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Übersetzer*innenblick

Ziel des Projektes Übersetzer*innenblick ist es zu zeigen, welche individuellen Beziehungen zwischen Übersetzerin, Autorin und Text existieren, und diese für eine breite Öffentlichkeit sichtbar zu machen. Oft verbinden Übersetzerinnen mit ihren Autorinnen, den Texten und ihren Übersetzungen sehr individuelle Geschichten, die über den reinen Übersetzungsvorgang hinausgehen. Übersetzer*innen aus dem Verein translit haben ukrainische Autor*innen des 20. bzw. 21. Jahrhunderts ausgewählt, mit denen er/sie eine besondere Rezeptions-, Übersetzungs- oder Vermittlungsgeschichte verbinden, und stellen sie mit einem persönlichen Essay, einem übersetzten Textfragment und einem Porträt in Form eines Animationsfilms vor.

Im Projekt wurden folgende Porträts erstellt:

Oswald Burghardt

Jurij Klen lautete das Pseudonym des ukrainisch-deutschen Autors, Übersetzers, Literaturwissenschaftlers und Herausgebers Oswald Burghardt. Aufgewachsen in einem Umfeld, in dem er mit mehreren Sprachen und Kulturen in Berührung kam, prägten die historischen Verwerfungen seiner Zeit, insbesondere die kulturelle ukrainische Blütezeit ausgelöst durch die kurze nationale Eigenständigkeit nach dem Ersten Weltkrieg, sowie die Bekanntschaft mit den Kiewer Neoklassikern und die Emigration nach Deutschland den Schriftsteller. Seine Werke sind einerseits die Tradition der Neoklassiker verpflichtet mit antiken, italienischen und provenzalischen Themen und Formen (z.B. Sonette, Sestinen, Terzinen, Okaven, Epopöe), gehen andererseits mit ihren politischen und ironischen Inhalten darüber hinaus. Als sein Hauptwerk gilt die Romaepopoöe „Die Asche der Imperien“ (Popil imperij), in der sich Klen auf Dantes Göttliche Komödie stützt und in der er die beiden Diktaturen, die er erlebt hatte, scharf kritisierte. Kritiker lobten „Die Asche der Imperien“ als ukrainisches Nationalepos und Manifest des Humanismus. Bei uns finden Sie die Kurzgeschichte Die Äpfel und Gedichte von Jurij Klen in der Übersetzung von Jutta Lindekugel, sowie den Essay:

Sofia Yablonska

kam nach dem Zusammenbruch des Habsburger Reiches und den Bürgerkriegswirren zunächst mit ihrer Familie nach Russland und ging 1921 nach Lwiw, wo sie unter anderem einen Kurs für unternehmerische Tätigkeit absolvierte und zwei Kinos betrieb, um Geld für einen Paris-Aufenthalt zu verdienen. 1926 trat sie die geplante Reise nach Paris an, studierte, schauspielerte und schrieb, ehe sie zu Reisen nach Marokko, China und in den Pazifik aufbrach. Obwohl ihr Lebensmittelpunkt Paris blieb, schrieb sie ihre Reiseberichte auf Ukrainisch und veröffentlichte sie in Lwiw. In ihrem Travelogue „Der Charme von Marokko“ beschreibt sie ihre Beobachtungen und Erlebnisse in Marrakesch und auf einer Tour in den zu jener Zeit nicht von Frankreich kontrollierten Gebiete Marokkos, in „Im Land von Reis und Opium“ schildert sie Begegnungen und Beobachtungen in China. Yablonska schildert eigene Beobachtungen ohne zu werten oder zu moralisieren. Ihre Texte eröffnen den Leserinnen Einblicke in die bereisten Gesellschaften aus der weiblichen Perspektive, die gespeist ist von Neugier, Offenheit und Wertschätzung.

Olha Kobyljanska

Die ukrainische Autorin Olha Kobyljanska (1863-1942) im Animationsfilm! Kobyljanska war in der Bukowina beheimatet und spielte eine wichtige Rolle innerhalb der literarischen und kulturellen Prozesse des ukrainischen Fin de Siècle. Ihre auf Deutsch und Ukrainisch verfassten Werke inszenieren die vielkulturelle und soziohistorische Beschaffenheit der Bukowina Ende 19., Anfang 20. Jahrhundert aus einer ukrainischen Perspektive. Aktuelle Analysen und Diskussionen fokussieren sich auf ihre frauenbewegten, nationalemanzipatorischen Diskurse.

Lina Kostenko

Lina Kostenko ist die Galionsfigur der ukrainischen Autor*innengeneration der 1960er Jahre, der sogenannten Šistydesjatnyky, und gilt bis heute als eine moralische Autorität der ukrainischen Kultur und Gesellschaft. Sie veröffentlichte Gedichte, den bekannten Versroman Marusja Čuraj und 2011 ihr erstes Prosawerk Zapysky ukraïns’koho samašedšoho (Aufzeichnungen eines ukrainischen Verrückten). Ihr Debüt fiel in die sogenannte Tauwetter-Periode. Ein entscheidender Wendepunkt war für Lina Kostenko wie für die Ukraine die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl (Ukr. Tschornobyl). Seit Beginn der 1990er Jahre engagiert sie sich in den sogenannten Tschornobyl-Expeditionen in die Sperrzone, um das dortige Kulturgut zu dokumentieren und vor dem Vergessen zu bewahren. Die Katastrophe spielt auch in ihren Werken eine Rolle.

Mykola Kulisch

gilt allgemein als der bedeutendste ukrainische Dramatiker des 20. Jahrhunderts, seit der Perestroika finden sich seine Stücke regelmäßig auf den Spielplänen zahlreicher ukrainischer Theater, zeichnen sie sich doch nach wie vor durch eine hohe Aktualität aus. Sie zeigen, teils mit Ironie und Satire, alte Denkweisen in einer neuen Zeit, aber auch recht deutlich die Auswüchse des neuen Gesellschaftssystems und soziale Probleme.

Les Kurbas

Kurbas gilt als eine der wichtigsten Persönlichkeiten der ukrainischen Avantgarde und hat als Innovator des ukrainischen Theaters zahlreiche für die Theatertheorie und -geschichte bedeutende Schriften hinterlassen. Bereits 1918 nimmt er in seinem programmatischen „Theaterbrief“ überholte Theatertraditionen und Denkweisen aufs Korn und fordert eine völlig neue Theaterästhetik. Seine künstlerische Heimat, das 1922 gegründete freie Theater Berezil, ist der Versuch, eine Gemeinschaft Gleicher und Gleichgesinnter zu schaffen, ohne Hierarchien und nur der Kunst verpflichtet.

Arkadij Ljubtschenko

Ljubtschenko studierte in Kiew Medizin, diente während des Bürgerkriegs in der Roten Armee und war anschließend literarisch tätig. Als einer der Gründer von WAPLITE (Freie Akademie Proletarischer Literatur) propagierte er eine ästhetisch ansprechende proletarische Literatur. Bei einer gemeinsamen Reise mit dem Autor Mykola Chwylowyj durch ukrainische Dörfer wird er zum Zeugen der großen Hungersnot 1932/33 (Holodomor). Schon in den 1920er Jahren erschien unter dem Titel „Wertep“ eine Auswahl seiner Novellen und Erzählungen, in denen er die gesellschaftliche Entwicklung der Ukraine und den Zeitgeist philosophisch und lyrisch reflektiert. Wie Olena Sachartschenko, die ebenfalls in unserer Reihe behandelt wird, bezieht sich Ljubtschenko mit dem Titel Wertep auf das traditionelle Puppenspiel, das auf mehreren Handlungsebenen stattfindet. Gegen Ende des 2. Weltkriegs wurde er von der Gestapo festgenommen und schwer krank wieder entlassen. Im deutschen Exil verstorben wurde er auch dort beerdigt. Sein Werk war in der Sowjetukraine fortan verboten, bis zur Rehabilitation 1989.

Oxana Luzyschyna

Oksana Luzyschyna (*1974) stammt aus Uschhorod (Transkarpatien) und lebt derzeit in Austin (USA). Sie hat sich als Lyrikerin, Prosaautorin und Literaturwissenschaftlerin einen Namen gemacht. Ihr neuester Roman „Iwan und Phoebe“, der zwischen 1989 und 1997 in Lwiw, Kiew und Uschhorod spielt und vor dem Hintergrund der Revolution auf Granit aus einer kritisch feministischen Perspektive auch die geringere Sichtbarkeit der Frauen im Rückblick auf historische Ereignisse thematisiert, steht auf der Shortlist des ukrainischen Nationalpreises für Literatur 2021.

Sirka Mensatjuk

Sirka Mensatjuk (*1954) stammt aus einem kleinen Ort in unmittelbarer Nachbarschaft zur ehemaligen Hauptstadt der Bukowina, dem heute ukrainischen Tscherniwzi. Zunächst hatte sie sich vor allem als Autorin für Kinder- und Familienzeitschriften einen Namen gemacht. Später veröffentlichte sie auch Bücher mit Gedichten, Legenden, Erzählungen und Märchen für Kinder. Mit Jak ja rujnuwala imperiu (Wie ich ein Imperium zu Fall brachte) gelang es ihr 2014, wichtige Ereignisse, Diskurse und Stimmungen aus den letzten Jahren vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Ausrufung der ukrainischen Unabhängigkeit in einem flott geschriebenen Jugendbuch zusammenzufassen.

Olena Sachartschenko

Olena Sachartschenko ist studierte Mathematikerin und Journalistin und hat bereits als Programmiererin, Systemadministratorin, Mathematikdozentin und Journalistin gearbeitet. Seit 1998 veröffentlicht sie Novellen und Romane. Bekannte Werke der Autorin sind Wyschywani harbuzi (Bestickte Kürbisse, 2006), Diwtschynka z chimeramy (Das Mädchen mit den Chimären, 2010) oder Tretja Kabinka – Los-Angeles (Dritte Kabine – Los Angeles, 2018). Sie schreibt für Kinder und Erwachsene. In ihrem Roman Wertep. #RomanProMajdan (Wertep. #RomanÜberDenMajdan) von 2016 wird im Stil eines unmittelbaren Erfahrungsberichts von den revolutionären Geschehnissen auf dem Majdan von 2013/2014 berichtet, die hoffnungsvoll begannen und in einem Blutbad endeten.

Haska Schyjan

Haska Schyjan gehört zur Generation der jüngeren Autor*innen, die sich intensiv mit den aktuellen Entwicklungen in der Ukraine und in Europa auseinandersetzen. Ihr Roman Sa spinoju (Hinter dem Rücken) thematisiert den Krieg im Osten der Ukraine und die daraus folgenden Verwerfungen für die moderne ukrainische Gesellschaft. In verschiedenen Texten erörtert Schyjan die Geschlechterbeziehungen in der Ukraine zur Sowjetzeit und heute und setzt sich für eine geschlechtergerechte Gesellschaft ein.

Jurij Wynnytschuk

Bereits gegen Ende seines Studiums, das er 1973 am Pädagogischen Institut in Ivano-Fran­kivs’k abschloss, war er im Samizdat aktiv und 1974 erfolgte die erste Hausdurchsuchung durch den KGB. Um einer Verhaftung zu entgehen, fuhr Vynnychuk nach L’viv (Lemberg), wo er anfangs illegal in den Wohnungen von Freunden, Bekannten und Verwandten unter­kam. Während dieser Zeit war er im Underground und im Samizdat aktiv. Zu dieser Zeit entstand der Roman Mädchennächte (Divy noči) aus dem Milieu der sowjetischen Halb- und Unterwelt. Seit Beginn der 1980er erhielt er die Erlaubnis als Übersetzer und Literatur­kritiker zu publizieren. So veröffentlichte er neben literaturkritischen Artikeln zahl­reiche Übersetzungen (aus dem Tschechischen, Polnischen, Russischen, Bulgarischen), oft unter Pseudonymen. Im Freundeskreis hielt er in Privatwohnungen Lesungen seiner nicht publizierbaren Prosatexte. Gegen Ende der Glasnost-Perestrojka-Zeit war er Mitbe­gründer und Mitwirkender des populären satirischen Kabaretts „Ne zhurys’!“ (Nicht jam­mern! / 1987-90).

Les Kurbas und Mykola Kulisch

Kurbas und Kulisch zählen zu den wichtigsten Persönlichkeiten der ukrainischen Theateravantgarde. Beide wurden Opfer des stalinistischen Terrors und als solche 1937 erschossen. Kulisch gilt allgemein als der bedeutendste ukrainische Dramatiker des 20. Jahrhunderts, seit der Perestroika finden sich seine Stücke regelmäßig auf den Spielplänen zahlreicher ukrainischer Theater, zeichnen sie sich doch nach wie vor durch eine hohe Aktualität aus. Kurbas hat als Innovator des ukrainischen Theaters zahlreiche für die Theatertheorie und -geschichte bedeutende Schriften hinterlassen. Da die Arbeit und künstlerische Entwicklung beider von einer intensiven Zusammenarbeit geprägt war, werden sie in einem gemeinsamen Film vorgestellt. Zu diesen beiden Persönlichkeiten können Sie folgende Texte lesen:

Walerijan Pidmohylnyj

gehört zu jener bemerkenswerten sowjetukrainischen Schriftstellergeneration, deren Werke aus den 1920er Jahren heute den Kernbestand der ukrainischen Literatur der Moderne bilden. Pidmohylnyj ist von der psychologischen Prosa des französischen Realismus und Naturalismus inspiriert, deren Werke er auch ins Ukrainische übersetzte. Vor diesem Hintergrund begründete Pidmohylnyj die urbanistische Prosa in der Ukraine neu. 1934 wurde er verhaftet, da ihm die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen wurde. Er wurde zu zehn Jahren Lagerhaft abgeurteilt. Wie zahlreiche andere führende Autor*innen und Künstler der ukrainischen Moderne wurde er in das erste große sowjetische Arbeitslager auf den Solowetski-Inseln deportiert. Am 3. November 1937 wurde er hingerichtet.

Mykola Chwylowyj

ist einer der markantesten und einflussreichsten Autor*innen der ukrainischen Literatur des 20. Jahrhunderts. In seinem Werk spielen die letzten Jahre des Ersten Weltkriegs und der anschließenden Revolutionen sowie die gesellschaftliche Utopie der 1920er Jahre eine prägende Rolle. Aufgrund seiner Erfahrungen in den Kämpfen des Ersten Weltkriegs und Bürgerkriegs reifte in ihm die Überzeugung, dass eine freie und friedliche Ukraine nur im Rahmen des internationalen – respektive europäischen – Kommunismus möglich sei. Deshalb lehnte er den russischen Bolschewismus ab, wodurch die spätere Verfolgung durch das Stalinregime vorgezeichnet waren. Neben seinen ästhetisch ansprechenden und ungewöhnlichen modernistischen Texten verfasste er Essays zu soziokulturellen Fragen der Sowjet-Ukraine und ihrem Verhältnis zu Sowjet-Russland. Er war als reger Organisator des literarischen Lebens in der damaligen ukrainischen Hauptstadt Charkiw tätig und gab mehrere avantgardistische Literaturjournale heraus. Gegen die Repressionen der Stalinzeit erhob er öffentlich lautstark Protest und inszenierte am 13. Mai 1933 publikumswirksam den eigenen Tod durch einen Kopfschuss. Dies war die Zeit, als die deprimierenden Ereignisse in der Sowjetukraine in der Hungertragödie von 1932 /33 (Holodomor) gipfelten und die Verfolgung und Liquidierung der ukrainischen Intelligenz unter Stalin im großen Maßstab begann.