sowjetkultur haben. Jetzt gründeten in Litauen, Estland und Lettland Leute Organisationen zur Pflege der eigenen Sprachen und Traditionen. Das gefiel den kommunistischen Machthabern gar nicht. Sie machten diese Organisationen in der Öffentlichkeit schlecht und verfolgten sie sogar. Das fachte aber erst recht das Interesse daran im gesamten Land an. Mama trug neuerdings eine Halskette mit einem Bernstein und las Zeitschriften aus den baltischen Republiken.

„Da schreiben sie die Wahrheit!“, erzählte sie stolz ihren Freundinnen.

Zu Ostern kam in Kyjiw eine neue, hoffnungsvolle Grußformel auf:

„Christus ist auferstanden!“

„Und die Ukraine wird auferstehen!“

Geb´s Gott … Dass es wenigstens so wird wie im Baltikum.

Ein neues Wort machte die Runde. Kurz, vielsagend, gefährlich: RUCH. Das hieß „Bewegung“ und sollte der Name für eine neue politische Organisation von Ukrainern und Ukrainerinnen werden. In einer Schublade versteckte Papa eine Ausgabe der Zeitung „Literarische Ukraine“, die sich als einzige traute, das politische Programm von RUCH abzudrucken. Ich nahm die Zeitung heimlich aus der Schublade und kämpfte mich tapfer von Zeile zu Zeile.

Also, der ausführliche Name von RUCH lautete „Bewegung des Volkes in der Ukraine zur Unterstützung der als Perestrojka bezeichneten Umgestaltung der Sowjetunion“. Die Leute, die die neue Organisation gründen wollten, hatten extra das sanfte Wort „Bewegung“ und nicht so etwas aggressives wie „Front“ gewählt. Am Anfang des Programms stand, dass sie die Perestrojka begrüßten und unterstützten. Klar, ohne das ging es gar nicht. Die Leute in der Sowjetunion hatten genau ein Recht: Sie durften die Entscheidungen der kommunistischen Partei begrüßen und sich dafür bedanken.

Ein paar Zeilen weiter unten klang es aber schon anders. Da war vom Schutz der ukrainischen Sprache die Rede, von Meinungsfreiheit und von Menschenrechten. Es ging um die Rettung der Natur, die durch den Reaktorunfall in Tschornobyl und andere Katastrophen vergiftet war. Da stand sogar etwas von – Oho! – Widerstandsaktionen der Bevölkerung.

Wenn das so war, dann war ich für RUCH! Von ganzem Herzen!

Nur würde es tatsächlich so ein Organisation geben? Oder würden die Kommuniaken sie im Keim ersticken?

Ins Dorf fuhren wir schließlich alle gemeinsam: Meine Eltern, ich und Orysja, die frisch gebackene Hochschulabsolventin. Meine fliegende Tante hatte die Abschlussprüfungen am Institut erfolgreich bestanden und sollte nach dem Sommer ausgerechnet hier im Dorf als Sportlehrerin anfangen.

Oma begrüßte uns mit Freudentränen. Sogar Puma kam mit lautem Maunzen angelaufen, als sie mich sah, und strich mir schnurrend um die Beine. Oma schüttelte nur den Kopf:

„Was soll ich sagen, Jarynka. Vielleicht streichelst du sie nicht mehr so viel? Letztes Jahr, als du weggefahren bist, war sie ganz traurig und wollte überhaupt nicht mehr fressen.“

Puma? Nicht fressen? Das glaub´ ich nicht! Ich nahm die Katze hoch und drückte sie an mich.

„Du dummes Tier, ich konnte doch nicht die ganze Zeit hier bleiben“, rechtfertigte ich mich und strich mit der Hand über Pumas flauschigen Rücken.

Puma leckte meine Wange, kniff die Augen zusammen und schnurrte zufrieden. Ehrlich gesagt, ich hatte sie auch wahnsinnig vermisst.

Als allererstes musste ich natürlich zu Piwonia.

Sie überschüttete mich sofort mit Fragen: „Wie geht es dir? Was gibt es Neues? Hat Igrek dir geschrieben? Nicht mal eine Ansichtskarte? Oder hast du vielleicht einen Freund in Kyjiw?“

Meine Antworten waren wahrscheinlich eher enttäuschend: Nein, ich habe keinen Freund. Nein, er hat nicht geschrieben. Piwonias Spekulationen vom letzten Jahr hätten sich eigentlich in Schall und Rauch auflösen müssen. Taten sie aber leider nicht. Sie waren so beständig wie ein Fels in der Brandung. Piwonia meinte, seit letzten Sommer hätte viel passieren können.

Wir gingen zum Pruth. Als wir da waren, schoss mir das Zitat eines berühmten Philosophen durch den Kopf: Man kann nicht zweimal in den selben Fluss steigen. Anscheinend hatte jener Philosoph gerade den Pruth im Sinn. Den Einbaum hatte es weggeschwemmt, die Strömung hatte einen anderen Verlauf genommen. Die alten Freunde begrüßten mich stürmisch. Nur Igrek war nicht da. Er arbeitete diesen Sommer in der Traktorbrigade. So war es üblich hier im Dorf. Unserer Clique fehlte er wie das Salz in der Suppe.

Die Mädchen unterhielten sich über Belanglosigkeiten. Sie hatten vor, zum Kirchenfest in Saluschany zu gehen, und verabredeten sich. Mich interessierte das nicht die Bohne. Mit einem Wort, es war total langweilig.

Ein bisschen Abwechslung kam auf, als Andriy zu uns stieß. Das war ein hochgewachsener, ziemlich blasser Junge aus Tscherniwzi, der den Sommer bei seiner Tante im Dorf verbrachte. Er hatte feine, intelligente Gesichtszüge und blau-graue Augen, die klug und gelassen durch die Gläser seiner Brille blickten. Sein Vater war Arzt. Er wusste also sozusagen aus erster Quelle von der rätselhaften Alopecia. Er erzählte, wie in Tscherniwzi Angst und Schrecken geherrscht hatten (Im Verlauf des Schuljahres war die Alopecia wieder verschwunden. Aber die Ursache blieb weiter im Dunkeln. Die Staatsmacht schwieg und ließ das Volk in Unwissenheit.)

Allmählich gingen wir zu anderen Themen über und besprachen die neuesten Filme und Musikmitschnitte. Andriy kannte sich in beidem gut aus. Wir merkten nicht, wie die Zeit verging. Die Mädels packten zusammen und verabschiedeten sich. Ich war gespannt, wem sich Andriy für den Nachhauseweg anschließen würde. Die Mädels offensichtlich auch, so wie sie ihn anschauten. Er ging mit Piwonia und mir. Unterwegs palaverten wir über alles Mögliche und, hast du´s nicht gesehen, waren wir beim Haus meiner Oma angelangt.

An der Zaunpforte unterhielt sich Mama mit der alten Sofronycha, die ein traditionelles Trachtentuch in den Händen hielt. Andriy verabschiedete sich und ich gesellte mich zu Mama.

„Kauf es, Lesja“, redete die alte Sofronycha auf Mama ein. „Es ist nicht schlimm, dass es ein bisschen aus der Mode ist. Du bist jung, du kannst das gut gebrauchen. Und das Mädel wächst ja auch immer mehr in die Höhe.“

„Was reden Sie denn da? Aus der Mode?“ Mama ließ das seidene Kunstwerk durch ihre Hände gleiten. „Das ist ein wahrer Schatz. So was findet man heute gar nicht mehr.“

„Es steht dir ganz bestimmt“, schmeichelte die alte Sofronycha.

„Ist es Ihnen auch wirklich nicht schade, so etwas Wertvolles zu verkaufen?“

„Ach … ich trage das eh nicht.“

„Gut. Ich kaufe es“, beschloss Mama kurzerhand. Sie konnte die Augen nicht abwenden von dem Tuch, auf dem Rosen blühten und das nach wundersamen Kräutern roch. „Wieviel soll es kosten?“

„So viel, wie du gibst“.

Zu Hause drehte und wendete sich Mama lange vorm Spiegel und probierte allerlei Varianten, wie sie das Tuch tragen könnte, aus. Es stand ihr wirklich fabelhaft.

„Ach, hat die Sofronycha das Tuch jetzt auch noch verkauft“, fragte Oma, als sie ins Zimmer kam. „Das ist wahrscheinlich ihr letztes. Das von der Hochzeit.“

„Warum verkauft sie die denn alle“, fragte Mama eher beiläufig, während sie zwei verknotete Fransen zu lösen versuchte.

„Sie will nach Moskau und braucht das Geld für die Fahrt. Sie und ein paar andere Frauen aus dem Dorf wollen, dass die Kirche wieder aufgemacht wird. Sie schreiben Anträge, sammeln Unterschriften und fahren regelmäßig nach Moskau, um mit der Führung zu sprechen. Sie waren schon neun- oder zehnmal dort.

„Wie naiv!“ Mama lachte bitter auf. „Denen macht doch niemand die Kirche wieder auf. Die haben wohl vergessen, in welchem Land sie leben?!“

Orysja gefiel das Tuch auch.

„Leihst du mir das für das Kirchenfest in Saluschany?“, fragte sie und legte sich das Tuch um die Schultern.

„Waaas, du gehst zur Kirche?“, fragte ich ungläubig, denn Orysja mochte solche Feste eigentlich gar nicht. Da ging es doch nur darum, sich zur Schau zu stellen. Die Mädchen putzten sich fein heraus und posierten vor den Jungs. Orysja fühlte sich in einem Segelflieger oder auf einer Tarzanschaukel tausend Mal wohler.

Sie antwortete nicht, sondern umarmte mich stattdessen und umhüllte mich mit dem Tuch. Wir kampelten herum, bis Oma uns zur Vernunft rief. Orysja war zu Schabernack aufgelegt. Ein bisschen zu viel Schabernack. Eigentlich hätte ich Verdacht schöpfen müssen. Aber ich spürte nicht, dass da mehr dahinter steckte, dass es hier um etwas Ernsteres ging. Um etwas viel Ernsteres, als die Streiche unseres Hooligan-Quartetts. So ernst, dass es unser bisheriges Leben auf den Kopf stellen würde, so wie manchmal mich, wenn ich mit Orysjas Fahrrad kopfüber stürzte. Ich hätte an diesem Abend die heraufziehende Gefahr eigentlich spüren müssen.

Am nächsten Tag kramte Orysja auf dem Dachboden ein altes, besticktes Hemdkleid hervor, dass noch von unserer Uroma stammte.

„Willst du etwas in der alten Tracht nach Saluschany auf´s Kirchenfest gehen?“, fragte Oma verwundert.

„Hmmhm!“

Wieder hätte ich spüren müssen, dass nichts einfach nur so geschah. Aber ich schöpfte nach wie vor keinen Verdacht. Ich stand einfach nur da, mit verschränkten Armen, und machte mich über Orysjas Ankleidungsversuche lustig. Es war gar nicht so einfach, die Tracht anzuziehen.

Oma setzte ihre Brille auf und betrachtete Orysjas Bemühungen wie ein Scharfrichter.

„Das ist zu locker gewickelt!“, meckerte sie. Oder: „Zieh das enger! Was hast du davon, wenn du beim Tanzen den Gürtel verlierst?“

„Jetzt ist es zu kurz!“

„Jetzt ist es schief“.

Orysja presste die Lippen zusammen. Meine Tante war eher Sprinterin denn Langstreckenläuferin, und Geduld war nicht unbedingt ihre Stärke. Aber sie setzte immer wieder von vorne an, um den widerspenstigen Stoff gleichmäßig und gerade zu wickeln. Ich aber schöpfte immer noch keinen Verdacht. Orysja wäre unter anderen Umständen schon längst in eine Hose geschlüpft, statt sich mit der aufwendigen Ankleiderei zu quälen.

Dann passte und saß alles endlich, wie es sich gehörte. Oma betrachtete Orysjas Gewand noch einmal von allen Seiten und setzte schließlich die Brille wieder ab:

„Jetzt ist es gut.“

Orysja seufzte erleichtert auf, zog noch eine reich verzierte Trachtenweste mit Fellversatz über und warf sich eine Umhängetasche über. Ich aber stand da und bekam den Mund nicht mehr zu.

War das wirklich Orysja?

 

Bist du eine Prinzessin,

Bist du gar des Königs Braut?

 

Ich glaube, so heißt es in einem traditionellen Weihnachtslied.

Irgendwo hatte ich gehört, dass eine Tracht aus der Bukowina einen internationalen Folklore-Wettbewerb gewonnen hat. Aber es war ja nicht nur die Tracht. Nein! Orysja war einfach wunderschön. Wie ein Burgfräulein aus einem Märchen oder einem Volkslied!

Das war wahrscheinlich auch der Moment, in dem mir dämmerte, dass Orysja das alles nicht einfach so machte. Vielleicht hatte sie doch was mit Wasyl (Piwonias Schule machte sich eindeutig bemerkbar). Schnell warf ich mir das erstbeste Kleid über, als die festlich herausgeputzte Piwonia kurz vorbeischaute, und machte mich mit ihr gemeinsam auf den Weg zum Kirchenfest.

Als wir ankamen, war das Fest schon in vollem Gange. Auf dem Majdan, also auf dem Platz, wo man sich halt im ukrainischen Dorf zu allen möglichen Anlässen versammelt, spielte eine Musikkapelle. Die jungen Leute tanzten. Drumherum standen Frauen und Männer in Grüppchen. Zwischen ihnen wuselten Kinder herum, in der Hand einen von den bunten Zuckerhähnen, die fliegende Händler in großen Körben durch die Menge bugsierten und verkauften. Die Dorfschönheiten reihten sich eine an die andere, so wie es sich eben gehörte, wenn die Mädchen sich zur Schau stellten! Von Zeit zu Zeit zupften sie an ihren feinen, auf dem Schwarzmarkt erworbenen Kleidern aus dem kapitalistischen Ausland, an ihren bunt bestickten Blusen oder den Lurexgürteln, die gerade schwer in Mode waren. Orysja aber stand in ihrer traditionellen bukowinischen Tracht scheinbar über all dem und wirkte, als wäre sie gerade einem Roman von Olha Kobyljanska entstiegen. Ich war so sehr auf sie fokussiert, dass ich zunächst gar nicht mitbekam, wie …

Oh, mein Gott!

Wasyl! Er steuerte auf eine Gruppe junger Männer zu, die in der Nähe der Musikkapelle beisammen standen.

In der Hand hielt er eine Flagge!

Eine blau-gelbe Flagge!

Ich traute meinen Augen nicht und rieb sie mir vorsichtshalber kräftig. Doch die blau-gelbe Erscheinung verschwand nicht. Im Gegenteil: Die Farben strahlten in der Sonne wie ein Wunder Gottes! Alle Köpfe drehten sich in Richtung Wasyl. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet. Überrascht, erschrocken, argwöhnisch. Das kleine Stück Stoff roch nach großer Gefahr. Nach Gefängnis, nach Sibirien, nach der grauen Kälte des Polarkreises.

Wasyl nickte den jungen Männern zu und blieb halb bei ihnen, halb etwas abseits stehen. Die Fahnenstange lehnte er an seine Schulter. Es war eine selbstgenähte Fahne aus einfachem Chemiefaserstoff.

Als die Musikkapelle einen neuen Tanz anstimmte, ging Wasyl zu den Mädchen rüber und schwenkte dabei die Fahne über dem Kopf. Wen er wohl auffordern würde? Und ob sich überhaupt eine traute, mit ihm zu tanzen? Die Mädchen verfolgten Wasyl mit den Augen. Die einen kicherten albern, die anderen blickten beflissen nach unten. Ihnen allen war vor Angst das Herz in die Hose gerutscht. Aber er beachtete sie gar nicht, sondern ging geradewegs … zu Orysja!

Meine liebe Tante reichte ihm stolz und mit einer fast schon demonstrativen Geste die Hand. Sie stellten sich nebeneinander in der Mitte des Majdans auf und begannen als einziges Paar zu tanzen. Alle anderen, sowohl die Jungen als auch die Alten und selbst die Kinder mit ihren Lutschern im Mund, schauten ihnen zu.

Erst als sich ein zweites Paar auf die Tanzfläche begab und hinter Wasyl und Orysa einordnete, kapierte ich, dass sie Kosy tanzten. Das bedeutet so viel wie Zopf und ist ein wunderschöner bukowinischer Tanz, bei dem sich Paar für Paar allmählich einreiht, so als würden alle zusammen einen Zopf bilden. Noch ein Junge und noch ein Mädchen gesellten sich in die Mitte des Majdans. Und dann war es, als ob eine Schleuse gebrochen wäre: Ein Pärchen nach dem anderen schloss sich den Tanzenden an. Vorneweg schritten die majestätische Orysja und der dunkelhaarige Wasyl mit den mandelbraunen Augen. Seine Kleidung passte wunderbar zu Orysjas Tracht: Er hatte weiße Leinenhosen an und ein langes, bis zu den Knien reichendes Hemd, das mit einem breiten Gürtel abgebunden war. Und die Flagge! Allem voran wehte die Flagge! Sie wehte über dem lebendigen „Zopf“, über dieser Reihe anmutiger Menschen, über dem Majdan, über dem ganzen Dorf!

Wo bloß war meine Mutter? Hier und jetzt wurden doch ihre kühnsten Träume wahr!

Und meine auch! Meine auch …

Igrek gesellte sich zu uns. Er sah aus wie ein echter Rocker: Die Haare gingen ihm bis zur Schulter, im Ohrläppchen steckte ein Ring und auf dem neuen T-Shirt (das logischerweise schwarz war) prangten vier junge Typen mit Gitarren. Ohne Frage – die Lehrerinnen in der Schule wären bei seinem Anblick in Ohnmacht gefallen.

„Na deine Tante traut sich was! Alle Achtung!“ Igrek hielt es nicht mal für nötig, mich gebührend zu begrüßen. Dabei hatten wir uns seit letztem Sommer nicht mehr gesehen. Als Mitglied des Hooligan-Quartetts erwartete ich eigentlich etwas mehr Aufmerksamkeit. „Und Wasyl erst! Wie mutig!“

„Absolut!“, stimmte Piwonia begeistert zu. „Wenn unsere Ninotschka diesen Aufzug sehen würde! Die würde glatt vor Wut platzen!“

Tausend Nadeln stachen mir ins Herz! Ninotschka! Instinktiv schaute ich mich um, obwohl ich wusste, dass die beflissene Pionierleiterin nicht auf dem Majdan sein konnte. Die ging definitiv nicht auf Kirchenfeste. Aus ihrer Sicht war das ja ein Relikt aus der Vergangenheit. Aber von der Flagge würde sie sicher bald erfahren. Eins von den Mädels würde es ihr erzählen. Am ehesten Stefka. Oder jemand anderes aus ihrem Gefolge. Und war Nina die einzige in der Welt? Seit die Bolschewiken an der Macht waren, gab es in jedem Dorf solche Pioniere. Irgendwer würde es schon den gewissen Stellen zutragen. Vielleicht hatte es auch schon längst jemand gemacht. Neben den Pionieren gab es ja noch die Komsomolzen und die lenintreuen Genossen der kommunistischen Partei, die in den Zeitungen alle möglichen Extremisten anprangerten. Wahrscheinlich zählten sie Wasyl von heute an auch dazu.

Ganz schlecht wurde mir bei diesen Gedanken. Es lief mir kalt den Rücken runter und ich bekam Gänsehaut.

Die Flagge aber leuchtete im Sonnenlicht. Ich stand da und konnte die Augen nicht abwenden. Die Mädels flüsterten miteinander und starrten ebenso auf die Flagge. Ihre Gesichter strahlten, wie verwunderte Blumen. Fröhlich. Beeindruckt. Verzaubert.

Ich wischte die trüben Gedanken beiseite. Was auch passieren mochte, es war es wert.

Schließlich kommt alles so, wie Gott es gibt, pflegte meine Oma zu sagen.